Plain-Text
Die Bundesregierung plant (wie eigentlich jährlich) eine Reform des fünften Sozialgesetzbuchs. Für 2011 ist vorgesehen, unter anderem die vertragsärztliche Bedarfsplanung neu zu regeln. Hierfür sollen regionale Arbeitskreise gebildet werden. Sie sollen sich aus Kommunalvertretern, Entscheidungsträgern der Krankenkassen, Kassenärztlichen Vereinigungen, Ärztekammern, Krankenhausträgern und Patientenvertretungen zusammensetzen. Eines der wesentlichen Ziele der ins Auge gefassten neuen Regelungen ist es, einer weiteren Ausdünnung der Arztzahlen auf dem Lande vorzubeugen.
>> Insbesondere für die hausärztliche Versorgung wird eine Mangelsituation für die nächsten Jahrzehnte prognostiziert. Denn nahezu kein Flächenland findet für freiwerdende Hausarztsitze hinreichend Nachwuchs. Gleichzeitig steigt nach den Prognosen die Zahl der multimorbiden alten Menschen, die - das kommt erschwerend hinzu - meist weniger mobil sind als jüngere Mitglieder der Bevölkerung. Darüber hinaus sind Ältere oft auf ihre (eigene) Wohnung auf dem Lande angewiesen und damit natürlich ebenso auf ärztliche ortsnahe Versorgung.
Die Gründe für den Ärztemangel sind vielfältig. Zum einen gibt es im Arztberuf eine Tendenz zur Feminisierung, was sich ganz deutlich an den Einschreiberaten in den Unis zeigt. Und Frauen sind nun einmal - das zeigt die Erfahrung - in geringerem Umfang und erst in späteren Lebensabschnitten bereit, Geld in eine eigene Praxis zu investieren. Doch ausreichende Angestelltenstellen für Ärztinnen und Ärzte gibt es im ambulanten Versorgungsbereich (außerhalb der Krankenhäuser) noch nicht. Zwar steigt langsam die Zahl der medizinischen Versorgungszentren (MVZ), die zunehmend angestellte Ärzte beschäftigen, doch nicht in dem Umfang, wie es eigentlich nötig wäre. Dazu kommt ein anderer Fakt: Für die Partner von Ärztinnen ist es auf dem flachen Lande viel schwerer, adäquate Arbeitsplätze zu finden als für die Partnerinnen von Ärzten. Auch ist es so, dass auf dem Lande vorzugsweise Hausärztinnen und Hausärzte gesucht werden, deren breit angelegte Weiterbildung schwerer zu absolvieren ist als eine Fachweiterbildung; auch, weil sie einen häufigen Stellenwechsel erforderlich macht. Und schließlich begünstigt die vertragsärztliche Bedarfsplanung die Niederlassung in Spezialgebieten, deren Vergütung in den meisten Fächern immer noch höher ist als die der Hausärzte. Und wenn man dann noch weiß, dass der Notfalldienst nachts und an Wochenenden in Ballungsgebieten viel seltener als auf dem Land stattfindet, aber wesentlich besser bezahlt wird, weil einfach mehr Fälle pro Dienst behandelt werden als dies auf dem Lande der Fall ist, wo Notfalldienstbezirke oft bis zu 70 Kilometer Durchmesser aufweisen, wundert es einen nicht, dass der Ärztemangel vorprogrammiert ist. Und das schon seit vielen Jahren. Mal ehrlich: Im Endeffekt werden Hausärzte auf dem Land für den - für meist in Städten groß gewordene Menschen auch so erlebten - Verlust an Freizügigkeit und Lebensqualität einfach nicht ausreichend finanziell entschädigt.Nicht von ungefähr hat der gesundheitspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Prof. Karl Lauterbach, schon mehrfach öffentlich die Forderung erhoben, die Vergütung der Hausärzte gegenüber den Fachärzten anzuheben, denn anders sei der Hausärztemangel in den nächsten Jahrzehnten nicht zu beheben.
