„In der Phase, in der wir über eine Verstetigung des Innovationsfonds nachdenken, bedarf es einer kritischen Reflexion auf allen Seiten“. Das sagte Prof. Josef Hecken, der unparteiische Vorsitzende des G-BA und gleichzeitig Vorsitzender des beim G-BA angesiedelten Innovationsausschusses, anlässlich des 1. Teils des MVF-Fachkongresses „Priorisierungskatalog Versorgungsforschung“, der am 13. Dezember 2022 online stattfand. Teil 2 fand am 24. Januar 2023 statt und wird in der kommenden Ausgabe von „Monitor Versorgungsforschung“ (MVF 02/23) redaktionell aufgearbeitet.
> Hecken fordert zum Beispiel, dass der Innovationsfonds „eine Lernkurve hinlegen“ müsse. Dafür nannte er einige Gründe. So unter anderem, dass in der Vergangenheit (und bis dato) manches gefördert worden sei, „obwohl das Wissen, das Gegenstand dieser Projekte war, bereits in der Versorgung vorhanden“ gewesen sei. Auch wären einige Projekte gefördert worden, „obwohl bei kritischerer Prüfung von vornherein hätte bemerkt werden können, dass bestimmte Anträge von der Methodik, von den Rekrutierungsplänen, von dem Gesamtaufbau der Projekte von Anfang an dazu verdammt“ gewesen seien, innerhalb der Förderfristen zu keinen befriedigenden Ergebnissen zu kommen. Dabei nimmt er zuerst selbstkritisch den G-BA und Innovationsausschuss in die Pflicht. So gab er zu Protokoll, dass es ihm „zwingend notwendig“ erscheine, bereits „vor Bekanntgabe der Förderbekanntmachungen enger zusammenarbeiten“. Es müsse dazu bereits im Vorfeld jeder Förderrunde eine stärkere Abstimmung zwischen dem Innovationsausschuss, dem Arbeitsausschuss und den Versorgungsforschenden geben. Hier sprach er ganz direkt all diejenigen an, die im Deutschen Netzwerk Versorgungsforschung organisiert sind. Deren neuer Vorsitzender, Prof. Dr. Wolfgang Hoffmann von der Universität Greifswald, der ebenfalls auf dem MVF-Fachkongress „Priorisierungskatalog Versorgungsforschung“ vortrug, nahm den Auftrag gerne an, indem er sich „total erfreut“ über die Diskussion zeigte, „die wir hier heute führen“.
Schwerpunktthemen mit „versorgungsforscherischem Untersuchungsbedarf“ und „echtem Medical Need“
Das liegt vor allem auch daran, dass Hecken zu einer Erkenntnis gelangt ist: Seiner Ansicht nach sollen künftig im Förderpart Versorgungsforschung von vornherein gemeinsam Themencluster identifiziert werden, die über die normalen Themenbekanntgaben der Vergangenheit hinausgehen, da diese „sehr abstrakt und sehr generell“ gewesen seien. Mit Themenclustern meint Hecken Schwerpunktthemen, in denen die Versorgungsforschung zum einen selbst „versorgungsforscherischen Untersuchungsbedarf“ sieht, in denen zum anderen aber auch ein „echter Medical Need“ vorhanden sei. Ein Cluster kann Heckens Ansicht nach aber auch diverse miteinander verwandte Förderanträge bilden, die unterschiedliche Aspekte ein und derselben Versorgungsproblematik beleuchten und zeitlich nebeneinander laufen, um am Ende aus zwei oder drei oder auch allen Projekten weitergehende Erkenntnisse zu erzeugen.
Durch dieses neue Vorgehen im Bereich der Förderung durch den Innovationsfonds erwartet sich Hecken einen deutlichen Schub. „So kommen wir am Ende des Tages über die Beantwortung von rudimentären kleinen, sicherlich wichtigen, aber das System nicht wesentlich verändernden Einzelfragen hinaus“, sprach der G-BA- und Innovationsausschuss-Vorsitzende seine Hoffnung aus.
