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Versorgungsforschung auf Kassenkosten ad infinitum: Indikationen, Risiken und Nebenwirkungen

Statusanalyse und Verbesserungsvorschläge zum Innovationsfonds

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Erstveröffentlichungsdatum: 02.02.2023

Literatur

Bloom, Nicholas; Jones, Charles; van Reenen, John; Webb, Michael (2017): Are Ideas Getting Harder to Find? In: NBER Working Paper, Artikel 23782. DOI: 10.3386/w23782. Bundesminister für Gesundheit (2022): Sozialgesetzbuch V. SGB V, 2022. Online verfügbar unter https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_5/SGB_5.pdf, zuletzt geprüft am 14.01.2023. Franzoni, Chiara; Stephan, Paula; Veugelers, Reinhilde: Funding Risky Research. DOI: 10.3386/w28905. Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA) (2022): Startseite – G-BA Innovationsfonds. Online verfügbar unter https://innovationsfonds.g-ba.de/, zuletzt aktualisiert am 09.11.2022, zuletzt geprüft am 09.11.2022. GKV-Spitzenverband (2023): Gesetzgeber schlägt bei Innovationsförderung falschen Weg ein – GKV-Spitzenverband. Online verfügbar unter https://www.gkv-spitzenverband.de/gkv_spitzenverband/presse/pressemitteilungen_und_statements/pressemitteilung_189057.jsp, zuletzt aktualisiert am 12.01.2023, zuletzt geprüft am 12.01.2023. Hecken, J.; Stegmaier, P. (2022): „Wir brauchen einen Priorisierungskatalog Versorgungsforschung“. In: Monitor Versorgungsforschung (05/22), S. 6–13. DOI: 10.24945/MVF.05.22.1866-0533.2433. Monitor Versorgungsforschung (Hg.) (2022): Chancen für die Versorgungsforschung – Monitor Versorgungsforschung. Editorial vom 01.02.2016. Online verfügbar unter https://archiv.monitor-versorgungsforschung.de/bilder/konressinno16/Hoffmann_chancen-versorgungsforschung/, zuletzt aktualisiert am 26.12.2022, zuletzt geprüft am 12.01.2023. National Library of Medicine (2023): PubMed. Online verfügbar unter https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/, zuletzt aktualisiert am 16.01.2023, zuletzt geprüft am 16.01.2023. Newhouse, Joseph P. (1993): Free for All? Lessons from the RAND Health Insurance Experiment. Cambridge, Mass: Harvard University Press. Prognos AG (2022): Abschlussbericht über die wissenschaftliche Auswertung der Förderung durch den Innovationsfonds im Hinblick auf deren Eignung zur Weiterentwicklung der Versorgung. In: Bundestagsdrucksache 20/1361. Online verfügbar unter https://dserver.bundestag.de/btd/20/013/2001361.pdf, zuletzt geprüft am 09.11.2022. Rudan, Igor; Chopra, Mickey; Kapiriri, Lydia; Gibson, Jennifer; Ann Lansang, Mary; Carneiro, Ilona et al. (2008): Setting priorities in global child health research investments: universal challenges and conceptual framework. In: Croatian medical journal 49 (3), S. 307–317. DOI: 10.3325/cmj.2008.3.307. SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP (2021): Koalitionsvertrag, zuletzt geprüft am 17.07.2022. Statistisches Bundesamt (Hg.) (2020): Bildung und Kultur. Monetäre hochschulstatistische Kennzahlen. Stegmaier, P. (2021): Vorschlag für eine Wissensdatenbank Innovation. In: MVF 14 (04/2021), S. 28–29. DOI: 10.24945/MVF.04.21.1866-0533.2328. Stegmaier, P. (2022): Suche nach dem Versorgungsforschungs-Impact. In: MVF 15 (06/2022). DOI: 10.24945/MVF.06.22.1866-0533.2457. Yoshida, Sachiyo (2016): Approaches, tools and methods used for setting priorities in health research in the 21(st) century. In: Journal of global health 6 (1), S. 10507. DOI: 10.7189/jogh.06.010507.i