Maßnahme heute - Auswirkung in zehn Jahren
Zusammengefasst ergibt sich die Frage, unter welchen Bedingungen Ärzte für die Tätigkeit auf dem Land angeworben werden können und welche Anreize hierfür verfügbar sind. Bundesgesundheitsminister Dr. Phillip Rösler und seine Mitarbeiter haben vorgeschlagen, man solle eine bestimmte Quote von Medizinstudienplätzen an jene Studentinnen und Studenten vergeben, die sich verbindlich verpflichten, eine bestimmte Zeit, zum Beispiel fünf Jahre, auf dem Lande tätig zu sein. Doch das bereits jetzt akute Problem des Ärztemangels auf dem Land wird durch solche Maßnahmen frühestens in zehn Jahren gemildert. Denn so lange dauert das Studium und die anschließende Weiterbildungszeit zum Facharzt für Allgemeinmedizin. Es muss daher die Frage aufgeworfen werden, was sofort getan werden kann.
So hat Daniel Bahr, der parlamentarische Staatssekretär im Bundesgesundheitsministerium, am 31. Januar 2011 in seinem Eingangsreferat bei der Jahresversammlung des Bundesverbandes Managed Care (BMC) den Vorschlag unterbreitet, die Kommunalverwaltungen sollten sich an der Lösung des Problems beteiligen und die Niederlassung von Ärzten und Pflegekräften auf dem Lande aus eigenen Mitteln fördern. Man müsse - so Bahr - die Frage aufwerfen, was den Kommunen die gesundheitliche Versorgung wert sei.
Damit ist das Problem des Ärztemangels auf dem Lande in jenem Zirkelschluss wieder dort angekommen, wo es seit Jahrzehnten mit wachsender Drehgeschwindigkeit rotiert. Nahezu alle ungelösten Probleme im Gesundheitswesen von der Prävention über die Sicherstellung, Bedarfsplanung bis zur Krankenhausfinanzierung, Qualitätssicherung und Kostenkontrolle werden nach Art eines Pingpongspiels zwischen Bund und Ländern hin und her geschlagen oder zwischen den Interessenzonen der Versicherten, der Patienten, der Krankenkassen, der Leistungserbringer und den Machtzonen der Politik in Rotation versetzt. Will heißen: Der Berg kreißt, doch eine Lösung gebiert Bewegung an sich noch lange nicht.
Seit Heiner Geißler vor etwa 40 Jahren die Kostenexplosion im Gesundheitswesen prognostiziert hat, jagt deshalb auch eine Gesundheitsreform die andere, ohne dass ein Gleichgewicht zwischen Interessen der Patienten und Leistungserbringer, zwischen Qualität und Versorgungsansprüchen einerseits und Finanzierung der Budgets andererseits hergestellt werden konnte. Auch, das muss einmal deutlich gemacht werden, weil Politiker aller Coleur - immer zunächst an der Sicherung der eigenen Macht und an den Chancen ihrer Wiederwahl orientiert - fatalerweise dazu neigen, Regelungen zu Lasten Dritter zu bevorzugen. Diese Dritten sind Leistungserbringer und natürlich die Patienten in Ländern und Kommunen, denn alle Regelungen des Sozial- und damit weitgehend Bundesrechts wirken sich bei jedem Einzelnen aus. Andererseits aber wohnt die Mehrzahl der Versicherten der großen und mächtigen Krankenkassen nun einmal nicht auf dem Lande, sondern in Ballungsgebieten. Diese bestimmen die Politik der Kassen in den Selbstverwaltungsgremien. Weil aber auch die Mehrzahl der Ärzte in den Kassenärztlichen Vereinigungen - und in den Ärztekammern - die Städte besiedeln, orientiert sich deren Standesvertretung bei Entscheidungen über Honorierung, Verteilung des Honorars und der Regelung der Notfalldienste an den Interessen der städtischen Hausärzte, aber nicht denen auf dem Land.
