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„Wir brauchen Experimentalräume für die Versorgungsforschung“

Mit Reizworten für die Versorgungsforschung wie „Klein-Klein“ oder „keine großen Würfe“ untermauerte Professor Josef Hecken, der unparteiische Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses und Vorsitzender des Innovationsausschusses, seine Anregungen zur Weiterentwicklung des Innovationsfonds, die er im Titelinterview der MVF-Ausgabe (06/22) und in seinem Vortrag im ersten Teil des MVF-Fachkongresses „Priorisierungskatalog Versorgungsforschung“ kundtat. Der neue Vorstandsvorsitzende des DNVF, Prof. Dr. Wolfgang Hoffmann, und Prof. Dr. Bertram Häussler, der Vorsitzende der Geschäftsführung des Berliner IGES Instituts, taten sich als intellektuelle Sparringspartner zusammen, um im gemeinsamen Titelinterview mit „Monitor Versorgungsforschung“ Heckens Forderungen auf Herz und Nieren zu prüfen.

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Erstveröffentlichungsdatum: 04.02.2023
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Mit Reizworten für die Versorgungsforschung wie „Klein-Klein“ oder „keine großen Würfe“ untermauerte Professor Josef Hecken, der unparteiische Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses und Vorsitzender des Innovationsausschusses, seine Anregungen zur Weiterentwicklung des Innovationsfonds, die er im Titelinterview der MVF-Ausgabe (06/22) und in seinem Vortrag im ersten Teil des MVF-Fachkongresses „Priorisierungskatalog Versorgungsforschung“ kundtat. Der neue Vorstandsvorsitzende des DNVF, Prof. Dr. Wolfgang Hoffmann, und Prof. Dr. Bertram Häussler, der Vorsitzende der Geschäftsführung des Berliner IGES Instituts, taten sich als intellektuelle Sparringspartner zusammen, um im gemeinsamen Titelinterview mit „Monitor Versorgungsforschung“ Heckens Forderungen auf Herz und Nieren zu prüfen.

>> Auf dem Fachkongress „Priorisierungskatalog Versorgungsforschung“, dessen erster Teil am 13. Dezember 2022 stattfand, sagten Sie, Herr Prof. Hoffmann, zu Beginn Ihres Vortrags: „Zusammen sind wir stark, denn jetzt, wo die  Not groß wird und wir Lösungen brauchen, ist die Zeit dafür – nicht erst in 30 Jahren.“ Sie, Herr Prof. Häussler, setzten im Ihrem anschließenden Vortrag dazu: „Wenn wir heute ein neues Forschungsprogramm Versorgungsforschung ausloben und gestalten, schauen wir in eine Zukunft, die mindestens zehn Jahre entfernt ist.“ Wer aber kann schon zehn oder auch mehr Jahre in die Zukunft schauen?
Häussler: Vieles wird man extrapolieren können und ganz sicher hilft auch etwas Erfahrung und Bauchgefühl. Meiner Ansicht nach werden beispielsweise das zurzeit enorm gehypte Thema „Digitalisierung“ oder auch Themenbereiche wie die Zusammenarbeit von Ärzten und Nichtärzten inklusive Delegierung und Substitution Themen sein, die in zehn Jahren vom Tisch sind.

Das wurde vor zehn Jahren auch schon gesagt.
Häussler: Stimmt schon. Doch darf ich daran erinnern, was Herr Hoffmann in seinem Vortrag gesagt hat, dem ich voll und ganz zustimme: „Wir können die Zukunft durch Forschung alleine nicht besser machen.“ Es funktioniert einfach nicht, auf Teufel komm raus eine bessere Zukunft herbeiforschen zu wollen, weil dazu vor allem die entsprechenden politischen Schritte notwendig sind.

Hoffmann: Aber man kann in jedem Förderprojekt Politik gleich mitdenken und Transfer-Empfehlungen aussprechen, was im Erfolgsfall getan werden sollte, beispielsweise, an welcher Stelle und wie die Politik das betreffende Sozialgesetzbuch anpassen sollte.

Häussler: Wenn die Politik denn mal darauf hören würde. Doch bleiben wir kurz bei der Digitalisierung. Ich denke nicht, dass wir uns einen großen Gefallen tun, wie bisher eine stattliche Anzahl an Innovationsprojekten aufzulegen, die digitale Anwendungen, Reminderfunktionen, Dashboards, Apps oder was auch immer für viele Millionen an Euro erforschen. Wenn wir gedanklich eine Dekade in die Zukunft gehen, dann wird in der Rückschau absolut klar werden, dass wir diese oder ähnliche Tools – und möglichst viele davon – brauchen, weil wir nur so dem Fachkräftemangel und den mit der demografischen Entwicklung einhergehenden Problemlagen begegnen können. Das muss man meiner Ansicht nach auch nicht groß belegen, weil der Markt und der Wettbewerb vieles bereinigen werden, was nicht funktioniert. Aber: Man muss sich die große realpolitische Frage stellen und beantworten, die da lautet „Wie kommen wir dorthin?“ Dafür braucht man Evidenz und Forschungsprojekte, die uns der Zukunft näherbringen und Verborgenes oder auch nur Intransparentes aus der Sphäre des Unwissens herausreißen.

Herr Professor Hoffmann, wie sieht denn Ihre Reise aus?
Hoffmann: Wir sind als Forschende aufgerufen, die Parameter für ein zukunftsfähiges und nachhaltiges Gesundheitssystem zu quantifizieren, zu ermitteln und denen zu liefern, die für die Umsetzung verantwortlich sind. Das heißt auch, dass wir jetzt die nötige Evidenz für das zukünftige Gesundheitssystem liefern müssen. Einmal klipp und klar gesagt: Das kann nur die Forschung! Denn wir Versorgungsforscher:innen sind – als übrigens nahezu die einzige Disziplin – dazu in der Lage, im Gesundheitssystem das auszuprobieren, was für die Patient:innen besser als die heutige Regelversorgung funktioniert. Aber dazu gehört auch, dass wir Experimentalräume bekommen.

Warum gerade die Versorgungsforschung?
Hoffmann: Weil die handelnden Akteure und Leistungserbringer im System durch ihre tägliche Arbeit und Pflichten völlig in Anspruch genommen sind und auch nicht das nötige wissenschaftliche Handwerkszeug der Versorgungsforschung zur Verfügung haben. Darum kommt Innovation fast nie aus dem Versorgungssystem selbst, sondern von außen – durch gut gemachte Forschung, die sich der wichtigen Themen annimmt und die richtigen Auslegungsparameter quantifiziert – immer evidenzbasiert, auf Basis zuverlässiger Methodik und möglichst repräsentativ. Wir brauchen die gute Wissenschaft nicht als Selbstzweck, sondern deswegen, weil die so erzeugten Ergebnisse anschließend stimmen müssen und als Basis von oft weitreichenden Entscheidungen dienen. Die Reihenfolge und Rollenverteilung ist sehr oft so, dass zuerst die Forschung Anstöße und Evidenz liefert, worauf dann politische Entscheidungen basieren. Darum hat Herr Häussler völlig recht, wenn er sagt, dass ab einem gewissen Zeitpunkt die Politik gefordert ist.

