In der medikamentösen Therapie der Alzheimer-Erkrankung gab es in den letzten Jahren trotz zahlreicher Forschungserfolge für die Patienten (noch) keine spürbaren Fortschritte in der zugelassenen Arzneimitteltherapie. Dabei ist der Bedarf an verbesserten Therapieoptionen immens. In Deutschland leiden nach aktuellen Zahlen des Demenz-Reports 2012 vermutlich rund 1,3 Millionen Menschen an dieser Erkrankung. Nachfolgende Analysen geben Einblick in die ambulante Versorgungsrealität mit Antidementiva.
> Die zunehmende Bedeutung der Demenz für unser Gesundheitssystem ist evident. So lautet beispielsweise ein Kernsatz des aktuell erschienenen Demenz-Reports 2012 des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung: „Je fortgeschrittener das Alter, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, an Demenz zu erkranken. […] Rund ein Drittel der Menschen über 90 Jahren hat eine demenzielle Erkrankung.“ Angesichts der demografischen Entwicklung wird demnach die Anzahl dementer Patienten zukünftig noch erheblich steigen.
Für die Behandlung der Alzheimer-Demenz sind derzeit in Deutschland die Cholinesterasehemmer Donepezil, Rivastigmin und Galantamin für die leichte und mittelschwere Alzheimer-Demenz sowie der NMDA-(N-Methyl-D-Aspartat-)Antagonist Memantin für die moderate und schwere Form der Krankheit zugelassen. Der Patentschutz einiger dieser Anti-Alzheimer-Präparate lief in den letzten Monaten aus, ganz aktuell zum 31.07.2012 auch Rivastigmin (Quelle: SHARK-Patentdatenbank, INSIGHT Health).
80 Mio. DDD Antidementiva
In Deutschland wurden 2011 im ambulanten Sektor rund 1,3 Mio. Packungen Antidementiva an GKV-Versicherte verordnet. Dies entspricht rund 80,2 Mio. Tagestherapiedosen (Defined Daily Doses - DDD) mit Arzneimittelausgaben (bewertet zu Apothekenverkaufspreisen ohne Abzug von Rabatten und Zuzahlungen) in Höhe von 327 Mio. Euro. Eine Tagestherapiedosis kostete damit im Schnitt 4,08 Euro. Im Vorjahr lagen die durchschnittlichen Preise je DDD mit 4,24 Euro noch um 16 Cent höher (Quelle: regioMA, INSIGHT Health). Aufgrund des Markteintritts generischer Angebote und der einsetzenden Rabattverträge dürften die effektiven Einsparungen auf Seite der Kostenträger jedoch 2012 deutlich stärker ausfallen, wozu allerdings aufgrund der vertraulichen Rabatthöhen der Verträge nach § 130a Abs. 8 SGB V keine Quantifizierung gemacht werden kann.
43% der Patienten erhalten weniger als 183 DDD p.a.
Rein rechnerisch ergeben sich unter der Annahme einer kontinuierlichen Medikation und einer gegebenen Therapiecompliance jährliche Arzneimittelkosten von knapp 1.500 Euro je Patient. Jedoch werden viele Erkrankte nicht oder nicht kontinuierlich mit Antidementiva behandelt.
So erhalten nur wenige Patienten im Versorgungsalltag eine kontinuierliche Arzneimitteltherapie mit Antidementiva, wie eine Analyse von INSIGHT Health zeigt. Rund 43 Prozent der medikamentös therapierten Patienten erhalten weniger als 183 DDD p.a. verordnet. Die Gründe hierfür sind vielfältig, wie mangelnde Compliance der Patienten, bewusste Verschreibung geringerer Tagestherapiedosen, Therapieabbrüche aufgrund von Unverträglichkeit, Unwirksamkeit oder bei multimorbiden Patienten aufgrund der Gefahren einer Polymedikation. Ca. 21 Prozent der Patienten erhalten mindestens 365 Tagestherapiedosen p.a. (Quelle: Patienten Tracking, INSIGHT Health).
