Die Eignung des Rabattvertrages als Steuerungsinstrument für den originalen Arzneimittelmarkt
Die Jahrestherapiekosten der verschiedenen Arzneimittel bewegen sich zwischen 17.000 und 28.000 Euro auf Basis des Apothekenverkaufspreises (AVP) und unter der Voraussetzung einer 100%-igen Compliance des Patienten. In Deutschland betrug das Marktvolumen für die MS-Arzneimittel im Jahr 2009 825 Mio. Euro auf Basis des Herstellerabgabepreises (HAP) und zu Lasten der GKV abgerechneten Muster-16-Verordnungen. Bis Ende 2008 wurde der MS-Arzneimittelmarkt durch insgesamt fünf unterschiedliche Präparate repräsentiert. Die Verschiedenheit der Arzneimittel schloss eine Apothekensubstitution aus, wodurch das Umsetzungsinstrument des Rabattvertrages gemäß §130a Absatz 8 SGB V (vertragliche Rabattvereinbarung zwischen gesetzlicher Krankenkasse und pharmazeutischem Unternehmer) nicht gegeben war. Diese Tatsache kann als Erklärung dafür dienen, dass bis zum 1. Februar 2009 kein MS-Arzneimittel unter Rabattvertrag stand: Mit der fehlenden Apothekensubstitution bestand für die GKV keine Möglichkeit, steuernd in die Arzneimittelabgabe einzugreifen und als Rabattnehmer einem potentiellen Rabattgeber Mehrabsatz zu garantieren.
>> Zum 1. Januar 2009 wurde mit Extavia erstmals ein scheinbar perfektes Substitut in den MS-Arzneimittelmarkt eingeführt: Die europäische Zulassungsbehörde veröffentlichte 2008 im Europäischen öffentlichen Beurteilungsbericht zu Extavia, dass Extavia mit Betaferon identisch sei (European Medicines Agency 2008). Das Arzneimittel Betaferon wurde bis 2006 von der Firma Chiron hergestellt und von den Firmen Berlex (USA; der Vertrieb erfolgt hier unter der Bezeichnung Betaseron) und Bayer Schering Pharma (Europa) vertrieben. Im April 2006 übernahm Novartis Chiron, heute bekannt als Novartis Diagnostics. Im Rahmen der Übernahme hatte Bayer Schering Pharma von seinem Optionsrecht Gebrauch gemacht, sämtliche im Zusammenhang mit der Herstellung von Betaferon am Standort Emeryville/Kalifornien stehenden Betriebsmittel zu übernehmen. Im September 2007 vereinbarten Novartis und Bayer Schering Pharma u.a., dass Novartis die Herstellung von Betaferon auf Bayer Schering Pharma überträgt und Bayer Schering Pharma Novartis bei der Zulassung einer eigenen Marke des Wirkstoffes Interferon ß-1b unterstützt.
Am 20. Mai 2008 erteilte die Europäische Kommission dem Unternehmen Novartis Europharm Limited eine Genehmigung für das Inverkehrbringen von Extavia in der gesamten Europäischen Union. In Deutschland wurde Extavia in Form einer Monatspackung (N2) im Januar 2009 und als 3-Monatspackung (N3) im Juli 2009 mit dem niedrigsten AVP in den MS-Arzneimittelmarkt eingeführt. Zudem entschied sich der Hersteller zum Abschluss von Rabattverträgen gemäß § 130a Absatz 8 SGB V mit gesetzlichen Krankenkassen (Tab. 1).
Fragestellung und Methodik
Mit Extavia erfolgte 2009 die Einführung einer weiteren Marke – eines so genannten Bioidenticals – des langjährig bekannten und in der Indikation MS erfolgreich eingesetzten Wirkstoffes Interferon ß-1b. Ohne Vorteile auf der Produktebene bieten zu können, fokussierte der Hersteller mit signifikanten Preisdifferenzen und vertraglichen Kooperationen mit gesetzlichen Krankenkassen viel versprechende Market-Access-Instrumente.Anhand des Interferon-ß-1b-Segmentes des MS-Arzneimittelmarktes der AOK Baden-Württemberg sollen die Auswirkungen des Rabattvertrages beschrieben werden. Zu diesem Zweck wurden abgerechnete Muster-16-Verordnungen im Zeitraum vom 1.12.2007 bis zum 30.11.2009 analysiert.