Eigentlich wären aber die Kassenärztlichen Vereinigungen im Zusammenwirken mit den Krankenkassen seit Jahrzehnten verpflichtet, die Versorgung der Bevölkerung auf dem Land mit Hausärzten qualitativ und quantitativ sicherzustellen. Doch leider ist es so, dass der Wettbewerbsdruck in den mit Ärzten dichter besiedelten Ballungsgebieten die Entscheidungen der Beschlussgremien in den Kassenärztlichen Vereinigungen seit jeher mit beeinflusst und die Ärzte in diesen Gremien daran gehindert hat, rechtzeitig genügend Anreize für die ärztliche Tätigkeit auf dem Lande zu entwickeln. Der Hausärztemangel auf dem Lande ist im Ergebnis eine Folge auch dieser Zusammenhänge.
Somit sind die Kassenärztlichen Vereinigungen gerade wegen ihrer Orientierung an den Interessen der Mehrheit der niedergelassenen Ärzte nicht geeignet, das Problem des Ärztemangels auf dem Lande zu lösen. Sie hatten jahrzehntelang den Sicherstellungsauftrag und die Kompetenz dazu. Und haben weitgehend versagt. Doch auch die Krankenkassen sind zur Lösung dieser Probleme nicht oder nur bedingt geeignet, weil die Mehrheit ihrer Mitglieder nicht auf dem Lande lebt.
Nun ist es aber so, dass die so genannte gemeinsame Selbstverwaltung und der Bundesausschuss der Ärzte/Krankenkassen und Krankenhausträger mehrheitlich durch Delegierte der Krankenkassenverbände und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung bestimmt werden. Als untergesetzlicher Normgeber muss sich der Bundesausschuss bei seinen Entscheidungen zwar an die Vorgaben des fünften Sozialgesetzbuches halten, was ihn aber nicht daran hindert, die Interessen der Kassen und Kassenärztlichen Vereinigungen in Ermessensentscheidungen einfließen zu lassen. Besonders berücksichtigt werden muss zudem, dass die Vertreterinnen und Vertreter der Patienten im Bundesausschuss zwar mitdiskutieren, aber nicht abstimmen dürfen.
Für die Gesundheitsreform 2011 ist es aus oben genannten Gründen wichtig, das Gewicht der Kommunen und Bundesländer bei der Bedarfsplanung zu verstärken. Dabei sollte zwar die Mitwirkung der Kassenärztlichen Vereinigungen und Ärztekammern gegeben sein. Es sollten aber ausschließlich Ärzte aus den Landregionen durch diese Gremien in Projektgruppen delegiert werden. Analoges gilt für die Vertreter der Versicherten der Krankenkassen.
Lösungsvorschläge
Doch was ist zu tun, um den Ärztemangel anzugehen? In den letzten 40 Jahren haben Appelle von Landräten, Bürgermeistern, Gemeindedirektoren und Kommunalpolitikern schließlich auch nicht verhindert, dass wir heute einen zunehmend bedrohlicher werdenden Mangel an Ärzten auf dem Lande haben. Klar ist, dass es ohne finanzielle Anreize nicht möglich sein wird, den Ärztemangel auf dem Lande wirklich zu beseitigen. Und ebenso klar ist, dass - aus oben genannten Gründen - ohne entsprechenden Druck von außen Krankenkassen und Kassenärztliche Vereinigungen sich nicht bewegen werden.
Natürlich ist es nicht zumutbar, dass die Kommunen selbst aus Haushaltsmitteln die gesamten Kosten zum Beispiel einer Hausarztpraxis finanzieren. Schließlich haben die Bürger einer Kommune ohne Arzt nach den gleichen sozialrechtlichen Regeln Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung oder im Rahmen des Versicherungsvertragsrechts zu einer privaten Krankenversicherung bezahlt wie die Bürger in anderen Kommunen mit Arzt. Schon aus diesem Grunde sollte der finanzielle Beitrag für die Anreize eines neu zu besetzenden Arztsitzes aus kommunalen Haushaltsmitteln eng begrenzt werden.