Das war nicht sein einziger Vorschlag mit großem Verbesserungspotenzial, mit denen seiner Ansicht nach künftig der Innovationsfonds verbessert werden kann. Der zweite Punkt, der ihm seinen Worten zufolge „sehr, sehr große Sorge“ macht, weil sich dieser „ein Stück weit im Scheitern vieler Projekte widerspiegelt“, sei die Frage der Auswahl der zu fördernden Projekte. Hier sei es dringend geboten, „die Vorauswahl der Projekte im Expertenpool ein Stück weit zu professionalisieren“ – eine Aussage, die er selbst einschränkte, indem er sie in Anführungszeichen setzte. Um dies zu erläutern, ging er weit in die Historie des Innovationsfonds zurück und erinnerte an den vom damaligen Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe im Juli 2015 installierten und Ende 2019 aufgelösten Expertenbeirat unter Leitung von Prof. Holger Pfaff. Dieser habe gewährleistet, dass alle eingehenden Anträge durch die zehn Mitglieder des Expertenbeirates und „vor allem im Rahmen einer gemeinsamen Diskussion im Expertenbeirat nach relativ einheitlichen Kriterien“ begutachtet worden seien. Doch sei der Expertenbeirat mit dem neu gefassten § 92b Absatz 6 SGB V durch einen breiter aufgestellten Expertenpool abgelöst worden. Dieser mache zwar „das Wissen in der Begutachtung breiter“, doch gebe es durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie nur eine rudimentäre Zusammenarbeit zwischen den einzelnen, mittlerweile über 100 Experten. Hecken: „Ich stelle gelegentlich fest, dass je nachdem, welchen Experten bestimmte Anträge zugelost werden, die Beurteilungen nach völlig unterschiedlichen Kriterien stattfinden.“ Dies könne, was er als sehr kritisch bezeichnete, dazu führen, dass manche zu begutachtenden Anträge „möglicherweise schlechter oder besser abschneiden als andere“. Dies sei auch darauf zurückzuführen, dass die Schwerpunkte der Begutachter:innen vielleicht nicht unbedingt in dem Bereich lägen, die Gegenstand des zu begutachtenden Antrags seien. Diese Art der zufälligen Begutachtung entspricht Heckens Ansicht nach jedoch nicht den Ansprüchen, die „wir an uns selbst stellen müssen“. Er plädiert daher für ein Mischmodell aus Expertenpool und Expertenbeirat, wobei immer eine „gemeinsame, einheitliche Erörterung“ der zu fördernden Anträge stattfinden müsse, um eine „vernünftige Verfahrensbeurteilung“ zu gewährleisten.
Nach der grundsätzlicheren Themendefinition im Bereich der Versorgungsforschung, einer professionalisierteren Auswahl und Bewertung der Projektanträge hat Hecken jedoch noch eine andere große Baustelle: das ist die der Translation, der Überführung in die Regelversorgung. In seinem Vortrag rechnete Hecken vor, dass inzwischen 77 Versorgungsforschungsprojekte (Stand 8.12.22) abgeschlossen und nach einer Beratung im Innovationsausschuss bewertet worden seien. Bei 52% der Projekte im Bereich der Versorgungsforschung habe es keine Empfehlung zu einer Überführung gegeben. Dies aus dem einfachen Grund, da diese Projekte nach Einschätzung des Innovationsausschusses auf der Basis der vorliegenden Evaluationsberichte keine Erkenntnisse erbracht hätten, die in irgendeiner Form für die Versorgung nutzbar eingesetzt werden können. Zwar erkennt Hecken durchaus an, dass auch der wissenschaftliche Beweis dafür, dass etwas nicht zielführend sei, auch ein Ergebnis wäre, doch sei das nicht die originäre Zielmarke des Innovationsfonds. Nur in vier Prozent der Fälle hat es Heckens Aufrechnung nach überhaupt eine eindeutig positive Bewertung gegeben. Dies entspreche einem „Ritterschlag für ein Versorgungsforschungsprojekt“, wenn das, was in einem Innovationsfonds-Versorgungsforschungsprojekt erprobt worden ist, als neue Versorgungsform überführt werden soll. Zusätzlich sei in 26% der Fälle aber noch eine Empfehlung zur Prüfung oder zur Überführung ausgesprochen worden, in 18% lediglich die Empfehlung zur Kenntnisnahme. „Die Kenntnisnahme würde ich keiner Empfehlungen gleichsetzen“, sagt Hecken. Wenn irgendjemand irgendwas zur Kenntnis nimmt, sei das zwar schön, aber in letzter Konsequenz keine Transmissionsgarantie mit wie auch immer gearteten versorgungspraktischen Konsequenzen.