Therapieumstellungen auf neu verfügbare und vor allem rabattierte Generika verschärfen die Problematik der Compliance eventuell noch. So wird u. a. darauf hingewiesen, dass eine Substitution bei einer Antidementiva-Therapie aufgrund der spezifischen Krankheitssymptomatik eher kritisch zu bewerten ist, da einige Demenz-Patienten die Einnahme eines anders aussehenden Medikaments verweigern.
Ost-West-Gefälle
Eine aktuelle Analyse auf Basis der Datenbank regioMA gibt Auskunft zu regionalen Besonderheiten in der ambulanten Arzneimittelversorgung mit Antidementiva. Die Daten basieren auf einer Erhebung von über 99 Prozent der über Apothekenrechenzentren abgerechneten GKV-Rezepte und stellen damit ein valides Abbild der ambulanten GKV-Versorgungsrealität dar. Die Datenbank gibt zu 60 Regionen dezidiert regionale Versorgungskennziffern wieder. Die Regionen sind dabei bestmöglich an der offiziellen Struktur der Kassenärztlichen Vereinigungen (17-KV-Regionen und 63 KV-Bezirke) ausgerichtet. Die 17 KV-Regionen werden 1:1 abgebildet. Von den insgesamt 63 KV-Bezirken haben drei Bezirke weniger als 300.000 Einwohner. Diese werden aus datenschutzrechtlichen Gründen mit einem Nachbarbezirk aus der gleichen KV-Region zusammengefasst. Zudem ermöglicht die Datenbank Analysen von verordneten Tagestherapiedosen (DDD). INSIGHT Health bestimmt monatlich pro Pharmazentralnummer (PZN) die Faktoren zur Ermittlung der Tagestherapiedosen aufgrund der DDD-Definition (WHO/WIdO) in Abstimmung mit dem IGES Institut, Berlin. Die Kennziffer „DDD je Versicherten“ wird unter Zuhilfenahme der GKV-Versichertenzahlen bestimmt. Die Versichertenzahlen der 60 KV-Bezirke werden auf Basis der KM6-Statistik des Bundes sowie der Einwohnerzahlen nach DeStatis bestimmt.
Wie sich in den Analysen zeigt, werden innerhalb der GKV aktuell (Stand: Jahreswerte 2011) rund 1,1 Tagestherapiedosen Antidementiva je Versicherten abgerechnet. Vor allem in den neuen Bundesländern werden besonders viele DDD je Versicherte verordnet. Spitzenreiter ist der KV-Bezirk Dresden mit knapp 2 DDD je Versicherten. Eine Ausnahme im Osten bildet lediglich der KV-Bezirk Berlin (0,9). Im Westen ergibt sich ein umgekehrtes Bild. Hier sind mit wenigen Ausnahmen die verordneten DDD-Kennziffern eher unterdurchschnittlich. Auffällig sind hier die Regionen Marburg (1,5), Lüneburg (1,4) sowie linker Niederrhein, Unterfranken und das Saarland (je 1,3), die über dem Bundesdurchschnitt liegen. Die mit Abstand niedrigsten Werte werden in Bremen verzeichnet (0,3), gefolgt von Stade und Oldenburg (je 0,7). Überwiegend sind es die Regionen aus dem Norden, die sich durch eine besonders niedrige Verordnungsdichte auszeichnen (vgl. Abb. 1).
Bereits in den Jahren 2008 und 2009 hat INSIGHT Health Analysen zur ambulanten Versorgungssituation im Bereich der Antidementiva vorgelegt, in der sich vergleichbare regionalisierte Ergebnisse zum Ost-West-, Nord-Süd- und Stadt-Land-Gefälle auf Ebene der 17 KV-Regionen ergaben (vgl. die Beiträge im MVF 03/2008 sowie 05/2009).