Womit die sich anscheinend bisher etwas schwertut.
Hoffmann: Stimmt schon. Das kann an den spezifischen Randbedingungen der Politik liegen – und wird es teilweise auch. Doch kann das auch an der Forschung selbst liegen: Wir müssen noch relevanter mit dem werden, was wir erforschen. Darum müssen wir künftig mehr denn je an den Kernfragen forschen, die aufgrund der Tatsache, dass sie unklar sind oder noch nicht mit genügend Evidenz hinterlegt sind, wie Hemmnisse gegen die Weiterentwicklung des Gesundheitssystems wirken. Es ist doch absolut menschlich und auch verständlich, dass ein Politiker, wenn er nicht genau weiß, was passiert, wenn er an einer bestimmten Schraube dreht, lieber keine Experimente versucht. Das gilt in ähnlicher Weise für alle Bänke des G-BA – unser ganzes System ist ja auf Konsens zwischen möglichst vielen Beteiligten aufgebaut. Deshalb prescht im System nur selten jemand mit Ideen zur Veränderung des Systems vor.

Quasi dem G-BA-Prinzip folgend: möglichst wenig bewegen, damit möglichst wenig Schmerzen bei wenig beteiligten Bänken entstehen.
Hoffmann: Genau. Doch das ist exakt das Gegenteil von Innovation. Aber auch durchaus nachvollziehbar, weil es ansonsten ein Hauen und Stechen geben würde und die Selbstverwaltung gänzlich blockiert wäre. Von daher kann von innen heraus nicht ohne Weiteres ein Impuls zur Systemverbesserung entstehen. Der Impuls für Neues muss darum aus der Forschung kommen. Dazu braucht die Forschung einen Entwicklungsrahmen, dessen Bedeutung bislang vollkommen unterschätzt wurde. Die Versorgungsforschung ist die Wissenschaftsdisziplin, die etwas bewegen kann und diejenige, auf Grundlagen deren Ergebnissen die entsprechenden Weichenstellungen erfolgen können. Dann kann, aber muss natürlich auch die Politik handeln.

Häussler: Sie sprachen gerade von Experimentalräumen, Herr Hoffmann. Das finde ich einen ganz wichtigen Punkt, der meiner Meinung nach auch die Zukunft der Versorgungsforschung mitbestimmen sollte. Die Versorgungsforschung versucht seit Anbeginn ihres Entstehens in den 90er-Jahren bis heute nichts anderes, als in real existenten Settings und im Rahmen des gesetzlich Möglichen Detailverbesserungen einzuführen – beispielsweise ein Messinstrument für den Schweregrad der Betroffenheit nach einem Schlaganfall. Dazu wird dann ein Innovationsfondsprojekt aufgesetzt, man bekommt einen Förderzuschlag für einige Millionen an Euro und stellt dann schon in der Rekrutierungsphase fest: Hoppla, den Teilnehmenden reicht die Zeit nicht dafür, neben all ihren anderen versorgerischen oder dokumentarischen Arbeiten den neu hinzugekommenen Fragebogen auszufüllen. Erstens hätte man das vorher wissen können, wenn man sich ein wenig in der Realversorgung auskennt. Zweitens ist das kein experimentelles Setting, sondern immer eines, das mit den schon lange existenten Problemen, Hemmnissen und Regeln schon genug zu tun hat. Hilfreicher wäre hier eine Laborsituation, in der man beispielsweise herausfinden könnte, wie eine bessere Steuerung funktioniert oder was Intensivierung mit verschiedenen Bonus- und Malus-Instrumenten bewirken kann, die man dann wieder als Steuerungskriterien einfordern kann. Dafür sollte mehr Platz in Zukunft sein, dafür sollte man auch mehr Geld ausgeben. An der Stelle möchte ich an das meiner Meinung nach größte und einflussreichste Experiment erinnern, das bereits in den 70er-Jahren durchgeführt worden ist. Im sogenannten „Rand Health Experiment“ wurden quasi
randomisiert verschiedenen Personen beziehungsweise Familien verschiedenen Versicherungsschemata zugewiesen. Man hat damit herausgefunden, welche Versicherungsformen oder Kompensationsformen welche Effekte nach sich ziehen. Das ist natürlich sehr hoch angesetzt, doch müsste sich die Versorgungsforschung in diese Richtung entwickeln, anstatt mehrheitlich weiterhin retrospektiv zu arbeiten und damit fast zwangsläufig eine kurzfristige Reichweite und niedere Relevanz zu haben. Versorgungsforschung kann der große und wichtige Detektor für Probleme werden, die heutzutage nicht gelöst werden können, weil die Evidenz fehlt. Dazu braucht sie allerdings, wie Herr Hoffmann fordert, einen Experimentalraum für neue Verhaltensweisen und Versorgungsformen, die unter den heutigen Bedingungen gar nicht denkbar wären. Auch wenn sie nachher zuerst von den Bänken, danach von der Politik zerpflückt werden, weil beispielsweise solche Ideen im Rahmen einer solidarischen GKV nicht durchführbar wären. Davon sollte sich die Versorgungsforschung nicht abhalten lassen und sich ausbitten, solche Experimente durchführen zu können. Zum Besten aller, vor allem jedoch der Patientinnen und Patienten, um die es doch allen gehen sollte.

Herr Hoffmann, wie könnte ein Experimentalraum beschaffen sein, der sich von den Klammern des SGB befreien kann?
Hoffmann: Man muss anerkennen, dass auch im bestehenden Rahmen der Sozialgesetzbücher viel mehr möglich wäre, als es tatsächlich gemacht wird. Ein Beispiel dafür sind Regionalversorgungskonzepte, wie wir sie zuerst im Kinzigtal, aber inzwischen auch an mehreren anderen Stellen in Deutschland erleben. Das sind schon eine Art von Quasi-Experimentalräumen, mit denen erhebliche Möglichkeiten auch für die Forschung geschaffen werden. Hier werden über Regionalbudgets und Qualitätsvereinbarungen wirtschaftliche und haftungsrelevante Risiken der einzelnen Player minimiert. So kann man die Zusammenarbeit neu organisieren und genau beobachten, was sich wie verändert – die Patientenströme, die Qualität und die Kosten. Das ist der Maßstab, auf dem man agieren muss. Wer das nicht macht oder will, wird es auch nie schaffen, bestehende Strukturen zu ändern. Daneben wird natürlich immer methodische Grundlagenforschung nötig sein, und auch – ich nenne das einmal: „Einzelheitenverbesserungsforschung“. Doch neben der Optimierung bestehender Prozesse subsidiär zum bestehenden System müssen wir Versorgungsforscher:innen dazu befähigt werden, im Experimentalraum auch zur Architektur des Systems selbst Experimente durchzuführen, die die Versorgung unmittelbar betreffen. Nur so kann man Änderungen in der Architektur des Systems prüfen und auf ihren Nutzen, die Kosten und mögliche Risiken hin abchecken.