Die Empfehlungadressaten zur Kenntnisnahme (50) waren zu 26% das AWMF und/oder medizinische Fachgesellschaften, zu 14% Trägerorganisationen des G-BA, zu 10% das BMG und/oder nachgeordnete Behörden, zu
8% der Fälle der G-BA selbst, zu 6% Ministerien der Bundesländer und/oder GMK, zu 4% Pflege-Organisationen sowie zu je 2% andere Bundesministerien und/oder nachgeordnete Behörden sowie die Bundesärztekammer. Dazu kommen zu 26% andere Stakeholder. Die Adressaten zur Prüfung und Überführung (38) waren zu 29% der G-BA, zu 13% die BÄK, zu 10% die Trägerorganisationen des G-BA, zu je 8% das BMG und/oder nachgeordnete Behörden sowie andere Bundesministerien und/oder nachgeordnete Behörden, zu je 5% die AWMF und/oder medizinische Fachgesellschaften sowie Organisationen der Pflege, zu je 3% Ministerien der Bundesländer und/oder GMK sowie Vertragspartner auf Landesebene. Dazu kommen wieder 16% viele andere, unterschiedlichste Stakeholder.
Fast alle Empfänger von Empfehlungen haben Heckens Worten zufolge eines gemeinsam: Außer dem G-BA hat keiner der Adressaten dieser Empfehlungen eine gesetzliche Verpflichtungen in irgendeiner Form binnen bestimmter Fristen irgendetwas zu tun! Hecken: „Wenn ich Glück habe, bekomme ich dann ein Briefchen mit einem Dankeschön, wir haben das zur Kenntnis genommen.“ Einigen Antworten von Bundesländern, denen Empfehlungen der Ergebnisse einiger Notfallprojekte angedient worden seien, hätten geantwortet: „Das finden wir ganz toll, aber wir haben andere Systeme, an die wir uns gewöhnt haben, und möchten deshalb von dem, was hier aus Projekten an segensreichen Erkenntnissen gezogen worden ist, keine Konsequenzen ziehen.“
Doch habe er bisher in keinem einzigen Fall wahrgenommen, dass jemand, der etwas zur Kenntnisnahme bekommen hat, gesagt habe: „Das ist toll, das setze ich jetzt um.“ Das bezeichnet Hecken als „relativ unbefriedigende Bilanz“, weil eben nur der G-BA aufgrund bestehender gesetzlicher Regelungen gezwungen sei, bestimmte Schritte zu veranlassen und dem BMG Meldung zu machen, wenn keine Folgerungen gezogen werden, wenn eine Überprüfung der Ergebnisse aus Innovationsfondsprojekten angeregt wird. Wenn schon die Versorgungsforschung gute Ergebnisse liefere, sei es doch unbefriedigend, wenn keine Rechtsfolgen aus solchen Überführungen und Prüfungen abgeleitet würden, wenn der G-BA nicht selbst betroffen sei. Darum fordere er seit Langem einen Rechtfertigungszwang für alle Adressaten von Empfehlungen. Diese sollten verpflichtet werden, dem G-BA rückzumelden, wie sie mit diesen Empfehlungen umgehen wollen. Diese Einzelmeldungen müssen Heckens Ansicht nach dann gebündelt dem Bundesministerium für Gesundheit als Rechtsaufsicht all dieser Körperschaften weitergemeldet werden, welches im Falle des Innovationsfonds wiederum gegenüber dem Gesetzgeber rechtfertigungspflichtig sei. Damit werde „ein gewisser Druck erzeugt“, auch wenn sie zusätzlich „in einem Art Besinnungsaufsatz“ nachweisen müssen, wenn sie trotz einer Empfehlung nichts gemacht hätten. Dies sei man auch den Versicherten und Bürger:innen schuldig, die den Innovationsfonds letztlich finanzieren. Hecken: „Sie erleben selten, dass ich nach dem BMG schreie.“ Es sei völlig untypisch für ihn, wenn er sage: „Bitte, bitte, bitte – beaufsichtigt mich.“