Zusätzliches

Zitationshinweis: Häussler, B.: „Indikationen, Risiken und Nebenwirkungen?“, in: „Monitor Versorgungs- forschung“ (01/23), S. 26–31. http://doi.org/10.24945/MVF.01.23.1866-0533.2473

Plain-Text

Im Rahmen des Innovationsfonds wurden für Versorgungsforschung (VSF) von 2016 bis 2020 ca. 300 Mio. Euro ausgegeben, entsprechend ca. 60 Mio. pro Jahr. Bei einem abgesenkten Förderbetrag von jährlich 200 Mio. Euro soll auch die Versorgungsforschung zunächst bis 2024 gefördert werden, sodass pro Jahr weitere 40 Mio. für Versorgungsforschung ausgegeben werden. Die Fortführung des Innovationsfonds über 2024 hinaus ist im Koalitionsvertrag (1) der gegenwärtigen Regierung vereinbart (SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP 2021). Das ist sicherlich schön. Insbesondere dürften sich die Versorgungsforscherinnen und -forscher darüber freuen, da das bisherige Programm pro Jahr zu Spitzenzeiten gut 700 Fachleute ganztägig beschäftigt hat, und bei einem zukünftig reduzierten Budget noch immer gut 400 Vollstellen schafft. Auch manche Universitäten werden sich freuen. Die sechs Topuniversitäten, die zusammen mehr als die Hälfte der Autorenschaft stellen, dürften pro anno zwischen ca. zwei und zehn Millionen als sog. Drittmittel einnehmen. Bei einzelnen medizinischen Hochschulen kann das fünf Prozent der Drittmitteleinnahmen ausmachen (2).

> Das Licht der großen Forschungsbudgets wirft allerdings auch den Schatten der Finanzierung aus dem Budget des Innovationsfonds (IF) der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Dies beträgt zwar nur ein Promille des Gesamtbudgets der GKV (3), allerdings besteht beim GKV-Spitzenverband (GKV-SV) auch die Sorge, dass die erheblichen Mittel nicht sparsam verwendet werden könnten (GKV-Spitzenverband 2023).

1. Hintergrund und Themensetzung

Die wirtschaftliche und sparsame Verwendung der Mittel des IF war auch Gegenstand der Evaluation, die im Auftrag des BMG von der Prognos AG vorgelegt wurde (Prognos AG 2022) (4). Das Gutachten bezieht sich auf administrative und institutionelle Aspekte (5) und lässt die (nur sehr aufwändig zu beantwortende) Frage eher außen vor, ob die Ausgaben des Innovationsfonds auch im Bereich der Versorgungsforschung ihr Geld wert waren. So waren qualitative Merkmale wie z. B. die Erreichung der Projektziele, die Qualität der Durchführung oder die Nutzbarkeit der Ergebnisse nicht Gegenstand einer systematischen Überprüfung.
Vor dem Hintergrund der politischen Absicht, die Ausgaben des IF auf unbegrenzte Zeit zu verstetigen, erscheint es daher angemessen zu sein, sich doch etwas ausführlicher der Frage zu widmen, wie der Outcome der Projekte in der Vergangenheit war und was man daraus für die Zukunft lernen kann. Dies soll im folgenden Abschnitt 2 erfolgen. Im Abschnitt 3 werden dann Überlegungen angestellt, wie die Schwerpunkte eines auf Dauer gestellten Förderprogrammes bestimmt werden und welche organisatorischen Voraussetzungen berücksichtigt werden sollten. Letztlich folgen in Abschnitt 4 einige Vorschläge, welche Themen in Zukunft von Interesse sein könnten.

2. Die Projekte und ihr Impact

Im Folgenden werden veröffentlichte oder recherchierbare Daten sowie eine Ad-hoc-Bewertung durch Expertinnen und Experten aus der Versorgungsforschung herangezogen, um einige Aspekte zu Qualität und Outcome des bisherigen Programms beschreiben zu können.