Stadt-Land-Gefälle
Regionalisierte Arzneimittelverbrauchsdaten zu Antidementiva wurden auch dazu verwendet, den Zusammenhang zwischen Bevölkerungsdichte (Einwohner je Quadratkilometer; Stand: 31.12.2010) und verordneten DDD je Versicherten 2011 auf Basis der 60 KV-Bezirke zu analysieren. Die Bevölkerungsdichte diente dabei als Maß der Urbanität (Stadt vs. Land). Im Ergebnis ergab sich hier ein tendenziell negativer Zusammenhang (r=-0,22), der jedoch das Signifikanzniveau verfehlte.
Eine Studie von Bohlken, Selke und van den Bussche auf Basis der GAmSI-Daten kam 2011 zu einem ähnlichen Ergebnis: Die medikamentöse Versorgung mit Antidementiva ist in Flächenstaaten (Brandenburg und Niedersachen) intensiver als in Stadtstaaten (Hamburg und Berlin). Beide Studien widerlegen damit tendenziell die These, dass auf dem Land von einem niedrigeren Versorgungsgrad bei Patienten mit Demenz auszugehen ist.
Korrelation mit Altenquote
Als ein Prädiktor für die erhöhten Werte in den östlichen Bundesländern kann u. a. das höhere Durchschnittsalter der dort lebenden Bevölkerung resp. die Altenquote herangezogen werden. Das Alter gilt als zentrales Korrelat der Demenz (vgl. Demenz-Report 2012). Die Altenquote wird in der vorliegenden Studie operationalisiert als der Anteil der über 60-Jährigen an den GKV-Versicherten.
Bundesweit sind 28 Prozent der GKV-Versicherten älter als 60 Jahre. In den ostdeutschen Bundesländern liegt der Anteil über 60-Jähriger bereits bei 33 Prozent. Da die Demenz alterskorreliert ist, überraschen die dargestellten Ergebnisse deshalb nur zum Teil:
Auf Ebene der 60 KV-Bezirke korrelieren die Größen DDD je Versicherten und Alter (operationalisiert über den Anteil über 60-jähriger Menschen an den GKV-Versicherten) hoch signifikant (r=0,72). Abbildung 2 zeigt, dass der Anteil der Älteren an der GKV-Versichertenpopulation in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen besonders hoch ist (z. B. Bezirk Chemnitz mit 36 Prozent, Dessau 35 Prozent, Gera 34 Prozent). Dort sind auch Versorgungsschwerpunkte für Antidementiva zu verzeichnen. In Stadtstaaten und Metropolen ist dieser Anteil geringer. Gleichwohl kann das Alter alleine die regionalen Unterschiede nicht erklären. Dies haben auch Bohlken, Selke und van den Bussche 2011 konstatiert. Weitere Einflussfaktoren könnten neben der Altenquote u. a. auch Unterschiede hinsichtlich der Einstellung zur Antidementiva-Therapie zwischen den Vertragsärzten (Stadt vs. Land; Ost vs. West), Spezialisierung der Ärzte, Pharmavertrieb und Vorgaben der KVen sein.
In Mecklenburg-Vorpommern greift der Erklärungsansatz der Altenquote zu kurz. Hier sind die Versorgungskennziffern zu Antidementiva zwar stark erhöht (1,9 DDD je Versicherten), jedoch ist der Anteil der Älteren in dieser Regionen nur leicht überdurchschnittlich (31 Prozent). Allerdings ist Mecklenburg-Vorpommern ein Flächenland mit einer der niedrigsten Bevölkerungsdichten.
Fazit
Die vorgestellten Ergebnisse erlauben ein selektives Abbild der Ist-Situation der Arzneimitteltherapie mit Antidementiva. Die Versorgung von Demenzerkrankten in Deutschland ist dabei multifaktoriell bedingt. Regionale Variationen sind äußerst spannend und nicht alleinig auf Basis einzelner Faktoren zu erklären. Da die skizzierten Ergebnisse auf Basis aggregierter Verordnungsdaten bestimmt wurden, sind Implikationen für die Versorgungs-praxis zudem mit der gebotenen Vorsicht abzuleiten. So sind höhere Verordnungskennziffern keinesfalls mit einer besseren Versorgungsqualität gleichzusetzen. <<
von:
Christian Bensing / Dr. André Kleinfeld*