Wie die Verordnungsdaten von INSIGHT Health zeigen, führen Rabattverträge großer Kassen nicht nur zu Umstellungen bei der Arzneimittelversorgung der eigenen Versicherten. Es kommt auch zu Ausstrahlungseffekten auf die Versorgung von Versicherten anderer Kassen. Bei Rabattverträgen großer Kassen wie der AOK-Gruppe ist letztlich jede Apotheke angehalten, die jeweiligen Rabattprodukte auf Lager zu halten. Offensichtlich werden diese Produkte nun auch an Versicherte anderer Kassen ausgegeben, die nach der gesetzlichen Regelung eigentlich Produkte anderer Hersteller erhalten müssten – sei es aufgrund von Rabattverträgen oder aufgrund der Verpflichtung, eines der drei günstigsten Produkte abzugeben, sofern der Arzt das Aut-idem-Kreuz nicht gesetzt und damit einen Austausch zugelassen hat. Ein solcher, überraschender Effekt zeigte sich z. B. bei den beiden ausgabenstärksten Wirkstoffen der dritten AOK-Ausschreibung, Simvastatin und Omeprazol, deren Verträge zum 1. Juni 2009 gestartet sind. Die beiden Wirkstoffe stehen für knapp 18 % des AOK-Ausgabevolumens der 63 Wirkstoffe dieser Ausschreibung. Auf Simvastatin und Omeprazol entfielen im Zeitraum April 2009 bis März 2010 (MAT März 2010) ca. 370 Mio. Euro nach Apothekenverkaufspreisen (AVP).
>> Beispiel 1/Simvastatin: Der Cholesterinsenker Simvastatin zählt zu den wichtigsten patentfreien Wirkstoffen im Markt. In der dritten AOK-Ausschreibung hat ein Hersteller den Zuschlag für alle fünf Gebietslose (siehe Infobox: Gebietslose der AOK-Ausschreibungen) erhalten. Er hat damit eine sehr starke Stellung im Markt eingenommen, da allein die AOK-Versicherten zurzeit 41 % aller Simvastatin-Verordnungen innerhalb der GKV ausmachen (MAT März 2010).
Das pharmazeutische Unternehmen (der Ausschreibungsgewinner) war bereits zuvor nach Zahlen von INSIGHT Health mit 7 % aller Simvastatin-Verordnungen einer der Top-5-Anbieter im GKV-Markt. Mit 39 % Marktanteil in der GKV und knapp 81 % innerhalb der AOK liegt es zum März 2010 jetzt aber deutlich vor der Konkurrenz (siehe Abb. 1).
AOK-Rabattpartner von Simvastatin gewinnt auch bei anderen Kassen deutlich hinzu
Außerhalb der AOK ergibt sich für den AOK-Rabattpartner folgendes Bild: Im Mai 2009 besaß der Hersteller einen Marktanteil bei Simvastatin von knapp 7 %, im März 2010 bereits 11 %. Worauf ist nun dieser Anstieg von vier %punkten zurückzuführen? Zunächst könnten weitere Rabattverträge über Simvastatin mit anderen Krankenkassen dafür verantwortlich sein. Tatsächlich liefen in dem Zeitraum aber sogar Rabattverträge des Herstellers mit über 40 Krankenkassen aus, und aktuell haben diese Kassen durchweg andere Rabattpartner für Simvastatin. Lediglich ein weiterer Rabattvertrag mit einer kleineren Kasse kam hinzu.
Der Grund für den steigenden Marktanteil des AOK-Rabattpartners außerhalb der AOK liegt vielmehr ganz maßgeblich in der Umsetzung der Rabattverträge mit anderen großen Krankenkassen. So konnte das Unternehmen etwa bei der DAK und Knappschaft, die mit ihm und gleichzeitig 4 bzw. 13 weiteren Herstellern bereits in den Vorjahren Verträge über Simvastatin abgeschlossen haben, seinen Anteil nahezu verdoppeln: von 13 auf 24 % bzw. 10 auf 19 % (siehe Abb. 1).
Bemerkenswert ist darüber hinaus folgender Effekt: Auch bei den beiden größten Kassen Barmer GEK und TK, die keinen Rabattvertrag mit dem Hersteller haben, wurden in den letzten drei Quartalen mehr Patienten von einem anderen Simvastatin-Produkt auf das AOK-Rabattprodukt umgestellt als umgekehrt von dem AOK-Rabattprodukt auf ein Konkurrenzprodukt. Dies zeigen Zahlen des Patienten Tracking von INSIGHT Health, mit dem die Verordnungsverläufe mehrerer Millionen anonymisierter Patienten über mehrere Jahre hinweg verfolgt werden können.