2.1 Was sagen veröffentlichte Zahlen?
Bis einschließlich 2021 war in der Förderung der Versorgungsforschung die Vergabe von 182 Projekten durch die jährliche Ausschreibung von 43 „Themenfeldern“ (TF) entstanden, dazu kamen weitere 107 Projekte aus den ebenfalls jährlichen „themenoffenen“ Ausschreibungen. Weitere 47 Projekte bezogen sich auf Evaluationen von Richtlinien, Leitlinien oder Selektivverträgen, sodass insgesamt 336 Projekte gefördert worden sind.
Aktuell sind 83 Versorgungsforschungs-projekte abgeschlossen, von denen 77 im Dezember 2022 in dem Artikel „Suche nach dem Versorgungsforschungs-Impact“ (Stegmaier 2022) tabellarisch dokumentiert waren.
Im Median sind damit drei Projekte pro Themenfeld gefördert worden. Nur in einem knappen Viertel der TF wurden mehr als fünf Projekte gefördert, in einem Drittel der TF wurden nur ein oder zwei Projekte und in drei TF überhaupt kein Projekt gefördert.
Wenn es also darum ging, dass der Innovationsausschuss (IA) Erkenntnisse über die Versorgung gezielt induzieren wollte und diese auch gebraucht hätte, scheint dies nicht richtig gelungen zu sein. Ein Grund dafür ist sicherlich, dass die Anträge vielfach von unzureichender Qualität waren und daher die Ablehnungsquote bei mehr als der Hälfte der TF im Durchschnitt bei ca. 85% lag, während der Durchschnitt 75% betrug.
Allerdings war die Zahl der unterschiedlichen TF deutlich zu hoch und der Grad ihrer Konkretisierung teilweise recht gering. Themen wie „Versorgung von Menschen mit chronischen Erkrankungen und/oder Multimorbidität“ waren eher diffus formuliert, sodass zwar 26 Antragsteller angezogen wurden, aber nur fünf Projekte gefördert werden konnten.
Andererseits zeichneten sich die fünf TF mit den meisten geförderten Projekten auch nicht durch präzise Themendefinitionen aus. Allerdings ist anzunehmen, dass durch die Signale „Bedarfsgerechtigkeit“, „Wirtschaftlichkeit“, „Routinedaten“ oder „Evaluation“ überwiegend methodisch bzw. wissenschaftlich motivierte Antragsteller angezogen wurden, die über gute gesundheitsökonomische Qualifikationen verfügen.
Vor diesem Hintergrund sollte die unbegrenzte Fortführung des Programms daran arbeiten, dass die Ausschreibung TF möglichst konkret benennt, welche Erkenntnisse sie anstrebt und sich dabei auch auf weniger TF konzentrieren. Außerdem sollte vermieden werden, dass durch die Förderung „Mitnahmeeffekte“ entstehen, bei denen das jeweilige Förderprogramm im Wesentlichen als Finanzierungsquelle genutzt wird.
Das generelle Ziel sollte nicht aus dem Blick geraten:

„Der Gemeinsame Bundesausschuss fördert Versorgungsforschung, die auf einen Erkenntnisgewinn zur Verbesserung der bestehenden Versorgung in der gesetz-
lichen Krankenversicherung ausgerichtet ist.“ (Bundesminister für Gesundheit 2022)

2.2 Detailanalyse bei einer kleinen Stichprobe von Projekten

Um weitere Eindrücke vom Funktionieren des Förderprogramms zu gewinnen, wurde aus einer nach Projektnummern sortierten Liste (6) jedes achte VSF-Projekt gezogen (7). Für die somit ausgewählten neun Projekte (8) wurden aus den veröffentlichten Dokumenten des Innovationsausschusses folgende Angaben extrahiert:
• Fördersumme in Euro
• Dauer des Projektes
• Zahl der beteiligten Einrichtungen
• Art und Umfang der Empfehlungen sowie
• Zahl der Einwände, die jeweils in den Beschlusstexten des IA vermerkt worden sind.