Ergebnisse
Werden die Beobachtungszeiträume 2008 (1.12.2007 bis 30.11.2008) und 2009 (1.12.2008 bis 30.11.2009) miteinander verglichen, wächst der MS-Arzneimittelmarkt der AOK Baden-Württemberg auf Basis des Herstellerabgabepreises um 6,1 Mio. Euro von 36,1 Mio. Euro auf 42,2 Mio. Euro. Dies bedeutet ein Wachstum in Höhe von 16,9 % (Tabelle 2: Ausgaben). Bezogen auf den Absatz (die Anzahl zu Lasten der AOK Baden-Württemberg abgerechneter Muster-16-Verordnungen) zeigt sich hingegen ein negatives Wachstum in Höhe von -2,6 % (Tabelle 2: Einheiten). Ohne Berücksichtigung der Tatsache, dass zusätzlich zu den Monatspackungen für die Arzneimittel Avonex und Betaferon und Extavia eine 3-Monatspackung eingeführt wurde, kann der rückgängige Absatz einen stagnierenden Arzneimittelverbrauch vortäuschen. Unter der Annahme, dass eine 3-Monatspackung an der Stelle von drei Monatspackungen verordnet wurde, zeigt sich die tatsächlich realisierte Absatzsteigerung um 2.759 Einheiten mit einem Wachstum von 9,1 % (Tab. 2: Einheiten korrigiert).
Der Vergleich der Beobachtungszeiträume 2008 und 2009 offenbart für Betaferon hinsichtlich Absatz und Umsatz einen Marktanteilsverlust, den Extavia nicht in vollem Umfang als Zugewinn verzeichnen kann. Zudem muss berücksichtigt werden, dass Extavia im Vergleich zu den übrigen Marktteilnehmern in 2009 nur sehr geringe Marktanteile – 2,7 % bezogen auf Absatz und 2,3 % hinsichtlich des Umsatzes – erreicht (Tab. 3).
Immerhin beträgt der durchschnittliche Marktanteil je Arzneimittel 16,7 % bezogen auf Absatz und Umsatz für den MS-Markt der AOK Baden-Württemberg.
Mit Wirkung zum 1. Februar 2009 wurde für die AOK Baden-Württemberg die Monatspackung (N2) von Extavia in der Apothekensoftware als „rabattiert“ gekennzeichnet. Die Rabattkennzeichnung der 3-Monatspackung (N3) von Extavia erfolgte im Juli 2009. Mit der Rabattkennzeichnung wurde die bevorzugte Abgabe von Extavia gegenüber Betaferon in identischer oder vergleichbarer Packungsgröße vorgesehen. Die bevorzugte Abgabe von Extavia gegenüber Betaferon im Markt der AOK Baden-Württemberg fand mit der Rabattkennzeichnung von Betaferon zum 1.10.2009 ihr Ende. Seit diesem Zeitpunkt besitzt der Apothekenverkaufspreis keinerlei Lenkungswirkung: Da die Rabatthöhe der Geheimhaltung unterliegt, können weder die verordnenden Leistungserbringer noch die Apotheker beurteilen, welches der Interferon-ß-1b-Produkte für den Kostenträger wirtschaftlicher ist.
Im ersten Tertial des Zeitraums 2009 realisiert die Betaferon-Monatspackung mit einem Inhalt von 15 Stück einen deutlichen Verlust an Einheiten, der sich überwiegend durch die Einführung der Betaferon-3-Monatspackung (3x15 Stück) erklären lässt (Abbildung 1: Monat 13 – 16). Im dritten Tertial des Zeitraums 2009 verliert die Betaferon-3-Monatspackung (3x15 Stück) erheblich an Einheiten, was durch die Markteinführung der Betaferon-3-Monatspackung (3x14 Stück) bedingt scheint (Abbildung 1: Monat 20 – 24). Nach Markteinführung erreicht die Extavia-Monatspackung im Mittelwert 69 Einheiten pro Monat im MS-Markt der AOK Baden-Württemberg. Dieser Wert wird bereits drei Monate nach Markteinführung erreicht (Abb 1: Monat 16) und kann im zeitlichen Verlauf kaum gesteigert werden (Abb. 1).
Werden die abgerechneten Einheiten der Arzneimittel Betaferon und Extavia auf monatlicher Ebene zusammengefasst betrachtet, wird schließlich erkennbar, dass sich das Interferon-ß-1b-Segment des MS-Arzneimittelmarktes über den gesamten Beobachtungszeitraum stabil zeigt. Die Trendlinie zeigt sich konstant bei 590 Einheiten (Abbildung 2). Zudem wird erkennbar, dass der Einheitenverlust, den Betaferon über den Zeitraum 2009 verzeichnen muss (Abbildung 2: Monat 14 – 24), durch die Markteinführung von Extavia bedingt ist.