Relevanz, anständige Methodik, Translation und Herzblut
Eine andere, nicht unbedingt konträre Sichtweise brachte Prof. Dr. med. Wolfgang Hoffmann MPH vom Institut für Community Medicine der Universitätsmedizin Greifswald und neuer des von Hecken direkt an-
gesprochenen Deutschen Netzwerks Versor-gungsforschung (DNVF), mit. In seinem Vortrag „Versorgungsforschung: Was wir schon wissen, aber bisher noch nicht beachtet wird (?)“ wies er auf die von ihm „freundlich formulierte“ adverbiale Bestimmung der Zeit hin, weil er in der Tat fest daran glaube, dass einiges Positives passieren werde. Ebenso sagte er, dass die mit dem MVF-Kongress „Priorisierungskatalog Versorgungsforschung“ gestartete Diskussion „mindestens zwei, wahrscheinlich sogar drei Sichtweisen“ habe. Das zeige schon alleine der Fakt, dass „wir nicht so richtig vorankommen, obwohl so vieles Gutes“ passiert sei.
Damit sprach er vor allem die große, bisher ungelöste Aufgabe der Translation an. „Die Versorgungsforschung hat eine klar definierte Aufgabe, die wir in den letzten Jahren gut definiert haben“, erklärte Hoffmann, der seit 2012 Mitglied im Vorstand des Deutschen Netzwerks für Versorgungsforschung, seit 2018 stellvertretender und seit 2022 Vorsitzender des DNVF ist. Die Versorgungsforschung „beginnt an einer Stelle, wo nur Forschung ist, und geht am Ende dahin, wo hoffentlich dann das meiste an Versorgung ist“. Hoffmann: „Wir identifizieren Versorgungsprobleme und leiten daraus Bedarfe ab. Danach überlegen wir uns, was verbessert werden kann, was dann wiederum nicht nur im Labor, sondern in Real World Settings erforscht werden muss. Wenn zum Schluss alles gut gelaufen ist, sollte das Ergebnis normalerweise in die Versorgung eingeführt werden.“ Dabei gelte, dass, wenn man ein evidenzbasiertes Gesundheitssystem haben wolle, man „auf dem Weg dahin ein lernendes Gesundheitssystem“ sein müsse.
Doch sei es leider nicht so, sagte Hoffmann, dass das, was wir Versorgungsforscher:innen „Gutes herausgefunden haben, dann auch wirklich so wahrgenommen wird, wie das aus unserer Sicht sinnvoll wäre, um das Versorgungssystem tatsächlich zu verbessern“.
Hier seien die Sichtweisen von Wissenschaft auf der einen Seite sowie Politik und Selbstverwaltung auf der anderen „nicht immer kongruent“. Selbstkritisch äußerte sich der DNVF-Vorsitzende aber auch über seine eigene Zunft. Zwar seien für den Innovationsfonds und andere Fördergeber sicherlich mehrheitlich „sehr qualifizierte Anträge geschrieben“ worden. Doch wisse sein Wissenschaftsfeld auch, das eben „nicht alle gleich qualifiziert“ seien. Gegen Heckens Vorwurf der viel zu vielen „Klein-Klein“-Projekte, die Hoffmann mit Auszügen aus dem MVF-Interview der Ausgabe 06/22 (siehe Abb. 2.) illustrierte, sperrte er sich ein wenig. Natürlich würden alle Versorgungsforscher:innen nach einem großen Wurf suchen. Doch machte er hinter die Frage, ob dieser im Zusammenhang mit der Organisation unserer Selbstverwaltung zu erreichen sei, ein großes Fragezeichen.