Zusätzlich wurden in der Publikationsdatenbank „PubMed“ Veröffentlichungen identifiziert, die den jeweiligen Projekten zuzuordnen sind. Zu den Publikationen wurde der Impactfaktor der Fachzeitschriften ermittelt, sodass für jedes Projekt der jeweils höchste Impactfaktor dokumentiert werden konnte (siehe Abb. 1). Die Analyse zeigt, dass die durchschnittliche Fördersumme bei 1,1 Mio. lag und dass es enorme Unterschiede sowohl bei der Fördersumme (zwischen 0,2 und 1,9 Mio. Euro) als auch bei der Zahl der beteiligten Projektpartner (zwischen 2 und 15 Partner) gibt (jeweils 1:8). Dies wirft die Frage auf, ob solche Unterschiede funktional sind. Gibt es sachliche Gründe, weshalb für ein Forschungsprojekt 0,2 Mio. Euro und für ein anderes 1,9 Mio. Euro ausgegeben werden?
Ein wesentlicher Faktor ist dabei die Zahl der Projektpartner (siehe Abb. 1, unten links). Rechnerisch steigt die Fördersumme pro Projektpartner im Mittel um ca. 100.000 Euro. Dennoch geht mit der Zahl der geförderten Partner die Summe zurück, die pro Partner gewährt wird. Ein Projekt mit zwei Partnern bekommt rechnerisch dreimal mehr pro Partner als ein Projekt mit 15 Partnern.
Bei der inhaltlichen Analyse ergeben sich keine Hinweise, dass die Schwierigkeit der Fragestellung die Zahl der Projektpartner bestimmt. Wenn man den höchsten Impact-factor der Publikationen als Maß für Qualität nimmt, zeigt sich allerdings ein Zusammenhang mit der Fördersumme pro Einrichtung – so müssen Projektpartner rechnerisch mit ca. 50.000 Euro pro Projekt gefördert werden, um einen Impactfaktor-Punkt bei der am höchsten bewerteten Publikation zu erzielen (siehe Abb. 1, unten rechts).
Die mittlere Dauer der betrachteten Projekte lag bei 3,2 Jahren (2,3 bis 4,0 Jahre). Diese Dauer erscheint insbesondere bei Projekten, die ohne Datenerhebungen in der Versorgung auskommen, hoch. Da Dauer und Fördersumme deutlich korrelieren, wäre unter sonst gleichen Voraussetzungen eine Verkürzung der Projekte in finanzieller Hinsicht angesagt.
Wenn man die Beschlüsse des IA zu abgeschlossenen Projekten untersucht, stellt man fest, dass zwei der neun Projekte vom IA für eine eingehendere Prüfung ihres Einsatzes in der Regelversorgung an diverse Institutionen im Gesundheitswesen überwiesen wurden. Der zu prüfende Einsatz konnte sich auf Leitlinien beziehen, Qualitätssicherungsverfahren oder z. B. auch Disease-Management-Programme. Bei weiteren drei Programmen kamen zusätzlich Empfehlungen hinzu, die Projektergebnisse an weitere Funktionsträger „weiterzuleiten“, ohne dass hierzu konkretere Angaben gemacht wurden. Bei allen neun Projekten wurden im Beschluss des IA einer bis sechs Einwände formuliert, die sich häufig auf die Ausführung, aber auch auf die Konzeption des jeweiligen Projektes bezogen. Wenn man die Unterscheidung zwischen „Empfehlung zur Prüfung“ und einfache „Weiterleitung“ berücksichtigt (9), entsteht ein eher verhaltenes Bild von der Zufriedenheit des IA mit dem Impact der Projekte für die Versorgung. Auf den Umstand, dass zu jedem der neun Projekte auch Einwände formuliert worden sind, wird weiter unten noch Bezug genommen (siehe Abschnitt 2.3).