Diskussion
Aus Sicht der Kostenträger werden für einen Patienten mit Multipler Sklerose im Mittelwert 18.988 Euro (Standardabweichung: 13.757 Euro) pro Jahr aufgewendet. Hauptursächlich für Ausgaben, die durch MS verursacht sind, werden Arzneimittel gesehen, die in der Summe 50,5 % ausmachen. Der größte Anteil entfällt mit 45,7 % auf die für die Behandlung von MS-Patienten zugelassenen Arzneimittel (Kobelt et al. 2006). Damit ist der strategische Ansatz der AOK Baden-Württemberg, mit vertraglichen Kooperationen gemäß §130a Absatz 8 SGB V im Arzneimittelsektor Einsparungen erzielen zu wollen, nachvollziehbar (Abb. 3).
Die Tatsache, dass die AOK Baden-Württemberg für beide Interferon-ß-1b-Produkte Rabattvereinbarungen in kurzem zeitlichem Abstand schloss, lässt vermuten, dass eine gezielte nachhaltige Förderung des wirtschaftlicheren Produktes nicht als oberstes Ziel verfolgt wurde. Andernfalls wäre der von Extavia im Beobachtungszeitraum 2009 im MS-Markt der AOK Baden-Württemberg erreichte Marktanteil in Höhe von 2,7 % bezogen auf abgerechnete Einheiten und 2,3 % hinsichtlich des Umsatzes auf Basis des HAP aus Kostenträgersicht als zu niedrig zu bewerten. Die folgenden Marktgegebenheiten können das strategische Vorgehen mit dem Verlassen des selektiven Kontrahierens für die Interferon-ß-1b-Arzneimittel erklären:
• Der mit dem 1. Februar 2009 in Wirkung getretene Rabattvertrag zwischen der Novartis Pharma GmbH und der AOK Baden-Württemberg adressierte lediglich 25 % des MS-Arzneimittelmarktes (Interferon ß-1b) mit einer Apothekensubstitution, während rund 75 % des Marktes unbeeinträchtigt blieben (Interferon ß-1a, Glatirameracetat und Natalizumab). Ohne Steuerungsinstrumente, die beim ärztlichen Entscheider ansetzen, und mit einer bestehenden MS-Leitlinie, die neben Interferon ß-1b mit Ausnahme von Natalizumab alle Arzneimittel als Präparate der ersten Wahl für die Basistherapie der MS mit Schüben positionierte, war der Wirkungsgrad der vertraglichen Vereinbarung begrenzt.
• Extavia und Betaferon sind nur scheinbar perfekte Substitute zueinander. Beide Marken basieren auf dem identischen Wirkstoff Interferon ß-1b. Dieser Wirkstoff wird subkutan injiziert. MS-Patienten sind häufig durch die Erkrankung motorisch beeinträchtigt und führen die Injektion mit einer Injektionshilfe, den so genannten Autoinjektoren, durch. Das Arzneimittel Extavia kann nicht mit einem Betaferon-Autoinjektor verabreicht werden und umgekehrt. Obgleich nach den gesetzlichen Vorgaben alle Bedingungen für eine Apothekensubstitution gegeben sind, zeigen sich in der Praxis die Unwägbarkeiten. Ein Versicherter der AOK Baden-Württemberg, der im Februar 2009 mit einer ärztlichen Verordnung in einer Apotheke erschien, die Betaferon (N2) bei offenem Aut-idem-Kreuz auswies, erhielt mit hoher Wahrscheinlichkeit Extavia. Damit musste der Betroffene gleichzeitig auf den Extavia-Autoinjektor umgestellt werden. Um eine potenzielle Retaxation durch den Kostenträger zu vermeiden, war der Apotheker gezwungen, die Umstellung des Patienten selbst vorzunehmen oder den Patienten an den behandelnden Neurologen zu verweisen. In dem gesteigerten zeitlichen Aufwand kann die Ursache dafür liegen, dass die ärztlichen Leistungserbringer verstärkt MS-Arzneimittel verordneten, die keiner Substitutionsverpflichtung in der Apotheke unterlagen, und damit das Wachstum des Interferon-ß-1b-Segmentes stagnieren ließen.