Beispiel 2/Omeprazol:
Für das patentfreie Magenmittel Omeprazol, den ausgabenstärksten Wirkstoff der dritten AOK-Ausschreibung, erhielt ein Generikahersteller den Zuschlag für alle fünf Gebietslose, der bis dato nur in Branchenkreisen bekannt war. Die Umstellung auf diesen Rabattpartner verlief aus mancherlei Gründen nicht wie gewünscht: Zunächst wurde die Lieferfähigkeit in Frage gestellt. Danach folgte eine bis zum heutigen Zeitpunkt anhaltende Debatte um die Substituierbarkeit der unterschiedlichen Packungsgrößen. Der Hersteller hatte in den AOK-Rabattvertrag nur die im Markt wenig verbreiteten Packungsgrößen von 15, 28, 56 und 98 Kapseln eingebracht. Die Packungen mit 30, 50, 60 und 100 Stück sind dagegen nicht rabattiert. Dies führt seitdem immer wieder zu der Frage, ob ein Apotheker bei einer Verordnung einer 100er Packung Omeprazol auch eine 98er, 60er oder sogar 56er Packung herausgeben darf. Dieser Umstand verleitete den Branchenverband Pro Generika zum süffisanten Kommentar „Zahl des Monats September 2009: 100 = 98 = 60 = 56“.
In diesem spannungsgeladenen Kontext ist es nicht verwunderlich, dass die wirkstoffbezogenen Umsetzungsquoten des Rabattvertrages (d. h. ohne Berücksichtigung der Packungsgrößen) deutlich hinter denen anderer Rabattwirkstoffe zurückbleiben. So lag aufgrund der Packungsgrößenthematik die durchschnittliche Umsetzungsquote im März 2010 – d. h. zehn Monate nach Inkrafttreten des Rabattvertrages – bei nicht einmal 13 % (s. Abb. 2.)
Auch nicht rabattierte Omeprazol-Produkte des AOK-Rabattpartners gewinnen hinzu
Erstaunlich ist aber, dass die Packungsgrößen des Rabattpartners von 30, 50, 60 und 100 Stück, welche keine Rabattierung genießen, deutliche Zugewinne verbuchen konnten. Eine Sonderanalyse von INSIGHT Health zeigt, dass die unrabattierten Omeprazol-Produkte des Herstellers insbesondere in der Startphase des AOK-Vertrags über 20 % seiner Omeprazol-Verordnungen für AOK-Versicherte ausmachten. Dieser Anteil reduzierte sich zwar bis März 2010 auf rund 13 %, insgesamt wurden aber gegenüber Mai 2009 mehr als 16 Mal so viele unrabattierte Omeprazol-Produkte des Rabattpartners innerhalb der AOK verordnet.
Wie bei Simvastatin kam es auch bei Omeprazol zu Ausstrahlungseffekten auf die Abgabe von Produkten des AOK-Rabattpartners an Versicherte anderer Kassen. So verdoppelte sich der Marktanteil außerhalb der AOK von 0,5 auf über ein % (Abb. 2).
Eine ähnliche Entwicklung zeigen die patientenzentrierten Zahlen von INSIGHT Health: Hiernach wurden in den letzten drei Quartalen außerhalb der AOK doppelt so viele Versicherte von Omeprazol-Produkten anderer Hersteller auf die AOK-Rabattprodukte umgestellt als umgekehrt. Und auch bei den Neueinstellungen von Patienten auf Omeprazol konnte der AOK-Rabattpartner bei anderen Kassen punkten.
Diese Effekte sind umso bemerkenswerter, als der Hersteller mit keiner weiteren Kasse einen Rabattvertrag über Omeprazol abgeschlossen hat und seit Juni 2009 kein Omeprazol-Konkurrenzprodukt auf dem Markt hatte, das zu den drei günstigsten zählte.
Fazit
Wie aus beiden Beispielen ersichtlich wird, können Rabattverträge im generikafähigen Markt nicht isoliert bewertet werden. Zum einen werden Produkte mit hohen Marktanteilen, die vor allem auf Rabattverträge mit großen Krankenkassen zurückzuführen sind, auch verstärkt an Versicherte von Krankenkassen abgegeben, mit denen kein Rabattvertrag besteht. Dies gilt sowohl für etablierte größere Generikaunternehmen als auch für kleinere Anbieter. Zum anderen werden bei Existenz eines Rabattvertrages über einen Wirkstoff nicht nur die rabattierten, sondern auch die nicht rabattierten Produkte des Herstellers an die Versicherten abgegeben, obwohl es hierzu keine gesetzliche Grundlage gibt.
Für die Versorgung der Patienten unter Alltagsbedingungen bedeutet dies, dass nicht nur Umstellungen für die Versicherten der Rabattkassen von Relevanz sind, sondern auch die Versorgung von Patienten anderer Kassen merklich beeinflusst wird. Interessant hierbei ist die Tatsache, dass neben Aut-idem-Quoten und Rabattverträgen (noch immer) auch andere Komponenten bei der Arzneimittelabgabe eine Rolle spielen, nicht zuletzt vermutlich auch die jeweilige Bevorratung in den Apotheken. Dies ist aber ein Faktor, der bereits vor der Rabatt-Ära eine größere Bedeutung für die Arzneimittelabgabe an die Versicherten hatte. Daran schließt sich auch die Frage an, inwieweit Rabattverträge tatsächlich zu mehr Umstellungen der Versicherten auf andere generische Produkte führen (und damit ggf. die Compliance beeinflussen), als dies ohne Rabattverträge der Fall wäre bzw. früher der Fall war. <<
von: Christian Bensing/
Dr. André Kleinfeld