2.3 Durchführung einer Ad-hoc-Bewertung qualitativer Aspekte
Die neun Projekte wurden zusätzlich einer fokussierten Bewertung unterzogen, an der sechs Expertinnen und Experten aus dem IGES Institut beteiligt waren, die über mehr als 120 Jahre berufliche Erfahrung mit der Durchführung von Projekten, Konzepten und dem Stand der Forschung haben. Diesen Experten wurde das projektbezogene Material zugänglich gemacht, das auf der Website des Innovationsfonds öffentlich zugänglich ist. Der Fokus der Beurteilung lag auf den Beschlusstexten des Innovationsausschusses (IA), in denen die Ergebnisdarstellungen herausgehoben wurden.
Den Mitgliedern dieser Ad-hoc-Expertengruppe wurden Fragen vorgelegt, die sich auf wichtige Aspekte beziehen, die bei der Formulierung von Forschungsprogrammen gestellt werden sollten und die hier „Förderkriterien“ (FK) genannt werden (10). Die vier Fragen waren:
1. Wie groß ist die Versorgungsrelevanz der Fragestellung?
2. Kann mit dem Projekt eine Erkenntnis-lücke geschlossen werden?
3. Wie ist der Innovationsgrad der angewendeten Methoden oder der entwickelten Verfahren?
4. Wie ist die praktische Bedeutung der erzielten Ergebnisse?

Die Antworten auf diese Fragen sollten als Punktzahlen zwischen null und drei mitgeteilt werden. Die Ergebnisse wurden sowohl über die verschiedenen Experten pro Frage als auch über alle Fragen gemittelt.
Im Ergebnis lag die mittlere Bewertung aller FK zusammen bei 1,2. Von den vier FK bekam die „Versorgungsrelevanz“ mit 1,7 die höchste mittlere Bewertung, die bei maximal 3 liegen konnte. Die Bewertungen der drei anderen FK lag bei etwa 1 aus 3 (siehe Abb. 2 oben).
Eine gewisse Validierung der Bewertungen ergibt sich aus dem Umstand, dass die Gesamtbewertung der Experten mit der Zahl der Einwände des IA, die in den Beschlüssen genannt waren, deutlich korreliert: Je höher die Zahl der Einwände, desto geringer war die Gesamtbewertung (siehe Abb. 2 unten).
Die Versorgungrelevanz war insgesamt relativ gut bewertet, was sicherlich auch der Auswahl durch den IA zu verdanken war. In der Bewertung bekamen Projekte eine geringere Punktzahl, bei denen z. B. Unterschiede zwischen Patientengruppen keine realistischen Optionen im Hinblick auf Gestaltungsmöglichkeiten aufwiesen.
Bei der Frage, ob Erkenntnislücken geschlossen wurden, fielen Projekte auf, die sich mit Fragestellungen befassten, die teilweise schon lange in Deutschland und international mit den unterschiedlichsten Ansätzen bearbeitet worden sind.
In zwei der bewerteten Projekte waren – teilweise auch unter Verwendung innovativer Methoden – Ergebnisse erzielt worden, die in dieser Form bisher nicht vorlagen und daher als innovativ bezeichnet werden können. Dies traf allerdings auf die Mehrzahl der bewerteten Projekte nicht zu.
Die praktische Bedeutung der Projekte war natürlich durch die Versorgungsrelevanz der Fragestellung vorgeprägt. Dennoch konnten mehrere Projekte ihr Ziel aufgrund von methodischen Schwächen nicht erreichen. Darunter waren vielfach auch die in den Beschlüssen des IA angemerkten Probleme, dass ausreichende Fallzahlen nicht erreicht worden sind oder konzeptionelle Schwächen bestanden. Vor diesem Hintergrund fanden methodische Probleme ihren Ausdruck in der FK „praktische Bedeutung“.