Andererseits ist nicht zu erwarten, dass der für das Sozialrecht zuständige Bund aus dem Bundeshaushalt Aufwendungen tätigen wird, die den Landarztmangel wirksam und in der erforderlichen kurzen Frist beseitigen.
Eine Lösung des Problems erscheint dennoch möglich, wenn man die für die Anwerbung von Ärzten in Landregionen oder auch in unterbesetzten Bedarfsplanungsbezirken am Stadtrand direkt oder indirekt auf sozialrechtlicher Grundlage aus dem Gesundheitsfonds finanziert.
Man kann den Kommunalverwaltungen ein direktes Zugriffsrecht auf die Mittel einräumen, die zur Finanzierung von dringend zu besetzenden Arztsitzen erforderlich sind. Und man kann darüber hinaus den Kommunen sozialrechtlich einräumen, im Rahmen der Bedarfsplanung durch Kassenärztliche Vereinigungen und Krankenkassen ein Jahr lang nicht besetzte Hausarztstellen selbst auszuschreiben und zu finanzieren.
Prinzipiell bieten sich zwei Finanzierungswege:
• Eine direkte Umlage der Kosten des dringlich zu besetzenden Arztsitzes bei den Bürgern der Kommune, wobei die Bürger diese Kosten direkt von ihrem Kassenbeitrag oder ihrer Privatversicherungsprämie abziehen dürfen. Wichtig ist, dass die Sozialklauseln die gleiche von Zahlung befreiende Wirkung haben, wie dies auch sonst bei Beitrag und Finanzierung der GKV der Fall ist. Wichtig ist aber auch, dass ein Mechanismus existiert, der unter Umgehung des Einflusses von Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen die Ausschreibung und Finanzierung von unbesetzten Arztsitzen in unterversorgten Gebieten ermöglicht, ohne dass dadurch die kommunalen Haushalte belastet werden.
• Alternativ könnte man in unterbesetzten Gebieten eine Mindestzahl von Arztsitzen durch die Kommune ausschreiben und direkt aus Umlagemitteln der Krankenkassen oder aus Mitteln des Gesundheitsfonds finanzieren. In diesem Falle müsste allerdings der Beitrag der Privatpatienten gesondert erhoben werden, was durch eine Änderung des Versicherungsvertragsrechts möglich wäre.
Die Machbarkeit dieses Konzeptes zeigt eine Modellrechnung am Beispiel einer Kommune von 6.000 Einwohnern, die einen separat liegenden Ortsteil ohne Arzt von 2.000 Einwohnern aufweist. Die übrigen 4.000 Einwohner werden durch eine Gemeinschaftspraxis mit zwei jüngeren Ärzten versorgt, die sich als überlastet bezeichnen. Ausgeschrieben wird von der Kommune folglich eine Hausarztpraxis in dem separat liegenden Ortsteil. Für diese Praxis stellt die Kommune mietfrei eine 160 m² große Praxisfläche so lange zur Verfügung, bis die Praxis selbst aus dem von ihr erarbeiteten Umsatz die Miete tragen kann. Umsatz und Gewinngrenzen werden vertraglich und/oder in der Ausschreibung bereits festgelegt. Für 1.000 Patienten einer Hausarztpraxis wird nach den Erfahrungen des Vertrages zwischen AOK Baden-Württemberg und Hausärzteverband ein Jahresumsatz von mindestens 400.000 Euro erwartet. Genaue Zahlen ergeben sich aus der sozialen Schichtung der Krankenkassen und Privatversicherungsmitglieder. Aus dem Praxisumsatz muss eine spezialisierte Arzthelferin, die die Befähigung zu Hausbesuchen aufweist, nach dem Verah-Konzept sowie wenigstens zwei weitere Praxismitarbeiterinnen mit Arzthelferinnen-Examen finanziert werden.