Ich sehe die Vertreter der mächtigen Bänke schon klatschen.
Hoffmann: Natürlich wird es große Widerstände geben. Die muss man überwinden, wenn man etwas wirklich verbessern möchte. Solange jedoch die entsprechende Gesetzlichkeit nicht vorhanden ist, wird es schwierig, weil die Stakeholder nicht mitspielen müssen, wenn sie nicht wollen. Trotz aller Evidenz, die für eine versorgerische Innovation mit viel Geld und Herzblut erzeugt wurde, kann sich bisher jeder einzelne Akteur gegenüber den größeren Fragen verweigern – und die meisten tun das ja in der Regel auch.

So kann es zum Beispiel vorkommen, dass eine einzelne betroffene Krankenkasse oder eine der Bänke des G-BA ein großes und wichtiges Modellprojekt verhindern kann.
Hoffmann: Das ist im Moment der Stand der Dinge. Darum müssen wir Räume schaffen, die uns die Möglichkeit eröffnen, wirklich Neues und Zukunftsbewegendes zu erforschen. Natürlich unter strenger und engmaschiger wissenschaftlicher Beobachtung und absoluter Transparenz. Es soll sich ja niemand irgendwelche Schattenreiche errichten, schon gar keine an den kommerziellen Seiten interessierten Bereiche. Wenn uns das gelingt, ist das nicht nur im Sinne des Innovationsausschusses, sondern auch der Politik und der Gesellschaft sowie vor allem im Sinne der Bürger:innen und Patient:innen.

Häussler: Dem stimme ich voll zu. Ich möchte jedoch daran erinnern, dass die Entwicklung des SGB V nicht linear erfolgt. So gab es früher bereits Regelungen zur Selbstbeteiligung von Patienten und Patientinnen, indem entsprechende Steuerungsformen eingeführt wurden, wie etwa die 2004 eingeführte Praxisgebühr. Die stießen dann oft schnell auf massiven Widerspruch und weg waren sie. Will heißen: Wenn man der Ansicht ist, dass verschiedene Steuerungsformen auch beispielsweise Anteile von Entscheidungen der Betroffenen beinhalten sollten, müsste die Politik erlauben, dass entsprechende Förderprojekte von den engen Regeln des derzeit gültigen SGB V befreit werden.

Die Versorgungsforschung war bisher im Innovationsfonds eher auf Grundlagenforschung und Detaillösungen abonniert, die Prof. Hecken als „Klein-Klein“ bezeichnet, soll aber nun größere Forschungscluster ansprechen. Wie könnte man zu diesen Themenclustern kommen oder noch besser: zu einer Forschungsstrategie, zu der sich verschiedene Versorgungsforscher:innen aus verschiedenen Institutionen zu einem Cluster zusammenfinden und gemeinsam ein Metathema, gerne auch im Experimentalraum, erforschen, das uns wirklich weiterbringt?
Hoffmann: Das scheitert gewiss nicht an der Versorgungsforschung. Wir haben bereits größere überregionale Verbünde, an denen sich eine hohe Anzahl an Kooperationspartnern beteiligen, die aus ganz verschiedenen Bereichen stammen und alle erforderlichen Aspekte und Professionen abdecken. Damit ist auf der Forschungsseite die nötige Komplexität und Erfahrung, in solchen Clustern zu denken und zu arbeiten, längst vorhanden. Das verdanken wir übrigens auch dem Innovationsfonds, der zu einem Aufwuchs unseres Faches geführt hat – es gibt inzwischen viel mehr Versorgungsforscher:innen als vor dem Innovationsfonds. Durch diesen Potenzialaufwuchs sind die Institute heute in der Lage, größere Studien als bisher zu stemmen. Das Problem ist nur: Die Rahmenbedingungen lassen das nicht zu! Darum bewegen wir uns bislang selbst in großen Projekten der Neuen Versorgungsformen in der Regel im bestehenden System. Man ergänzt oder modifiziert mal hier und da eine Detaillösung und schaut, was passiert. Doch wenn man mal nicht nur etwas ergänzen, sondern beispielsweise etwas weglassen will, stößt man sogleich an die Grenzen der bestehenden Versorgung. Darum stellt sich für die Versorgungsforschung die Frage aller Fragen: Wie kann man eine Architekturmaßnahme erforschen, bevor sie implementiert wird? Stichwort Krankenhauskommission: Hier haben die dort tätigen Kolleg:innen mehr oder weniger auf der Basis von Evidenz aus dem Ausland ein Konzept entwickelt, wie man die verschiedenen Stufen der stationären Versorgung neu organisieren kann und wo an der wichtigen unteren, breiten Basis der Versorgungspyramide die Verbindung zum ambulanten System sein soll. Das kann ich als Versorgungsforscher:in im
Realsetting nicht untersuchen, weil das erfordern würde, ganz massiv in die bestehende Architektur der Finanzierung einzugreifen. Die Versorgungsforschung ist bislang strikt gebunden an real existente Regeln, Gesetze, aber auch Kulturen und Usancen. Von denen kann im Einzelfall ein wenig nach links und rechts abgewichen werden – aber dann wird es ganz schnell aus juristischen Gründen gefährlich. Deswegen kommen wir so unendlich langsam voran. Das macht ja den Charme der Regionalkonzepte aus: Hier können sich die Akteure in einer definierten Region in Abweichung vom EBM aus einem gemeinsamen Budgettopf bedienen – natürlich alles streng kontrolliert. In so einem Setting besteht dann die Möglichkeit, systematisch Daten zu sammeln, die mit der bestehenden Versorgung verglichen werden können.

Vorschlag: Wir bilden Modellregionen der Versorgungsforschung.
Hoffmann: Wenn eine Region mitmacht: gerne und sofort. Dann denken wir uns ein zukunftsfähiges und resilientes Versorgungssystem mit exakt definierten Versorgungszielen aus, führen dieses System experimentell ein und analysieren genau, was passiert. In fünf Jahren haben wir die Evidenzgrundlage und die wesentlichen Parameter, auf deren Basis ein Bundesgesetz gestaltet werden kann. Das wäre schön, ist aber Utopie, wenn man weiß, wie heutzutage agiert werden muss: Wir machen einen kleinen Schritt im SGB V, dann gibt es das übliche Geschrei und Diskussionen innerhalb der Selbstverwaltung und von scheinbar oder tatsächlich benachteiligten Gruppen, und dann machen wir den nächsten kleinen Schritt vor oder zurück. Darum dauert jeder Schritt, der wirklich die Kraft zur Veränderung hätte, unendlich lang.