Dennoch habe es die Community der Versorgungsforschung durchaus geschafft, sich seit 2015 zunächst ungefragt, dann aber in guter Kooperation mit dem G-BA einzubringen, um Themenschwerpunkte für die
ersten Ausschreibungen des Innovationsfonds festzulegen. Eingebracht wurden Themen wie Multimorbidität, Chronizität, Zugang, Koordination und Integration der verschiedenen Sektoren und der Leistungserbringer, Qualität und Sicherheit der Versorgung. Das seien alles relevante Themen gewesen, die gewiss auch nicht als „Klein-Klein“ zu bezeichnen seien.
Viele von diesen Vorschlägen seien auch aufgenommen worden. Doch sei das, was dann tatsächlich an Förderbekanntmachungen veröffentlicht worden ist, etwas anderes. Hier sprach er vor allem die bereits von Hecken genannte Gruppe der offenen Themen mit einem überdurchschnittlich hohen Anteil ohne Empfehlung an. Das sei die mit Abstand größte Gruppe der vom Innovationsfonds geförderten Projekten gewesen, die Hoffmanns Ansicht nach nicht prioritär gewesen seien. Hoffmann: „Da kann man sich natürlich fragen, wieso all diese Projekte gefördert worden sind, aber das haben nicht wir Versorgungsforscher:innen entschieden.“
Relevanz und anständige Methodik. Das waren für Hoffmann die wichtigsten Grundlagen für die ersten Bewertungen durch den Innovationsausschuss, der schnell an seine Grenzen gestoßen sei. Was seiner Ansicht nach zum einen darin begründet gewesen sei, dass zu wenig ausgewiesene Expert:innen für Versorgungsforschung wesentlich zur Entscheidung beitragen durften. Und zum anderen, dass sich der Expertenbeirat mit seinen Empfehlungen nicht immer durchsetzen konnte. So sei es doch nicht verwunderlich, dass insbesondere diejenigen Projekte, die der Expertenbeirat abgelehnt und die der G-BA dann trotzdem gefördert habe, bei denen stark vertreten gewesen sind, die hinterher auch nicht funktioniert hätten. Zwar sei im Laufe der Zeit eine kulturelle Entwicklung durchgemacht worden. Auch seien die Förderentscheidungen aus seiner Sicht deutlich besser geworden, dennoch gebe es trotzdem „noch Luft nach oben“.
Wie lange es dauern kann, von der ersten Idee zum Umsetzung in die Regelversorgung zu kommen, verdeutlichte Hoffmann am Beispiel des AGnES-Projekts. Von 2005 bis 2009 sei durch die Universitätsmedizin Greifswald die Arztentlastende, Gemeindenahe, E-Health-gestützte, Systemische Intervention, eine Art der Hausarztunterstützung durch qualifizierte Pra-
xismitarbeiter:innen, untersucht worden. Damals sei der Aufschrei bei der Ärzteschaft groß gewesen, das sei der Untergang des Abendlandes und Patient:innen würden dadurch alle sterben. Was dann aber doch nicht so gekommen sei. Am Ende habe selbst die Hausärzteschaft gesagt, das sei super, entlastet uns und sei obendrein positiv für die Compliance. Mit der Gesetzesänderung in § 87 Absatz 2b SGB V wurde das AGnES-Konzept 2008 zur Delegation hausärztlicher Tätigkeiten an qualifizierte Praxismitarbeiter:innen im Rahmen von Hausbesuchen in die Regelversorgung überführt. Seitdem dürfen AGnES-Fachkräfte in der Häuslichkeit der Patient:innen tätig werden – auch ohne Beisein der behandelnden Ärzt:in.
Doch damit sei nicht Schluss gewesen, weil sich die Konzeptidee als solche zum einen in diversen Lotsenprojekten wiederfinde, wie etwas bei RubiN (Regional ununterbrochen betreut im Netz) mit Konsortialführerschaft seitens der BARMER und Evaluation durch Universitätsmedizin Greifswald, der UKSH und inav. Zum anderen in diversen Projekten wie DelpHi-MV, AHEAD oder InDePendent sowie in der Nationalen Demenzstrategie oder der Delegation Regelversorgung (NäPA).