Legt man nun 400.000 Euro auf 2.000 Bürger um, so ergibt sich ein Durchschnittsbetrag pro Kopf von 200 Euro pro Jahr. Je nach Zahl der Sozialhilfeempfänger und Arbeitslosen und anderer vom Krankenversicherungsbeitrag befreiter Bürger fallen etwa 19 bis 30 Euro Beitrag pro Bürger und pro Monat zur Finanzierung der Arztpraxis an, der allerdings nicht als kommunale Zusatzsteuer eingezogen wird, sondern auf gesetzlicher Grundlage vom Krankenversicherungsbeitrag abgezogen werden kann, wenn er nicht direkt von den Krankenkassen oder dem Gesundheitsfonds finanziert wird.
Ob, unter welchen Bedingungen und in welchem Umfang die Kommune von ihrem Recht Gebrauch machen darf, nicht besetzte Arztsitze auszuschreiben, muss in der Bedarfsplanung geregelt werden. Das Konzept ist deshalb so zu gestalten, dass an die Stelle der bisher üblichen Topdown-Regelung, unter Berücksichtigung der Versorgungsbedürfnisse der Bürger im kommunalen Bereich selbst die Sicherstellung vollzogen wird. Bei Einhaltung der sozialrechtlichen Rahmenbedingungen geschieht dies aus Mitteln der gesetzlichen Krankenversicherung bzw. des Gesundheitsfonds ohne dass dagegen noch eine Einrede möglich wäre. Krankenkassen und Kassenärztliche Vereinigungen haben die Möglichkeit, die Regeln der Bedarfsplanung mitzugestalten und innerhalb dieser Regeln die Versorgung sicherzustellen. Ist dies nicht mehr möglich bzw. geschieht dies - aus welchen Gründen auch immer - nicht oder nicht mehr, bekommt die Kommune im Interesse der Bürger ein sozialrechtlich geborenes eigenes Handlungsrecht. Durch dieses Recht wird sichergestellt, dass die Daseinsvorsorge nicht deshalb unterbleibt, weil zentrale Planung fehlerhaft oder ineffektiv vorgenommen wurde.
Der Einfluss der Kommune soll nicht zuletzt auch deshalb gestärkt werden, damit ländliche Räume von dem bisher zu beobachtenden Fehlerkreislauf befreit werden: Weil Ärzte nicht mehr verfügbar sind, ziehen am Ende selbst die Senioren aus ihrer Heimat fort. Das Leben konzentriert sich in Ballungsgebieten, in denen Ärzte und Pflegekräfte vorhanden sind. Die Versorgung nebst allen dazugehörigen Dienstleistungen bricht auf dem Lande zusammen. Der ländliche Raum verödet noch mehr. Allein die Tatsache, dass die Kommune das Recht erhält, unter bestimmten Bedingungen auf Kosten der Sozialversicherung selbst die Ansiedlung einer Praxis zu betreiben, stützt auch die heimische Wirtschaft. Pro 400.000 Euro Praxisumsatz entstehen mindestens vier, wenn nicht mehr, Arbeitsplätze im kommunalen Bereich, die letzten Endes aus sozialrechtlich erhobenen Umlagemitteln finanziert werden und die in Ballungsgebieten aus dem dort bisweilen ruinösen Wettbewerb entnommen werden. Im Ergebnis resultiert eine Umstrukturierungsmaßnahme zu Gunsten des flachen Landes, ohne dass deshalb die Daseinsvorsorge in Ballungsgebieten verschlechtert wird.
Im zweiten Quartal 2011 ist mit dem Positionspapier zum Versorgungsgesetz zu rechnen. Die Bedarfsplanung wird ein Schwerpunkt der Diskussion sein. Diese Überlegungen sollen dazu einen Beitrag leisten.<<
von: Professor Dr. med. Klaus-Dieter Kossow*
Teil 2: Überlegungen zur Patientenorientierung innerhalb des Versorgungsgesetzes:
Das Spannungsfeld Politik vs. Patientenorientierung
Der Gesundheitspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Jens Spahn, hat im Dezember letzten Jahres 14 Vorschläge für eine Reform der medizinischen Versorgung in Deutschland vorgelegt. Das Papier beruht auf einer Klausurtagung der Arbeitsgemeinschaft Gesundheit der CDU im März 2010 im westfälischen Gronau und auf einem Papier der CSU unter Federführung von Johannes Singhammer und Max Straubinger. Damit wurde die Diskussion um die Eckpunkte der Regierungskoalition für das GKV-Versorgungsgesetz (GKV-VG) eröffnet.