Was wäre eine Zwischenlösung?
Hoffmann: Wir brauchen eine entsprechende Finanzierungsmöglichkeit und die rechtliche Absicherung im Sinne einer Experimentalklausel, die beinhaltet, dass man unter bestimmten Umständen auf vertraglicher und evidenter wissenschaftlicher Basis sowie höchstmöglicher Transparenz und Controlling von sämtlichen Regelungen des Sozialgesetzbuchs abweichen kann. Dann muss niemand – weder Forscher noch Leistungserbringer – etwas Illegales tun. Der dazu nötige Freiraum könnte nicht allzu schwierig zu finanzieren sein, wenn man ein bestimmtes Budget des Innovationsfonds in einen Experimentalfonds einbringt, der dann unabhängig verwaltet und Projekten zugewiesen werden kann, von denen die Kraft zur Entwicklung realer Veränderungen anzunehmen ist.

Herr Häussler, können Sie da mitgehen?
Häussler: Na ja, mehr als drei Dekaden Zeit in diesem System haben mich gelehrt, pragmatisch zu denken. Wir sollten meiner Ansicht nach unser Gespräch fokussieren und aus der Metaebene auf das eben Gesagte blicken. Manchmal sprechen wir über die Projekte der Neuen Versorgungsformen, manchmal über die der Versorgungsforschung. Sie, Herr Hoffmann, haben eben hauptsächlich Fragestellungen angesprochen, die in den Neuen Versorgungsformen behandelt werden. Doch soll es – ich habe zumindest nichts Gegenteiliges wahrgenommen – auch weiterhin diese Trennung geben.

Nun gehen wir in die Diskussion um eine Verstetigung des Innovationsfonds. Wir können doch über eine neue Zwischenform disputieren, da die bisherige Aufteilung doch eine eher künstliche Trennung darstellt – auf der einen Seite die großen Neuen Versorgungsformen, auf der anderen die „kleine“ Versorgungsforschung.

Hoffmann: Im Endeffekt ist das genauso.
Häussler: Wenn man genauer hinschaut, sieht man, dass die „kleinen Versorgungsforschungsprojekte“ so klein gar nicht sind. Im Mittel sind die Projekte immerhin 1,1 Millionen Euro schwer. Das ist schon eine Menge Geld, um eine Versorgungsforschungsfrage zu lösen. Mir ist schon klar, dass einige Projekte teilweise auch deswegen so teuer sind, weil sie häufig einen Interventionismus untersuchen – vielleicht auch nur irgendein Gimmick oder eine App – eingebaut haben, die ausprobiert werden. Ich bin der Meinung, dass man, sollte diese Trennung beibehalten werden, Versorgungsforschungsprojekte verschlankt und diese auf den traditionellen Begriff von Forschung eingeordnet werden sollten. Dazu gehört auch die eben diskutierte experimentelle Forschungssituation, in der quasi im Labor erforscht wird, was man als Grundlagen zu den Projekten der Neuen Versorgungsformen braucht, aber noch nicht oder zu wenig Evidenz hat. So könnte sich beispielsweise die experimentelle Ökonomie mit der Frage der Entscheidungsfindung von Menschen beschäftigen, ob auf der Patienten- oder Arztseite. Eine Art experimentelle Versorgungsforschung könnte sich hingegen den Ursachen von Unter-, Über- und Fehlversorgung widmen und auch den Ursachen von schlechten Outcomes nachgehen. Wichtig wäre mir, dass in einem experimentellen Raum keine realen Gelder fließen und damit auch keine Beitragsgelder verbraucht werden, wenn zum Beispiel Verhaltensweisen untersucht werden sollen, die man in Zukunft bei der Optimierung von Allokationsprozessen einsetzen kann. Das kann man mit Discret Choice- und Conjoint-Analysen auch.

Nun könnte ich Herrn Hoffmann verstehen, wenn er sagt: Vorsicht, Versorgungsforschung ist auf Real-World-Settings angewiesen.
Hoffmann: Nein, sage ich nicht. Versorgungsforschung macht beides. Deswegen ist es tatsächlich ein wenig verwirrend, dass diese beiden Förderlinien getrennt sind. Denn auch die Projekte der Neuen Versorgungsformen werden vorwiegend von Versorgungsforscher:in-nen entwickelt. Nur eben stärker gemeinsam mit Partnern aus der Versorgung und immer einer oder mehreren Krankenkassen.

Weshalb, wie gesagt, manche Projekte der Neuen Versorgungsformen daran scheitern, dass sich Kassen weigern mitzumachen.
Hoffmann: Oder weil die aktiveren Kassen schlicht und einfach mit der schieren Anzahl der Projekte überfordert sind, die an sie herangetragen werden. Der Unterschied, den Herr Häussler benannt hat, ist der, dass man im klassischen Projektgeschäft, das wir zum Beispiel mit anderen Förderern, wie etwa der DFG oder dem BMBF, betreiben, systemnäher und durch Vorgaben der thematischen Priorisierung gesteuerter arbeiten kann, als das bisher im Innovationsfonds der Fall ist. Das kann und sollte man ändern, wenn die Politik das auch möchte. Ich möchte an der Stelle den Bereich hervorheben, der – wie ich meine, zu Unrecht – als „kleine Versorgungsforschung“ apostophiert wurde. Die größere Zahl der Erfolge aus dem Innovationsfonds stammt bisher aus dem mit weit geringerem Budget geförderten Teilprogramm Versorgungsforschung. Wir benötigen, um, bildlich gesprochen, noch mehr Kraft auf die Straße zu bringen, aber auch große Projekte, um tatsächlich neue Versorgungsformen entwickeln und weiterentwickeln zu können. Die Fördermöglichkeit gibt es – außer im Innovationsfonds – nirgendwo anders in Deutschland. Der fundamentale Unterschied ist, dass man, um eine neue Versorgungsform einzuführen, das System selbst anfassen muss. Um zu prüfen, welches Potenzial eine neue Versorgungsform wirklich hat, muss die Forschung eine Freiheit des Denkens und vor allem des Handelns bekommen, die es im normalen Projektgeschäft so gar nicht gibt. Genau das ist bisher das großes Hindernis bei der Entwicklung von neuen Versorgungsformen, bei der man so tut, also ob man eine neue, womöglich revolutionäre Versorgungsform im Prinzip wie ein Projekt administrieren könnte, und das auch noch im Rahmen sämtlicher bestehender Regeln und Gesetze. Weil dem nicht so ist, kommen Innovationen nicht voran, obwohl es im Gesundheitssystem an allen Ecken kracht. Dabei gilt: Natürlich kann man klassisches Versorgungsforschungsgeschäft im Sinne von Deskription und Analyse bis hin zu einzelnen Interventionen relativ einfach fördern. Wenn ich allerdings den von Professor Hecken geforderten „großen Wurf“ machen möchte, indem man Teile des bisherigen Systems durch neue, bessere Systeme ersetzen muss, dann braucht die Forschung neue Strukturen, die wir bis jetzt noch nicht haben. Wenn man das konsequenter betreiben will, müssen die Randbedingungen konsequent verbessert werden. Würde, ganz nebenbei gesagt, die Fördersumme – von derzeit einem Promille der GKV-Summe zu den von uns geforderten 0,5 bis 1 Prozent – weiter aufgestockt, wären wir gut aufgestellt, um das, was Hecken berechtigterweise von uns fordert, auch abarbeiten zu können. Das würden wir übrigens mit großer Freude tun!