Das Problem immer und überall: das Death Valley nach Ende der Projektförderung, wenn alle Mitarbeiter:innen entlassen und teuer aufgebaute Strukturen abgebaut werden müssen. Das gelte gerade für Versorgungsforschungsprojekte, mit denen oft die Grundlagen geschaffen würde für ein darauf aufsetzendes Projekt im Bereich der Neuen Versorgungsformen. Von daher dürfen seiner Meinung nach positiv evaluierte und mit Empfehlungsbeschluss geadelte Versorgungsforschungsprojekte auf keinen Fall heruntergefahren werden, denn genau hier „entsteht die meiste Innovation“. Hoffmann: „Generell sind die Maßnahmen zur Überführung in die Regelversorgung nicht effektiv.“ Was bringe denn beispielsweise eine Empfehlung an den GKV-Spitzenverband, die Bundesärztekammer, Landkreise oder die Gesundheitsministerkonferenz, die überhaupt nicht zuständig seien, Versorgungsverfahren in die Regelversorgung zu führen. Sein Petitum lautet deshalb, dass man nicht nur die entsprechenden Informationsangebote verbessern muss, sondern auf einem geraden Weg in die Regelversorgung kommen müsse. Für innovative Versorgungsmodelle braucht man nach Ansicht von Hoffmann ein Translationsvorgehen wie das seit Langem bei Medikamenten und bei Medizinprodukten der Fall sei.
Doch das allein reiche noch nicht. Denn alle Projekte und daraus resultierende Empfehlungen blieben immer im Rahmen des aktuellen Gesundheitssystems und deren Selbstverwaltung. Hoffmann: „Es gibt nichts, was tatsächlich eine der Bänke infrage stellen würde.“ Das aber sei genau das Problem, weil eigentlich keiner wirklich etwas ändern will, wenn ein zu förderndes Projekt zwar in der Lage wäre, die Versorgung zu verbessern, aber dadurch die Stellung einer der Bänke benachteiligten könnte. Darum sei es an der Zeit, die Usancen des Transfers zu evaluieren. Dieser Aufgabe stelle sich jedoch bis jetzt keiner. Hoffmann: „Das DNVF ist gerne bereit, das zusammen mit dem G-BA zu entwickeln.“ Auch dafür sei die Ad-hoc-Kommission Innovationsfonds innerhalb des Netzwerks von Kolleg:innen gegründet worden, die wie Professor Hecken „Herzblut“ dafür hätten, das Gesundheitssystem zuerst zu parametrisieren, dann grundsätzlich neu aufzustellen und damit zukunftsfester zu machen. Hoffmann: „Die Evidenz dazu liefern wir mit großer Freude.“
Research-Gap, Impact on Burden, Machbarkeit und Implementierung
„Was lernen wir aus den beendeten Versorgungsforschungsprojekten im Innovationsfonds?“ Und: „Wie sollte die zukünftige Förderung gestaltet sein?“ Diese Fragen beantwortete Prof. Dr. Bertram Häussler, Vorsitzender der Geschäftsführung des Berliner IGES Instituts, in seinem Vortrag: „Matrix: Was erforschbar ist vs. was machbar ist.“ Mit der dritten Frage blickte er weit nach vorne:, indem er fromulierte: „Was sollten Themen der Zukunft sein?“ Um für diese Fragen eine erste Evidenzbasis zu schaffen, nahm der IGES-Chef eine in MVF 06/22 veröffentliche Liste, in der die inzwischen beendeten Versorgungsforschungsprojekte nach Beschlussart dargestellt wurden: Empfehlung, Weiterleitung an einzelne Institutionen, keine Empfehlung. Ohne Auftrag zur Evaluation wurde ein Eigenprojekt gestartet, in dem jedes achte, in dieser Liste dargestellte Projekt selektiert und genauer betrachtet wurde: Das waren neun Projekte, zwei mit Empfehlung, drei ohne, aber mit Weiterleitung und vier ohne Empfehlung.