>> Im Januar 2011 erschien aus der Reihe WISO-Diskurs der Friedrich-Ebert-Stiftung eine Studie unter Federführung von Prof. Gerd Glaeske mit dem Titel: „Patientenorientierung in der medizinischen Versorgung - Vorschläge zur notwendigen Weiterentwicklung und Umgestaltung unseres Gesundheitswesens.“
Beide Publikationen gehen somit davon aus,
• dass die medizinische Versorgung weiter verbessert werden muss,
• dass dabei das Angebot der Leistungen vom Bedarf des Patienten her gestaltet werden sollte
• und es werden dazu aus der sektoralen Sicht des jeweiligen politischen Lagers Vorschläge gemacht, die teils in gleiche und teils in unterschiedliche Richtungen gehen.
Das CDU-Papier geht davon aus, dass es stark von subjektiven Erwägungen abhänge, was im Gesundheitswesen als bedarfsgerecht anzusehen sei. Es geht in diesem Zusammenhang auf die regional stark unterschiedliche Ärztedichte insbesondere im hausärztlichen Versorgungsbereich ein.
Zur Lösung des Problems wird ein Abbau von Überversorgung und Fehlsteuerung sowie die Einführung einer kleinräumigeren Bedarfsplanung angesehen. Die Kooperation von niedergelassenen Ärzten und Krankenhäusern soll verbessert werden, die Struktur der medizinischen Versorgungszentren unter Stärkung des ärztlichen Einflusses weiterentwickelt werden, der Arztberuf soll durch Erleichterung der Wirtschaftlichkeitskontrolle bei der Arzneiverordnung und durch Abbau der Mengenrabatte bei der Vergütung attraktiver gemacht werden. Zur Förderung des Nachwuchses werden umfangreiche Änderungen im Studium und Weiterbildung vorgeschlagen, die unter anderem Vorteile für jene Ärztinnen und Ärzte versprechen, die sich später auf dem Land niederlassen.
Der Einfluss der Hausärzte soll in den Kassenärztlichen Vereinigungen durch ein eigenständiges Vorschlagsrecht für die Wahl eines hausärztlichen Vorstandsmitglieds gestärkt werden.
Die Wettbewerbsförderung im Gesundheitswesen durch eine eigene Rechtsgrundlage für Selektivverträge, wie sie von der Großen Koalition in der letzten Legislaturperiode eingeführt wurde, soll überprüft werden und wird in der Tendenz durch die CDU wesentlich kritischer gesehen als das zu Zeiten der Großen Koalition der Fall war.
Der im Titel des 14-Punkte-Papiers versprochene Ansatz, das System vom Bedarf des Patienten herzugestalten, findet seinen Niederschlag in der Absicht, Wartezeiten auf Facharzttermine zu verkürzen. Dies sollen die Krankenkassen und die Kassenärztliche Vereinigungen sicherstellen. Von den Krankenhäusern wird verlangt, dass „die immer noch vorhandenen 4-Bett-Zimmer für gesetzlich Krankenversicherte in Krankenhäusern der Vergangenheit angehören.“
Es soll nicht bestritten werden, dass viele Patientinnen und Patienten eine solche Entwicklung begrüßen würden. Aber sind Zieldeklamationen von Seiten der Politik an die Adresse der Leistungserbringer schon „politische Gestaltung vom Bedarf des Patienten“? Es handelt sich hier wohl eher um opportunistische Versprechungen und positive Zukunftsszenarien an die Adresse der Wählerinnen und Wähler.