Wie kommen wir aus dieser Zwickmühle? Es gibt die auch schon angesprochene Kommission für eine moderne, bedarfsgerechte Krankenhausversorgung, die auf ausländische Evidenz zurückgreifen musste, um ihre Vorschläge zu unterbreiten.
Hoffmann: Aber doch nur, weil es Evidenz aus deutschen Landen nicht gibt. Genau das müssen wir ändern, und zwar möglichst schnell. In vielen, vor allem angelsächsischen Ländern gibt es diese Evidenz nur aufgrund politisch entschlossenen Handelns. Das ist in Ländern mit staatlich organisierten Gesundheitssystemen natürlich auch leichter möglich als hierzulande, wo wir durch eine Vielzahl der Rechtskonstruktionen, die alle gleichzeitig und nebeneinander im Gesundheitssystem existieren, eine große Unbeweglichkeit erzeugt haben.

Häussler: Herr Hoffmann, Sie haben einen sehr, sehr hohen Anspruch an die Wissenschaft. Ich habe den auch, doch würde ich nicht behaupten wollen, dass politische Entscheidungen nur dann getroffen werden können, wenn es vorher eine entsprechende Studie gegeben hat. Nehmen wir das Beispiel der Frühchen-Versorgung: Das ist meiner Meinung nach keine Frage, die man untersuchen darf, dafür ist aus rein ethischen Gründen die bestmögliche Versorgung zu sichern, wobei die Faktoren „Zugang“ und „Nähe“ nicht die alleinseligmachenden sind. Oder nehmen wir das Beispiel Dänemark: Das Land gilt als Paradebeispiel für gute Krankenhausversorgung, hat aber dazu vorher kein Experiment durchgeführt, sondern mutig auf Basis von – sagen wir – Evidenzpartikeln entschieden. Aber sicher auch, weil die dort handelnden Politiker in den nahezu goldenen Zeiten der 90er- und Nuller-Jahre erkannt hatten, dass sie zeitnah handeln mussten, um für Zeiten wie die jetzigen vorzusorgen.

Die 90er-Jahre, aus denen die Grundidee des Innovationsfonds stammt, waren eine kommode Zeit mit viel frei verfügbarem Geld, das der damalige Bundesgesundheitsminis-ter, Hermann Gröhe, und sein Nachfolger, Jens Spahn, auch großzügig verteilt haben.
Häussler: Das war aber auch eine Zeit, in der ein starker Konservativismus vorherrschte, frei nach dem Motto: „Bloß keine Experimente wagen.“ Und: „Warum soll man Ärzte provozieren, wenn man ihnen einfach mehr Geld geben kann?“ Deutschland versucht seit Jahr und Tag, anstehende Probleme mit Geld zu regeln. Und genauso funktioniert auch der Innovationsfonds, obwohl er eigentlich anders angedacht war: als Möglichkeit der Systemtransformation, als Erprobungsmechanismus für die Befriedigung von Bedarfen, die bisher nicht befriedigt worden sind, und vor allem als Chance, Sektorengrenzen zu überwinden. Das alles hat man aber irgendwie nicht so richtig hingekriegt. Und von dem, was erforscht und mit ausreichend Evidenz hinterlegt wurde, wird dann auch noch lausig wenig in die Regelversorgung überführt. Darum würde ich als Fazit sagen: Der Innovationsfonds ist so, wie er aufgestellt wurde, zu keiner Zeit als Instrument gedacht, um das Gesundheitssystem auf den Kopf zu stellen oder besser: vom Kopf auf die Füße zu stellen. Weil dem so ist, kommen eben auch nur Interventionen begrenzter Reichweite heraus. Darum glaube ich auch nicht, dass man innerhalb des jetzigen Innovationsfonds – so sinnreich das auch sein mag – ein Experiment durchführen könnte, dessen Ergebnisse das Gesundheitssystem revolutionieren können. Eine Ausnahme wären Laborsituationen, wie es zum Beispiel beim „Rand Health Experiment“ der Fall war.

Ihr Rat?
Häussler: Wir müssen weg vom Erratischen der Projektförderung, hin zu einem Priorisierungskatalog für den gesamten Innovationsfonds, nicht nur für die Versorgungsforschung, wie ihn Hecken auf Ihrem Kongress forderte. Er spricht doch ganz zu Recht von „zu viel Klein-Klein“. Der Innovationsausschuss hat von 2016 bis 2021 sage und schreibe 44 verschiedene Themenfelder ausgeschrieben. Wenn man die themenoffenen Projekte herausrechnet, kamen im arithmetischen Mittel 4,2 Projekte und im Median drei Projekte auf ein Themenfeld. Wie will man so auf eine Konzentration von Themen kommen?

Herr Hoffmann, was sagen Sie dazu? Erratisch und Klein-Klein?
Hoffmann: Mir stellt sich die Frage, und die sollte sich auch die Politik stellen, wenn es um die Verstetigung des Innovationsfonds geht: Wollen wir das Fördersystem lassen, wie es ist? Für mich liegt die Antwort auf der Hand: Aus meiner Sicht nicht! Vor allem muss die Förderlinie Versorgungsforschung so ausgerichtet werden, dass an uns Versorgungsforscher:innen die richtigen Fragen gestellt werden. Das nennt Hecken ganz richtig Priorisierung, die dazu führen müsste, dass die richtigen Fragen mit den richtigen Projekten von den richtigen Forschern untersucht werden. Wobei ich für meine Profession an der Stelle ganz selbstkritisch bin, weil es leider einige selbstberufene Versorgungsforscher:innen gibt, die sich des ach so interessanten Fördertopfs jenseits aller wissenschaftlichen Gepflogenheiten bedient haben. Genau das kann ein gut besetzter Expertenrat verhindern. Dazu gehört dann aber auch, dass der Innovationsausschuss nicht mehr wie früher ohne Weiteres von den Empfehlungen des Expertenrats abweichen kann, wenn ihm das aus irgendwelchen politischen Überlegungen der Bänke genehm zu sein scheint. Der Innovationsausschuss ist kein wissenschaftliches Gremium, das die Validität und Relevanz von Ergebnissen vollumfänglich beurteilen könnte oder die wissenschaftliche Qualität einer antragstellenden Institution. Daraus resultierte eine gewisse Fehlsteuerung des Innovationsfonds, die künftig vermieden werden sollte.