2.4 Erkenntnisse aus der differenzierten Betrachtung von ausgewählten Themenfeldern und Projekten
Es versteht sich von selbst, dass die dargestellten Analysen aufgrund der geringen Fallzahl keinen repräsentativen Anspruch erheben wollen, obwohl die Projekte zufällig gezogen worden sind. Dennoch zeigen sie Tendenzen, die bei der Weiterentwicklung des Programms diskutiert werden sollten.
Besondere Aufmerksamkeit sollten auf die folgenden Befunde gelegt werden:
1. Die Ausschreibung und Auswahl der Themenfelder war zu kleinteilig (11) und dennoch teilweise zu wenig präzisiert.
2. Gemessen an vielen anderen Projektförderungen ist die Laufzeit von Projekten mit durchschnittlich 3,2 Jahren eher lang. Zeitnahe Antworten auf drängende Fragen können damit nicht gegeben werden.
3. Das Fördervolumen pro Projekt ist mit 1,1 Mio. eher hoch.
4. Die Gewährung der Fördersummen hat sich an der Zahl der Projektpartner orientiert, sodass keine Anreize bestanden, Mehraufwand zu begrenzen. Gleichzeitig waren die Fördersummen bei Projekten mit zahlreichen Partnern eher zu gering, wenn man den akademischen Outcome (Publikationen, Impactfaktor) berücksichtigt.
5. Die Antragsprüfung hat nicht verhindert, dass zu viele Projekte durchgeführt worden sind, die – auch in der Bewertung des IA – nicht voll zufriedenstellend waren. Ob mit den Projekten wichtige Erkenntnislücken geschlossen wurden, bleibt vielfach offen.
6. Die Durchführung der Projekte hat unter anderem darunter gelitten, dass die Datenerhebungen nicht realistisch geplant oder nicht sachgerecht durchgeführt worden sind bzw. durchgeführt werden konnten.

Es soll hier nicht der Eindruck erweckt werden, als hätte man alles besser machen können. Alleine die benötigten Ressourcen zur Steuerung des Programms sind beachtlich. Andererseits sollten die gemachten Erfahrungen dazu genutzt werden, die Weiterführung des Programms zu optimieren.

3. Überlegungen zur Vorbereitung des zukünftigen Förderprogramms zu Versorgungsforschung im Innovationsfonds

Beim Nachdenken über eine geeignete Weiterentwicklung des Förderprogramms für VSF im Innovationsfonds kann zunächst die Frage gestellt werden, ob die Aufteilung des gesamten Programms in „Neue Versorgungsformen“ (NVF) und „Versorgungsforschung“ (VSF) beibehalten werden sollte. Argumente für eine Beibehaltung könnten anführen, dass VSF-Projekte explizit nicht in das Versorgungsgeschehen eingreifen sollten. Ihre Aufgabe soll analytisch sein, aber kürzer und deutlich weniger aufwendig als NVF-Projekte. Dennoch könnten auch VSF-Projekte experimentelle Ansätze enthalten, die sich in einer Laborumgebung abspielen könnten.
Im Zuge einer Weiterentwicklung des Förderprogramms für VSF sollten vor dem Hintergrund dieser Analyse sowie publizierter Evaluationen von Förderprogrammen folgende Aspekte näher betrachtet werden:
1. Förderkriterien
2. Antragsprüfung und -begleitung
3. Programmzuschnitt
4. Einbeziehung von Stakeholdern
5. Ausschreibung

Förderkriterien
Der IA benennt in seinen Förderbekanntmachungen FK, die über die Jahre leicht modifiziert wurden. Sie beziehen sich auf
• Relevanz
• Verbesserung der Versorgung und Erkenntnisgewinn
• Qualifikation und Vorerfahrung der Antragsteller
• Methodische und wissenschaftliche Qualität
• Verwertungspotenzial
• Machbarkeit des Projekts in der Laufzeit
• Angemessenheit der Ressourcen- und Finanzplanung

Mit diesen FK ist in ausreichendem Maße dem Rechnung getragen, was sich aus systematischen Analysen von Förderprogrammen ergibt (Yoshida 2016), (Rudan et al. 2008) (12). An dieser Stelle drängen sich keine Verbesserungspotenziale auf.
Dennoch soll hier darauf hingewiesen sein, dass Förderprogramme generell eine beachtliche zeitliche Achse haben. Dies bedeutet, dass zum einen zwischen dem Beginn der Forschung und ihren Früchten im Sinne des Nutzens aus einer verbesserten Praxis ein Zeitraum von zehn Jahren liegen kann, während zum anderen die Gestaltung des Förderprogramms selbst auch einen längeren Zeitraum beansprucht (s. Abb. 3). Dies bedeutet praktisch, dass die Förderkriterien weniger an der Gegenwart, sondern eher an einer mittelfristigen Zukunft ausgerichtet werden sollten (siehe dazu Abschnitt 4).