Im Januar 2011 hat der gesundheitspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Prof. Dr. Karl Lauterbach, eine analoge Aktion gestartet. Er will Ärzte, die ihre Patienten über Gebühr lange auf einen Termin warten lassen, mit einem Strafgeld belegen. Dabei hat er offensichtlich übersehen, dass es in der berufsrechtlichen Aufsicht der Ärztekammern über die Ärzte solche Strafgelder längst gibt, beispielsweise dann, wenn Gutachten zu spät abgegeben werden oder wenn Verstöße gegen die Berufsordnung mit Strafgeldern belegt werden. Letzteres ist prinzipiell auch dann möglich, wenn die Wartezeiten berufsunwürdig gestaltet werden.
Politische Aktionen, die vorgeben, vom Bedarf des Patienten auszugehen, sollten letzteren zunächst definieren. Und wenn schon erkannt ist - und das ist im CDU-Papier der Fall - dass objektiv messbare Bedarfe und subjektive Bedürfnisse sorgfältig unterschieden werden müssen, dann könnte man über die politischen Konsequenzen sprechen, ohne dass es zu Missverständnissen kommt.
Die Glaeske-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung baut auf die Mitarbeit des Autors im Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen in den Jahren 2003 bis 2009 auf. Mitglieder des Sachverständigenrates waren in dieser Zeit: M. Haubitz, A. Kuhlmey, F. M. Gerlach, M. Schrappe, R. Rosenbrock und E. Wille.
Die Studie enthält selektiv eine Vielzahl von analytischem Material, welches von dem genannten Autorenkreis (der in der Studie auch zitiert wird) erarbeitet worden ist und zwar zu den demografischen Veränderungen, zu den alters- und geschlechtsspezifischen Ausgabenprofilen in der GKV, zum Versorgungsbedarf von Kindern und Jugendlichen und der Krankheitsentwicklung in diesem Altersabschnitt, zur Entwicklung der chronischen Erkrankungen, zu altersspezifischen Veränderungen und ihrem Einfluss auf die Pharmako-Therapie, zur Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln etc. Der zukünftige Versorgungsbedarf lässt sich durch Darstellung von Über-, Unter- und Fehlversorgungstatbeständen auf der Grundlage solcher Zahlenwerke ganz ohne Zweifel besser bestimmen. Aber ist dadurch bereits das Ziel einer Patientenorientierung in der medizinischen Versorgung erreicht?
Übernimmt sich die Politik?
Die Frage stellt sich, ob sich die Politik nicht sogar übernimmt, wenn sie Patientenorientierung für sich in Anspruch nimmt? Natürlich: Die Politik kann bei der Gestaltung von Gesundheitssystemen immer eine Vielzahl von Zielen ins Auge fassen. Sie kann den Zugang der Patienten zum System verbessern, für Kontinuität, Komprehensivität, Wirtschaftlichkeit, Bezahlbarkeit, Qualität und Transparenz der Versorgung die Grundlage schaffen. Sie kann Solidarität, das Subsidiaritätsprinzip, Bürger- und Patientenbeteiligung sowie Verbraucherschutz und Autonomie ins Auge fassen. Sie kann eine evidenzbasierte Medizin anstreben und den Wettbewerb fördern.
Doch Patientenorientierung hat (wie es das CDU-Papier im Übrigen zutreffend feststellt) eine starke subjektive Komponente und die ist politisch kaum beeinflussbar. Hier kann die Politik allenfalls Schutzräume für die Beziehung zwischen Pflegebefohlenen und Pflegekräften, Patienten und Ärzten etc. schaffen, in denen sich diese Beziehungen mit ihrem subjektiven Anteil entfalten können. Für die Qualität der Versorgung und für deren Effektivität und Wirtschaftlichkeit ist die Entfaltungsmöglichkeit dieser subjektiven Komponente in einer Versorgungsbeziehung allerdings ebenso wichtig, wie es anerkanntermaßen die objektiven Aspekte der evidenzbasierten Medizin sind.