Wie sieht es mit einem Priorisierungskatalog aus?
Hoffmann: Da sind wir Versorgungsforscher:innen sofort mit da-bei und völlig auf der Linie von Hecken. Wir brennen darauf, große, wichtige Fragen zu benennen und mit belastbaren Ergebnissen zu hinterlegen. Das wären zum Beispiel Fragen wie diese: Wie organisiert man die Stufen der Versorgung besser? Wir richtet man Patientenpfade so aus, dass sie zu einem möglichst optimalen Ergebnis führen, sowohl gesundheitlich als auch finanziell? Aber auch – und hier wird es gesellschaftlich durchaus etwas unbequem: Wir hinterfragen Grundannahmen, die sich zunehmend als Lebenslügen im Gesundheitssystem herausstellen. Die übergroße Bedeutung der Wohnortnähe zum Beispiel muss gegen die notwendige Qualität abgewogen werden. Das sind alles Fragestellungen, die aus meiner Sicht ganz dringend eine Evidenzbasis benötigen.
Häussler: Das ist wohl wahr. Etwas in die Zeit zurückblickend, muss ich sagen: Früher war es schon mal einfacher. Unter Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt wurde schon einmal die Entwicklung eines sich selbst steuernden Gesundheitssystems angedacht. An sich war das eine tolle Idee, die jedoch durch einen überbordenden staatlichen Interventionismus überschrieben worden ist. Das ist auch die Krux der Versorgungsforschung, die als Wissenschaftsrichtung nicht stark genug ist, die Macht des staatlichen Interventionismus zu brechen.

Vielleicht sollten wir optimistischer in die Zukunft schauen, weil Sie, Herr Häussler, in Ihrem Vortrag ausgeführt haben, dass die Förderungsempfehlungen von heute Themen lösen müssen, die erst in zehn Jahren oder mehr relevant werden.
Häussler: Ich möchte mich jetzt nicht überheben und erklären, dass ich genau weiß, welche Lösungen in zehn Jahren auf dem Tisch liegen müssen. Sicher wird sein, dass alle Gesundheitssysteme in ganz Europa, aber im unterschiedlichen Ausmaß, beginnen werden zu knirschen. Dies insbesondere deshalb, weil das Verhältnis zwischen erforderlichem Arbeitspensum in der Versorgung und dem Angebot an Arbeit, das für eine gute Versorgung notwendig ist, mehr und mehr in ein eklatantes Missverhältnis gerät. Hier zukunftsfähige Lösungsansätze zu erforschen, ist ein probates Einsatzgebiet der Versorgungsforschung. Sie haben in Ihrem Vortrag, Herr Hoffmann, das Beispiel der Substitution herausgegriffen, das auf einem Projekt Ihres Institutes beruht, bei dem wirklich eine Verbesserung herausgekommen ist. Das ist auch gut so. Nur müssen wir diese Erkenntnis wieder und wieder erforschen, um noch einmal zu beweisen, dass der Ansatz funktioniert? Ich meine: Das muss man nicht. Man muss aber die Erkenntnisse als solche wahrnehmen und umsetzen, auch um mithilfe des Einsatzes innovativer Technologie neue Leistungserbringer und Pflegekräfte ins Gesundheitssystem zu bekommen oder um zu verhindern, dass sie abwandern.

Hoffmann: Da hat Versorgungsforschung doch lang schon geliefert. Wir sind inzwischen schon viel weiter und untersuchen zum Beispiel, wie Roboter bei der Versorgung von Demenzpatienten eingesetzt werden können.

Es ist sicher schön, wenn ein nach Kindchenschema designter Roboter für Nähe sorgt, die ein menschliches Wesen qua Nichtverfügbarkeit nicht vermitteln kann, aber wird die Versorgung nicht dramatisch verbessern.
Hoffmann: Das ist klar. Wenn man die neuen Ansätze zur Demenztherapie sieht, wird man beachtliche finanzielle Allokationen brauchen, um die zu finanzieren. Wenn man gar alle Menschen mit Demenzrisiko über 40 Jahre mit neuen Antikörpern behandeln wollte, was schon mit dem Stichwort Disease Interception angedacht ist, wird unser derzeitiges Gesundheitssystem Finanzierungsprobleme bekommen. Die aktuelle medizinische Entwicklung wird derzeit noch überlagert durch den Fachkräftemangel. Aus beiden Gründen müssen wir das jetzige Gesundheitssystem optimieren und konsequent am Patienten ausrichten. Nur dann werden auch künftig noch die Patient:innen das Maximum dessen bekommen, was sie durch den zunehmenden medizinischen Fortschritt bekommen können. Trotz allem wird es Priorisierungen geben, so wie bereits jetzt eine fast schon institutionalisierte Unterversorgung in bestimmten Bereichen der Patientenschaft existiert. Auch das sind Fragen, deren Beantwortung keine zehn Jahre mehr dauern darf, denn die Politik ist auf Evidenz für die anstehenden, großen richtungsweisenden Fragen angewiesen, wenn sie nicht auf Basis von Stammtischvermutungen entscheiden soll.