Auffällig war bei der Detailbetrachtung der Beschlusstexte, dass bei Projekten ohne Weiterleitungsempfehlung bis zu sechs Einwände formuliert wurden. Häussler: „Die Einwände waren häufig so, dass man sagen kann, teilweise hätte man auch vorher wissen können, dass man bei bestimmten Fragestellungen niemanden oder zu wenige Teilnehmer finden wird – oft alleine schon aus Zeitgründen.“ Von daher seien die Beschlüsse des Innovationsausschusses durchaus lesenswert, weil sie auf zentrale Probleme hinweisen würden, die man wahrscheinlich vor der jeweiligen Projektförderung teilweise hätte abfangen können. Dazu hätte es allerdings einer sachkundigeren Überprüfung bedurft.
Zudem weisen die Beschlüsse die Fördersumme, die Projektdauer und auch die beteiligten Einrichtungen aus. Auch daraus können nach Häussler wichtige Erkenntnisse gezogen werden. Auffällig sei hier, dass es bei den Fördersummen eine Riesenspanne von 0,2 Millionen bis zu 1,9 Millionen pro Projekt, also ein Verhältnis von 1:8, gebe. Die durchschnittliche Dauer von 3,2 Jahren findet Häussler „nicht unerheblich lange“. Und auch bei den beteiligten Einrichtungen, von zwei bis zu 15 Beteiligten, wies er darauf hin, dass die Zahl der beteiligten Einrichtungen nicht unkritisch zu sehen sei. Hier gelte das Motto: „Viel hilft nicht immer viel!“ Der Grund für die Aussage, zeigt sich, wenn man die Höhe der jeweiligen Fördersumme mit der Anzahl der beteiligten Einrichtungen korreliert. Häussler: „Dann sehen wir einen sehr interessanten Effekt.“ Die Fördersumme werde nämlich umso höher, je mehr Einrichtungen an einem Projekt beteiligt sind. Hier sei der Innovationsausschuss sicher dem Argument der Antragsteller gefolgt, dass größere Konsortien einfach mehr Geld brauchten. „Ich möchte infrage stellen, ob dieses Prinzip beibehalten werden sollte“, gab der IGES-Chef zu bedenken.
Um sich der Fragestellung nicht nur quantitativ, sondern qualitativ zu nähern, rief IGES sechs ausgewiesene Expert:innen aus den eigenen Reihen zusammen. Diese hatten die Aufgabe, die ausgewählten neun Projekte nach vier Fragen auf einer Skala von 1 bis 3 zu bewerten: Versorgungsrelevanz, Erkenntnislücke, Innovationsgrad und praktische Bedeutung (siehe Abb. 4). Häussler: „Im Durchschnitt haben wir 1,2 Punkte vergeben. Das heißt in Schulnoten ausgedrückt: befriedigend.“
Wenn man die vier Fragen genauer betrachtet, erkennt man zudem, dass die Versorgungsrelevanz und damit die Themensetzung mit 1,7 noch am besten bewertet wurde. Die anderen Kategorien hingegen wären aus Sicht der IGES-Expert:innen alle „um die 1“ gelegen. Häussler: „Daraus kann man schließen, dass wir den Eindruck hatten, dass zwar die Fragestellungen gut gewählt waren, damit jedoch relativ wenig Erkenntnislücken geschlossen wurden.“ Zudem sei der Innovationsgrad als mäßig eingestuft und die praktische Bedeutung mit dem geringsten Punktwert versehen worden.
Genau an der Stelle, so Häussler, werde das, was Hecken und Hoffmann zuvor in ihren Vorträgen referiert hätten, deutlich. Und zwar bei der Frage, wie das, was in einem Projekt erforscht wurde, später umgesetzt werden könne.
Eine weitere Erkenntnis aus dieser Mini-bewertung, die jedoch nicht repräsentativ sei, dazu bedürfe es einer breiteren Datenbasis:
• Je weniger Einwände in den Beschlüssen des Innovationsausschuss, desto höher fallen die IGES-Bewertungen aus.
• Höhere Fördersummen ziehen weder bei IGES noch beim Innovationsausschuss bessere Ergebnisse nach sich.
• Mit der Zahl der Einrichtungen steigt die Fördersumme, nicht aber die Bewertung.
• Je besser die Bewertung eines Projektes, umso geringer der Impactfaktor der Publikationen, die aus den Projekten entstanden sind.