• Zudem muss die Tatsache Berücksichtigung finden, dass es sich bei Betaferon um das Erste der genannten Arzneimittel handelt, welches eine Zulassung für die Therapie von Patienten mit Multipler Sklerose erhielt. MS-Patienten, die sich langjährig mit Betaferon in guter Behandlung fühlen, lassen sich nur in wenigen Fällen auf ein Präparat eines neuen pharmazeutischen Unternehmers umstellen, der bis 2009 nur geringe Erfahrung in der Vermarktung eines MS-Arzneimittels vorweisen kann. Die Markenbindung zu Arzneimitteln und die Adhärenz zu erfolgreichen Mehrwertprogrammen in Indikationen, die die Lebensqualität junger Betroffener signifikant beeinträchtigt, kann als Marktbedingung nicht hoch genug eingeschätzt werden.
Die AOK Baden-Württemberg strebt nun mit einem weiteren Facharztvertrag eine hohe Behandlungsqualität und Versorgungssicherheit in der ambulanten Neurologie und Psychiatrie an. Mit hoher Wahrscheinlichkeit kann die Integration eines Softwaremoduls zur Verordnungssteuerung der MS-Arzneimittel in den Vertrag gemäß §73c SGB V erwartet werden. Das gegenwärtig laufende Auswahlverfahren ist nach Kardiologie und Gastroenterologie die dritte Facharztausschreibung der AOK Baden-Württemberg.
Fazit
• Die Lenkungswirkung des Rabattvertrages gemäß §130a Absatz 8 SGB V ist abhängig von der Apothekensubstitution. Der Wirkungsgrad dieser Vertragsform steigt mit dem Marktanteil substituierbarer Arzneimittel und erreicht sein Maximum, sobald alle Arzneimittel einer Indikation zueinander austauschfähig sind. In diesem Zusammenhang ist die selektive oder exklusive Losvergabe sinnvoll.
• In Indikationsfeldern, deren Arzneimittel in nur geringem Anteil oder nicht substituierbar sind, ist die Lenkungswirkung durch Apothekensubstitution kaum oder nicht gegeben. Damit scheidet der alleinige Rabattvertrag mit pharmazeutischen Unternehmen als Instrument zur Steuerung der Arzneimittelabgabe aus. Direktverträge mit ärztlichen Leistungserbringern, die auf der Grundlage eines Behandlungspfades die Therapieentscheidung des behandelnden Arztes beeinflussen, sind für diese Marktkonstellation das Mittel der Wahl. Der Rabattvertrag mit pharmazeutischen Unternehmen kann in der Kombination Anwendung finden und durch eine Anschubfinanzierung die Erfolgswahrscheinlichkeit des innovativen Direktvertragskonzeptes erhöhen. <<
Multiple Sklerose
Die Multiple Sklerose (MS) ist die zweithäufigste neurologische Erkrankung junger Erwachsener (Hauser 1994). Weltweit sind mehr als zwei Millionen Menschen von MS betroffen (Multiple Sclerosis International Federation 2006). Während für Europa ungefähr 380.000 Betroffene angenommen werden (Andlin-Sobocki et al. 2005), geht man für Deutschland von 100.000 bis 120.000 MS-Erkrankten aus (Kobelt et al. 2001).
Die Multiple Sklerose ist eine chronisch entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems und durch so genannte Entmarkungsherde der weißen Substanz von Gehirn und Rückenmark charakterisiert. Diese werden durch eine Autoimmunreaktion verursacht. Dabei greift das körpereigene Immunsystem wesentliche Strukturkomponenten – die Myelinscheiden – der Hirnnervenzellen und des Rückenmarks an. Die resultierende Demyelinisierung behindert die Übermittlung der elektrischen Signale entlang der betroffenen Nervenfasern. Dieser Zerstörungsprozess erfolgt unbehandelt progredient und ist in späteren Erkrankungsstadien irreversibel und hauptverantwortlich für eine dauerhafte körperliche Funktionseinschränkung mit zunehmender Behinderung. Gegenwärtig existiert keine kurative Behandlung der MS, dafür stehen verschiedene Arzneimittel zur Verfügung, die den Krankheitsverlauf in seiner Progredienz verlangsamen und Symptome sowie die körperliche Beeinträchtigung des Betroffenen abschwächen können. Diese, für die Behandlung von Patienten mit Multipler Sklerose zugelassenen Wirkstoffe werden daher auch als „disease modifying drugs“ (kurz: DMDs) bezeichnet. Es handelt sich hierbei um Interferon ß (Typ 1a und 1b), Glatiramerazetat und Natalizumab (Tabelle 1). Alle genannten Wirkstoffe finden im Rahmen einer Dauertherapie Anwendung. Die Verabreichung erfolgt in Intervallen (variiert von täglich bis 1x pro Woche) subkutan oder intramuskulär. Die Ausnahme bildet Natalizumab, das alle 4 Wochen intravenös verabreicht wird.