Häussler: Sie zeichnen damit ein ziemlich gestresstes Bild der Zukunft, vorwiegend aufgrund einer Unterversorgung, die Sie da ausmachen. Dem kann ich jedoch nicht zustimmen, da wir doch vielfach Belege für eine Überversorgung gefunden haben. Es scheint mir noch nicht so zu sein, dass das Gesundheitssystem nur deswegen funktioniert, weil wir den Menschen Leistungen vorenthalten. Wenn ich das deutsche Gesundheitssystem zum Beispiel mit dem NHS aus Großbritannien vergleiche, leben wir doch hierzulande nachgerade in einem Eldorado. Dennoch fehlen auch bei uns Ressourcen, insbesondere im Personalbereich. Den Personalmangel könnte man durch digitale Managementstrukturen deutlich minimieren, wenn die Politik das will. Ob nun durch Telemedizin oder ein prädiktives Analysesystem, das dem behandelnden Arzt oder der Ärztin die Dringlichkeit von Patientenkontakten anzeigt. Das wäre ein großes Projekt für die Neuen Versorgungsformen, das wir allerdings schon einzelnen Krankenkassen vorgeschlagen haben. Wir wollten ein digitales Gesundheitssystem aufbauen, in denen Patienten auf Ärzte treffen, die Zeit und Lust haben, in einer Art hybriden Gesundheitssystem aus Face-to-Face- und digitalen Kontakten zu arbeiten. Langer Rede kurzer Sinn: Wir haben keine Krankenkasse gefunden, die da mitmachen wollte. Vielleicht müssen wir dazu eine eigene Krankenkasse gründen, die für experimentelle Versorgung zuständig ist, was aber unter dem Diktum des Innovationsausschusses nicht möglich sein wird. Und selbst wenn, würden uns zeitnahe Daten fehlen, um das Ganze zu monitoren.

Hoffmann: Wir müssen die Informationsquellen, die man für ein solches Großprojekt benötigt, fast in Echtzeit verfügbar machen, damit man qualitativ und ökonomisch ermitteln kann, ob ein solcher Ansatz funktioniert oder nicht. Diese Möglichkeit haben wir aber nicht, nirgendwo bei uns gibt es ein auch nur in Teilen daten- und damit evidenzbasiertes Gesundheitssystem. Wir haben kein Monitoring, und damit auch keine systematische Qualitätsüberwachung in unserem Gesundheitssystem, mit Ausnahme von wirklich herausragenden Detail-Ausnahmen, die einige Kolleg:innen mit viel Mühe und Enthusiasmus betreiben. Aber das System selbst wird nicht sauber gemonitort, was indes durch die Verfügbarkeit von Sekundärdaten möglich wäre.

Wie es im Forschungsdatenzentrum bei der BfArM angelegt ist.
Hoffmann: Ja. Da werden die Daten aller aktuell 95 gesetzlichen Krankenkassen zusammengeführt und ab 2024 oder 2025 auf Antrag zur Verfügung gestellt. Für ein umfassendes Systemmonitoring bräuchte es zusätzlich eine kompetente Institution, die das auch auf wissenschaftlicher Basis kann. In Großbritannien macht das beispielsweise das NICE, in den Niederlanden das NIVEL – während wir es uns leisten, genau das nicht zu tun. Es wäre höchste Zeit, das zu ändern. Damit fielen wahrscheinlich ein paar kleinere Innovationsfondsprojekte weg, die diversen Analyse- und Monitoringfragen nachgehen. Was nicht wegfällt, sind natürlich die Interventionsprojekte. Auch das Erstellen von Monitoringkonzepten könnte man aber sehr gut im Rahmen des Innovationsfonds unterbringen.

Häussler: Ein neu aufgestellter Innovationsfonds könnte eine dauerhafte Beobachtung des Gesundheitssystems finanzieren, vielleicht mit einer Art Forschungsobservatorium, das auch eine flächendeckende Detektorfunktion für Qualitätsprobleme und unbefriedigte Bedarfe wahrnehmen müsste. Mit anderen Worten: Ich persönlich würde mir vorstellen, dass der Innovationsfonds die für die Versorgungsbeobachtung notwendigen größeren Einrichtungen auf Dauer finanziert. Wenn man eine solche Institution dann auch noch mit einer gewissen Unabhängigkeit ausstatten würde, wäre der Richtungsgebung besser gedient, als wenn man Jahr für Jahr eine oder mehrere Ausschreibungsrunden zu den verschiedensten Themen veranstaltet.

Hoffmann: Einspruch. Das Budget des Innovationsfonds wird hundertprozentig für die Forschung gebraucht und nicht für die Finanzierung von Regeleinrichtungen. Wir brauchen aber eine koordinierte Ausschreibung, bei der sich vorher überlegt wurde, was die wichtigsten zu erforschenden Themen sind. Die Einrichtung eines qualitätsorientierten und das System engmaschig monitorierenden, transparenzschaffenden Instituts ist eine wichtige Aufgabe – aber nicht die des Innovationsfonds. Diese Aufgabe ist übrigens schon lange vergeben, nur funktioniert das Ganze nicht so richtig, weil das betreffende Institut die erforderlichen Möglichkeiten nicht hat.
Häussler: Stimmt, da war noch was, richtig.

Hoffmann: Das IQTIG, aktuell geleitet von Herrn Prof. Heidecke, dem es – wie auch seinen Mitarbeitern – gewiss nicht an Enthusiasmus und Motivation fehlt. Nur haben die Kolleg:innen, genau wie wir in der Versorgungsforschung, nicht die nötigen Daten. Mit dem Begriff „zäh“ wäre noch sehr unvollständig beschrieben, was die Kolleg:innen dort durchmachen müssen, weil das System an jeder Stelle immer gegen Transparenz agiert. Das ist der einzige Konsens über alle Bänke im G-BA hinweg, dass keiner wirklich Transparenz will.
Häussler: Das wäre die Chance, diesen Monitoringansatz an die Wissenschaft zu binden. Das IQTIG ist sicherlich nicht der Qualitätsmonitor oder der Problemdetektor, wie wir uns ihn wünschen würden. Das ist eine Organisation, die standardisierte Verfahren oder Richtlinien zur Berichterstattung zu gestalten versucht, bei diesem Versuch schier erstickt und darum kaum Erkenntnisgewinn erzeugt.

Warum soll nicht eine Art vom Innovationsfonds finanzierter CERN entstehen? So etwas wie ein Art „Deutscher Rat für Gesundheitsforschung“, der unser Gesundheitssystem einer laufenden Beobachtung unterwirft, aber selbst keiner politischen Weisung unterworfen ist?
Hoffmann: Das Problem ist nicht, dass es das Institut nicht gäbe, sondern dass die nötigen Daten nicht verfügbar sind. Und dass die Selbstverwaltung zu viel Mitspracherecht hat. Wer ein solch umfassendes Monitoring andenkt, wie Sie es tun, muss absolut unabhängig von den Interessen der Akteure agieren können. Schon alleine deswegen hat ein solches Institut im Rahmen des Innovationsfonds keinen Platz, der bekanntlich alles andere als unabhängig von den Akteuren ist. Vor allen Dingen soll der Innovationsfonds meiner festen Ansicht nach auch nichts dauerhaft finanzieren, weil das eine staatliche Regelaufgabe ist. Darum gibt es ja das IQTIG mit seinen rund 100 Mitarbeitenden – nur eben leider ohne ausreichenden Datenzugang. Der Betrieb eines großen Gesundheitssystems quasi im Blindflug ist ein Anachronismus, der in anderen Ländern schon lange nicht mehr akzeptiert wird.