Antragsprüfung und -begleitung
Wenn es dennoch in einem gewissen Umfang dazu gekommen ist, dass die Erträge von Projekten hinter den Erwartungen zurückgeblieben sind, könnte die Prüfung der Anträge und ggf. die Begleitung über die verschiedenen Abschnitte der Projekte verbesserungswürdig sein. Wenn festgestellt wird, dass der Erkenntnisgewinn einzelner Projekte aufgrund umfangreicher bereits publizierter Forschungen relativ gering ist, hätte dies bereits bei der Antragsprüfung auffallen können. Das gilt ebenso für konzeptionelle Mängel oder Mängel bei der Rekrutierung, die in den Anträgen gelegentlich viel zu optimistisch eingeschätzt worden sind.
Hier verbirgt sich ein erhebliches Potenzial zur Steigerung des Outcomes und der Wirtschaftlichkeit des Programms. In diesem Zusammenhang sollte überdacht werden, ob „Kurzgutachten“ aus dem Kreise des „Expertenpools“ besonders dafür geeignet sind, kritische Elemente in Anträgen zu entdecken. Das nicht gerade geringe Fördervolumen würde eine eingehendere Prüfung rechtfertigen.

Programmzuschnitt
Bereits erwähnt wurde, dass bis einschließlich 2021 insgesamt 43 thematische Themenfelder ausgeschrieben wurden, auf die im Median nur jeweils drei Projekte entfielen. Dies mag in einer Anfangsphase gerechtfertigt sein, wo es darum geht, die Möglichkeiten des Forschungsangebots auszuloten. Wenn aber Programmziele mit Endpunkten aufgestellt werden, die den Nutzen einer verbesserten Versorgung beinhalten (s. Abb. 3), würde man für die Zukunft eine stärkere Konzentrierung der Forschungsanstrengungen erwarten. In diesem Sinne wäre die Formulierung von Zukunftszielen und deren Abbildung in einer begrenzten Zahl großer Forschungsfelder eine Option, die auch bei Hecken und Stegmaier anklingt (Hecken und Stegmaier 2022).

Einbeziehung von Stakeholdern
Durch das seit 2020 eingeführte Konsultationsverfahren können sich ganz allgemein Interessierte zu den Förderbekanntmachungen mit passenden Vorschlägen an die Geschäftsstelle des IF wenden. Hiermit ist eine Ad-hoc-Beteiligung von Ausschreibung zu Ausschreibung gegeben.
Um einen umfassenderen Eindruck von potenziell interessanten Vorstellungen zu gewinnen, wäre im Zuge einer Weiterentwicklung des Förderprogramms zu erwägen, an den Beginn einen strukturierten Prozess zu stellen, der im Sinne einer „Enquete“ die Programmziele formuliert. Hierbei wären auch alle Stakeholder des Gesundheitssystems einzubeziehen. Der Ad-hoc-Charakter des Konsultationsverfahrens könnte damit ergänzt werden.

Ausschreibung
Das bisherige Verfahren der Förderbekanntmachung kann als „Aufruf-Verfahren“ bezeichnet werden, zu einem Themenfeld passende Projektvorschläge einzureichen. Der Programmgeber verzichtet damit darauf, konkrete Forschungsfragen auszuschreiben, sondern wartet auf Angebote von Projektnehmern zu konkreten Themen. Wettbewerb gibt es damit letztlich nur um das jeweils zur Verfügung stehende Budget. Die Begründung dafür liegt in der Annahme, dass damit die Kreativität der Anbieter von Forschungsprojekten nicht begrenzt wird.
Aufgrund der Erfahrung, dass in der Rückschau ein Optimierungspotenzial hinsichtlich Qualität und Outcome der Projekte erkennbar ist, wäre für die zukünftige Gestaltung zu erwägen, von einem „Aufruf“-Verfahren zu einem klassischen Ausschreibungsverfahren überzugehen. Hier wären die zu erforschenden Themen vorgegeben, die Förderentscheidung würde sich auf die Wahl des besten und wirtschaftlichsten Angebots beziehen. Der Einwand, dass damit das kreative Potenzial der Forschungsanbieter nicht gehoben würde, könnte durch ein zweistufiges Verfahren ausgeglichen werden, an dessen Beginn eine größere Veranstaltung („Enquete“) stünde und ggf. zusätzlich Aufrufe zur Konkretisierung von Forschungsthemen.