Dies gilt auch für den Wettbewerb, der immer auch subjektive Komponenten hat, die in den politischen Papieren nicht hinreichend zum Ausdruck kommen, ganz gleich, aus welchem politischen Lager diese nun stammen.
Die wichtigste Wettbewerbsebene im Gesundheitswesen findet innerhalb der Krankenkassen zwischen gesunden und kranken Versicherten, den so genannten Patienten selbst statt. Etwa 80 % der Ausgaben in der GKV werden für 20 % der Versicherten im Patientenstatus getätigt. Gesunde Versicherte verhalten sich aber anders als kranke. Sie wechseln bei höherem Zusatzbeitrag die Krankenkasse, wie es die DAK gerade im Jahr 2010 erlebt hat, als sie über eine halbe Million Versicherte verlor. Allgemein gilt eben: Kranke Versicherte wollen eine optimale Versorgung, gesunde Versicherte hingegen einen möglichst günstigen Beitrag.
Interessen gibt es nicht nur bei den Leistungserbringern, sondern auch auf der Seite der Versicherten. Eine Politik, die Patientenorientierung für sich in Anspruch nimmt, muss sich mit der Mehrheit der GKV-Versicherten und damit der Wähler auseinandersetzen und dabei die Frage klären, wieviel Geld der gesunden Versicherten für eine Verbesserung der Versorgung der Kranken und damit für Patientenorientierung ausgegeben werden darf.
Es sei in diesem Zusammenhang an die Feststellung von Herder-Dorneich erinnert (Phillip Herder-Dorneich: „Die Kostenexpansion und ihre Steuerung im Gesundheitswesen“, Deutscher Ärzteverlag Köln, 1976), der bereits 1976 feststellte, dass sich Patienten und Ärzte gleichermaßen in einer „Rationalitätenfalle“ befinden. Patienten, die einen hohen Krankenversicherungsbeitrag zahlen, verhalten sich im Sinne ihrer persönlichen Ökonomie unvernünftig, wenn sie hierfür keine Leistung in Anspruch nehmen. Verhalten sie sich aber in ihrem Sinne vernünftig und nehmen sie alles an Leistungen in Anspruch, was das System hergibt, dann schädigen sie das Kollektiv. Indem sie ihre eigenen Ansprüche rational und legitim verfolgen, stellen sie aus der Sicht der Gesellschaft nicht legitime oder sogar nicht legale Ansprüche und verstoßen dadurch gegen kollektive Interessen und moralische Ansprüche.
Das ökonomische Ziel der Gesellschaft ist darauf gerichtet, mit möglichst wenig Geld möglichst viele Gesundheitsleistungen der so genannten Leistungserbringer einzukaufen. Die persönliche Ökonomie des Arztes besteht demgegenüber darin, seinen Umsatz zu mehren, weil dies eine der Voraussetzungen nicht nur für optimale betriebswirtschaftliche, sondern auch medizinische Ergebnisse einer Praxis ist. Entweder kann er dann bei konstanten Kosten den Gewinn erhöhen oder trotz steigender Kosten Geräte besser auslasten und auf diese Weise den Gewinn maximieren.
Gesucht ist für die nächste und die wahrscheinlich dann auch noch weiter folgenden Gesundheitsreformen ein ressourcenschonendes Kontrollsystem, welches nicht nur die Gewinne der industriellen Leistungserbringer und der Pharmaindustrie im Auge hat. Da geschieht schon vieles. Der Wettbewerb zwischen zahlungsverpflichteten gesunden Versicherten, versorgungsbedürftigen Kranken, zwischen machtbewussten Politikern, die dem Volk Leistungen versprechen, die dann alle Steuerzahler und Beitragszahler in der Gesellschaft erarbeiten müssen, ist hingegen bisher kaum kontrolliert. Hier sollte sowohl die Versorgungsforschung als auch die politische Diskussion ansetzen. <<
von: Professor Dr. med. Klaus-Dieter Kossow*