Häussler: Mal auf den Punkt gebracht. Es gibt ab 2025 Daten im Forschungsdatenzentrum nach § 303 SGB V. Das weiß man und kann sich darauf vorbereiten, schon jetzt evidenzbasierte Analysesysteme aufzubauen, die Grundlage eines Monitorings oder/und GKV-weiten Detektors von Struktur- und Prozessqualität sein können. Warum soll der Innovationsfonds das nicht finanzieren?

Hoffmann: Die Forschung dafür und damit, aber nicht den Aufbau und den Betrieb einer solchen Institution gerne. Vorsicht bei der Verwendung der Innovationsfondsgelder außerhalb der Forschung, weil diese Gelder dann der Forschung und damit auch ganz wesentlich der Innovation im Gesundheitswesen entzogen werden. Als Vorsitzender des Deutschen Netzwerks Versorgungsforschung muss ich an der Stelle eine klare Linie ziehen. Das Problem ist für mich nicht in erster Linie das Geld. Das Problem ist fehlendes Wollen. Der Innovationsfonds hat die Aufgabe, neue Evidenz für Fragestellungen zu generieren, die bisher unbeantwortet sind. Genau dafür muss dieses wichtige Förderprogramm ertüchtigt werden, damit die richtigen Fragen mit den richtigen Methoden und von den richtigen Leuten in endlicher Zeit beantwortet werden können. Das aber bitte nicht für die Schublade, sondern um diese Erkenntnisse anschließend in Gesetzesform zu gießen, damit das System verbessert wird. Es hat doch keinen Sinn, für teuer Geld Forschung zu machen, die anschließend zu keiner Änderung führt.

Das war ein schönes Schlusswort. Ihres, Herr Häussler?
Häussler: Wir sind uns, denke ich, darin einig, dass die bisherige Art des Themenfindungsverfahrens und der Ausschreibung zu unpräzise waren. Auch wurde bei der Begutachtung und der anschließenden Bewilligung nicht die Sorgfalt angewandt, die man hätte erwarten müssen. Von daher möchte ich einen Vorschlag formulieren, wie das Verfahren künftig besser gestaltet werden sollte. Wenn wir von der Überlegung ausgehen, dass man sich auf das konzentriert, was Herr Hecken in seinem Vortrag gefordert hat, wäre meiner Meinung nach ein zweistufiges Verfahren auch bei der Versorgungsforschung angemessen. Zweistufig in dem Sinn, dass in der ersten Stufe überwiegend Fachleute aus der Versorgungsforschung relevante Themen vorschlagen, die dann in einer Art Konsensusveranstaltung auf mehrere größere Kernthemenfelder verdichtet werden. Eben nicht mehr wie bisher 44, sondern vielleicht nur fünf. Auf diese fünf aufsetzend werden dann kompetitive Ausschreibungen veröffentlicht, auf die sich Forschungsgruppen bewerben können. So erzeugt man eine gewisse Konzentration, aber auch die erforderliche Effizienzgewichtung.

Wäre das eine Erschwernis der Versorgungsforschung?
Hoffmann: Da habe ich Zweifel. Der Innovationsausschuss kann mithilfe der Versorgungsforschung die richtigen Themen formulieren, doch kann er nicht vertieft die dafür erforderlichen Methoden festlegen. Dazu braucht es erfahrene Expert:innen aus der Forschung.

Häussler: Darum müsste diese Aufgabe ein neu zu bestellendes Expertengremium übernehmen.

Ein Vorgehen, für das sich Herr Hecken offen gezeigt hat.
Hoffmann: Wir haben als DNVF sofort darauf reagiert und aktiv die Aufgabe angenommen. Wir engagieren uns für die konkrete Ausgestaltung dieses Prozesses und würden die entsprechenden Expert:innen gerne benennen. Das wäre ein großer Fortschritt. Das Zweite, das wir besser machen müssen, ist die Begutachtung. Ein Expertenrat nützt nur, wenn dessen Empfehlung auch maßgeblich Einfluss auf die Umsetzung hat. Der Innovationsausschuss dürfte dann nicht mehr wie früher aus ganz anderen Gründen heraus entscheiden als auf der Basis des Assessments und der Empfehlung der Experten. Das wird beim Innovationsauschuss einen gewissen „Loslassschmerz“ erzeugen. Das muss das Gremium in Kauf nehmen, weil es ansonsten keine Verbesserung des Verfahrens gibt. Auch bei der wissenschaftlichen Vorbereitung der thematischen Ausschreibung sind wir gern aktiv dabei. Dabei sollten wir gemeinsam mit dem G-BA das Ziel verfolgen, das wir in der ersten Hälfte des Gesprächs thematisiert haben: Möglichkeiten entwickeln, innovative Experimente im System durchführen zu können. Interventionelle Forschung auf der Systemebene schafft wirkliche Innovation. Dazu müssen ein paar Voraussetzungen geschaffen werden, aber das kann die Politik, wenn sie will.

Häussler: Einverstanden, aber nur, wenn man aus den bisherigen Bekanntmachungen ordentliche und vor allem kompetitiv angelegte Ausschreibungen macht und diese dann auch durchführt.

Hoffmann: Ein weiteres Förderformat wäre aus meiner Sicht eine Analogie zu den Erprobungsstudien, die der G-BA ausschreiben und beauftragen kann und die ein ganz wertvolles Instrument sind. In Erprobungsstudien ist sehr genau vorgegeben, was gebraucht wird. Dieses System kann auf die Bereiche der Versorgungsforschung und der Neuen Versorgungsformen übertragen werden. Diese erprobungsstudienartigen Versorgungsforschungsstudien sollten dann von Anfang an die Überführung in die Regelversorgung samt Formulierung der entsprechenden Paragrafentexte in den Sozialgesetzbüchern beinhalten. Im Erfolgsfall ist der weitere Weg dann gebahnt.

Mit der Verpflichtung zur Umsetzung.
Hoffmann: Das kann der G-BA nicht allein. Das könnte aber die Politik entsprechend regeln. Dazu aber müssen erfolgreiche Projekte, die tatsächlich auch regelversorgungsrelevant sind, auf geradem Weg in die reale Versorgung überführt werden. Hierzu ist ein Verfahren analog der Zulassung von Medikamenten oder Medizinprodukten auch für innovative Versorgungskonzepte erforderlich. Hier gibt es noch gehörigen Nacharbeitungsbedarf, den der Gesetzgeber gemeinsam mit der Selbstverwaltung angehen muss. Die Versorgungsforschung unterstützt dabei nach Kräften. Wir sind bereit! <<

Die Herren Professores, danke für das Gespräch.

Das Interview führte MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier.

Link zum MVF-Interview mit Prof. Hecken:
https://bit.ly/3kJvAVG