4. Hinweise für Förderthemen der Zukunft

Bei der Gestaltung eines zukünftigen und langfristig angelegten Forschungsprogramms zur Versorgungsforschung sollten aufgrund der vorgenannten Überlegungen die Aspekte der Zeit und des Impacts eine besondere Rolle spielen. Ein weiterer Gesichtspunkt könnte sein, dass durch den IF Vorhaben gefördert würden, die derzeit von den dafür zuständigen Institutionen nicht ausreichend wahrgenommen werden.
In methodischer Hinsicht sollten neben klassischen Analysen zunehmend experimentelle Verfahren berücksichtigt werden, mit denen insbesondere entscheidende Verhaltensaspekte simuliert und auf ihre Veränderungsmöglichkeit geprüft werden können. Damit sind weniger Interventionsstudien gemeint, die eher im Bereich NVF angesiedelt sind. Eine wichtige Ergänzung wären experimentelle Untersuchungsansätze, für die es im Gesundheitssystem Vorbilder gibt (Newhouse 1993), und die heutzutage mit dem Repertoire der experimentellen Ökonomie ausgestattet sein können.
Hierzu einige wenige Beispiele:
a. In der Zukunft werden zunehmend technologische Lösungen benötigt, die die Knappheit an menschlichen Ressourcen teilweise kompensieren sollen. Diese stoßen gegenwärtig vielfach auf Ablehnung. Experimentelle Analysen sollten die Nutzerperspektive beschreiben und die Bedingungen für einen nutzerorientierten Einsatz.
b. Vergütungssysteme stehen immer wieder in der Diskussion als Instrumente für die Weiterentwicklung des Gesundheitssystems, aber auch als Ursachen für Fehlentwicklungen. Ähnliches gilt für Anreizsysteme. Die Erforschung ihrer Wirksamkeit ist oftmals schwierig, da ihre Wirkung schwer zu isolieren ist. Auch hier besteht ein großer Bedarf, der durchaus bereits in der Gegenwart besteht. Daher sollten neben mittelfristig auch kurzfristig relevante Projekte erwogen werden.
c. Zwischen den Alltagserfahrungen der Bürgerinnen und Bürger und methodisch stark strukturierten Erfassungsinstrumenten für die Versorgungsqualität besteht eine große Distanz. Alltagserfahrungen, die für die individuelle Zufriedenheit mit dem Gesundheitssystem prägend sind, gelangen nicht ausreichend in ein Format, wo sie für Reformdebatten zur Verfügung stehen. Durch den IF könnte ein „Bürger-Register für Qualitätserlebnisse“ gefördert werden, dessen Auswertung durch wissenschaftliche Analysen unter interessierten Konsortien ausgeschrieben werden könnte.

Last but not least sollte das Instrument der „themenoffenen“ Förderung beibehalten werden. Auf die Chancen von originellen Ansätzen für Themen und Methoden sollte geachtet werden (Franzoni et al.). Hiermit soll der allgemeinen Gefahr von Forschungsprogrammen vorgebeugt werden, dass sie sich zu einer Mainstream-Förderung entwickeln, die zwar die Menge der Projekte und Publikationen steigert, aber nicht den Erkenntnisgewinn (Bloom et al. 2017). Dies sollte der Versorgungsforschung in Zukunft erspart bleiben. <

von: Prof. Dr. Bertram Häussler, IGES Institut