Letzteres wertet Häussler als ein „fast paradoxes Ergebnis“, weil hier ein inverser Zusammenhang zutage trete. So gebe es bei einem von den IGES-Expert:innen betrachteten Projekt die geringste praktische Bewertung und die höchste Zahl der vom Innovationsausschuss formulierten Einwände, aber den höchsten Impactfaktor. Häussler fragte sich hier, wie es denn sein könne, dass ein Projekt einerseits keine Fragestellung beantworten würde, die in irgendeiner Weise eine praktische Bedeutung haben könnte, aber dennoch hochrangig publiziert würde. Hier könne man doch vermuten, dass Versorgungsforscher:innen Projekte danach aussuchen würden, ob sie für ihre eigene akademische Karriere wichtig sind. Sein Rat für ein wichtiges Grundprinzip der zukünftigen Förderung: „Man muss die Projektförderung mit dem Nutzen, den diese Projekte stiften sollen, in Einklang bringen.“ Dabei lohne sich ein Blick auf den § 92a Absatz 2 im SGB V.
Hier stehe, dass mit dem Innovationsfonds Projekte gefördert werden sollen, die einen Erkenntnisgewinn zur bestehenden Versorgung oder zur Verbesserung der bestehenden Versorgung leisten.
An der Stelle ging Häussler auf einen Fakt ein, der bisher nicht thematisiert wurde: den Gap zwischen Themensetzung und dem Zeitpunkt, an dem aus Projekten entstandene Erkenntnisse in der Versorgungsrealität ankommen. Der IGES-Leiter: „Wenn wir heute über Versorgungsforschung nachdenken, muss uns
klar sein, dass wir über eine Zukunft nachdenken, die locker 10 bis 15 Jahre von heute entfernt ist.“ Zu den Projektlaufzeiten von im Durchschnitt 3,2 Jahren komme eine Vor- und Nachbearbeitungszeit von mehr als fünf Jahren Dauer. Dazuzurechnen sei die Dauer der Implementierung samt eventuell nötiger Anpassung gesetzlicher Rahmen. Häussler: „Im Vortrag von Hoffmann sieht man sehr schön, dass die Implementierung gerade in Deutschland ein sehr mühseliger Prozess ist.“
Seine Conclusio: „Wenn wir jetzt über ein Forschungsprogramm im Sinne eines Priorisierungskatalogs Versorgungsforschung nach-
denken, müssen wir in eine Zukunft blicken, die mindestens eine Dekade entfernt ist.“ Es müsse allen Stakeholdern, die bei der Förderthemensetzung mitreden wollen oder müssen, bewusst sein, dass es hier um Themen geht, deren Unmet Needs nicht heute, sondern in zehn Jahren eine Rolle spielen werden.
Dazu gehört für Häussler auf keinen Fall die Frage der Digitalisierung: „Wir können getrost davon ausgehen, dass wir in zehn Jahren viel mehr Digitalisierung haben werden als heute.“ Deswegen sollte man heute nicht mehr im Einzelnen erforschen, ob es hilft, wenn man mit einer App irgendeine Information von A nach B schickt. Vielmehr sollten künftige Förderthemen danach geclustert werden, ob sie einen Research-Gap schließen, einen Impact on Burden verhindern und vor allem, ob die Machbarkeit und Implementierungschance überhaupt gegeben ist.
Die damit einhergehende Komplexität (siehe Abb. 5) führt Häussler zu der Aussage, dass sich damit das Förderprocedere generell ändern müsse. Bisher seien Förderbekanntmachungen im Grunde genommen Aufrufe, aber keine Ausschreibungen gewesen. Wenn man in Zukunft mehr Effizienz haben möchte, müsse man sich von diesem Aufrufcharakter wegbewegen und viel genauer präzisieren, welche Projekte mit welchem Nutzen gefördert werden sollen.
Ebenso könnte eine Art „Versorgungsobservatorium“ eingerichtet werden. Hier könne beispielsweise experimentell untersucht werden, wie die Veränderungsbereitschaft von Leistungserbringenden im Gesundheitssystem motiviert werden kann. Auch könnten in diesem Experimental-Umfeld bestehende Vergütungssysteme einer genaueren Betrachtung und Bewertung unterzogen werden. <<
von: MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier