Aufgaben der Versorgungsforschung aus Sicht der Klinischen Ökonomik
Die Bundesärztekammer definiert die Versorgungsforschung (1) als wissenschaftliche Untersuchung der Versorgung von Einzelnen und der Bevölkerung (2) mit gesundheitsrelevanten Produkten und Dienstleistungen unter Alltagsbedingungen. Zu diesem Zweck prüft die Versorgungsforschung, wie der Zugang zur Kranken- und Gesundheitsversorgung, wie deren Qualität und Kosten und wie letztlich unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden durch die Finanzierungssysteme, durch soziale und individuelle Faktoren, durch Organisationsstrukturen und -prozesse und durch Gesundheitstechnologien beeinflusst werden (3). Die Beobachtungseinheiten umfassen Individuen, Familien, Populationen, Organisationen, Institutionen, Kommunen etc.
Neben dieser inhaltlichen Definition bietet die Bundesärztekammer eine methodische/funktionale Definition der Versorgungsforschung an, beschreibt die allgemeine Zielsetzung der Versorgungsforschung und nennt die Systematik/Komponenten (Input-Throughput-Output-Outcome) der Versorgungsforschung (1). In unserem Beitrag möchten wir diese Charakterisierung der Versorgungsforschung um fünf weitere Aufgaben erweitern: Die Unterscheidung von Versorgung und Forschung, die ökonomische Definition von Über- und Unterversorgung, die Beschreibung der für die Versorgungsforschung benötigten Daten und Methoden, die Unterscheidung zwischen ökonomisch kompletten und inkompletten Versorgungsanalysen und letztlich die formale medizinische (zusätzlich zur kaufmännischen) Bewertung von Aufwand und Ertrag einschließlich einer Methode zur Identifizierung patienten-relevanter Endpunkte.
>> Die Anforderungen an die Methoden der Versorgungsforschung lassen sich nur diskutieren, wenn Einigkeit darüber besteht, was unter Versorgungsforschung zu verstehen ist. Diese Definition ist alles andere als trivial, wie die unterschiedlichen Vorschläge zur Definition der Versorgungsforschung zeigen (1, Memoranden zur VF). Bei der Wahl einer treffenden Definition sollte berücksichtigt werden, dass mit der „Versorgungsforschung“ zwei unterschiedliche Konzepte verbunden werden: Das Konzept der Versorgung beinhaltet, dass im Idealfall Erkenntnisse, die in der Forschung gewonnen wurden, in der Versorgung angewandt werden. Das Konzept der Forschung beinhaltet, dass im Idealfall geeignete (künstliche) Bedingungen hergestellt werden, um neue Erkenntnisse gewinnen zu können.
In der Versorgungssituation besteht das Dilemma, dass die Bedingungen der Alltagsversorgung mit den künstlichen Bedingungen eines Forschungsprojekts zu kombinieren sind. In der täglichen Praxis gibt es aber kein Experiment, keine Randomisation (und folglich keine Geheimhaltung des Randomisationsplans), keine systematische Verblindung sowie keine systematische Auswertung der Ergebnisse. Das Ziel der Versorgung besteht ausschließlich in der Verhinderung (Prävention) oder der Heilung (kurativer Eingriff) oder der Linderung (palliativer Eingriff) eines definierten Gesundheitsproblems individueller Patienten. Deshalb wird jeder gewissenhaft arbeitende Arzt die Versorgung seines Patienten auf dessen individuelle Bedürfnisse abstimmen. Bereits an dieser Stelle sei betont, dass auch bei identischen klinischen Befunden und identischen Therapien bei unterschiedlichen Patienten unterschiedliche Bedürfnisse zu befriedigen sind: Der Dirigent in der Oper, der einen Ersatz des Hüftgelenks benötigt, will damit schmerzfrei in den Orchestergraben steigen können und dort mehrere Stunden schmerzfrei stehen können. Der Bergführer sollte in der Lage sein, mit seinem Hüftgelenksersatz mehrere Stunden einer Bergführung zu überstehen.
Das Ziel der Forschung ist davon klar abgrenzbar und betrifft den Erkenntnisgewinn. Um Erkenntnisse über eine spezifische Intervention in einem Experiment gewinnen zu können, muss am Ende des Experiments eine systematische Auswertung dieser Intervention möglich sein. Diese Experimente lassen sich problemlos „im Reagenzglas“ aber nicht ohne Einschränkungen im Tierstall oder im Sprechzimmer eines Arztes durchführen.
In einer Versorgungsstudie werden zum einen zwar viele einzeln gewonnene Erkenntnisse für die Versorgung der individuellen Patienten angewandt. Wenn sichergestellt wäre, dass jeder Patient tatsächlich die bestmögliche der verfügbaren Versorgungsmöglichkeiten erhält, wäre die Versorgungsforschung entbehrlich. Durch die Anwendung geeigneter Versorgungsstudien können qualitative Versorgungsmängel und eine qualitative Überversorgung in allen untersuchten Dimensionen entdeckt werden.
Überversorgung und Unterversorgung
Eine Überversorgung liegt vor, wenn in einer vergleichenden Analyse gezeigt werden kann, dass ein bestimmtes Gesundheitsproblem auch mit geringerem Aufwand als bei der gewählten Intervention bei vergleichbarer Ergebnisqualität gelöst werden kann. Solche Ergebnisse sind für Institutionen bedeutend, in welchen aufwändige Verfahren zur Lösung klinischer Probleme angewandt werden.
Ein qualitativer Versorgungsmangel liegt vor, wenn sich durch den Nachweis der Überlegenheit zeigen lässt, dass die Versorgungsqualität einer Gruppe von Patienten durch eine Änderung der gewählten Versorgungsstrategie verbessert werden kann. Dazu ein Beispiel: Bei jeder medizinischen Intervention gibt es kontinuierlich Verbesserungsmöglichkeiten. Beim erwähnten Hüftgelenksersatz betrifft das u.a. die Lockerung und den Materialabrieb (4) sowie Probleme der periartikulären Ossifikation (5). Eine sinnvolle Lösung dieser Probleme ist nur möglich, wenn die hier nicht beschriebenen aber für die Versorgung relevanten individuellen Konstellationen eines Patienten, z.B. der Allgemeinzustand oder eine Stoffwechselstörung ebenfalls berücksichtigt werden. Die Mehrzahl der Nicht-Experten wird aber nicht beurteilen können, ob im Fall des Hüftgelenksersatzes ein Diabetes mellitus nur als confounder oder als Risikofaktor zu berücksichtigen ist (6). Dieses scheinbar unbedeutende Detail soll daran erinnern, dass theoretische Überlegungen alleine ohne die Erfahrung aus dem Praxisalltag sicher nicht ausreichen, um eine Versorgungsstrategie festzulegen. Neuere Methoden, mit welchen die unter Alltagbedingungen erzielten Ergebnisse abgebildet und systematisch ausgewertet werden können (Pragmatic Controlled Trial - PCT), sind auf ihre Praxistauglichkeit hin zu prüfen.
Diese Beispiele illustrieren aber auch die Komplexität der Entscheidungen, die zu treffen sind. Die Vorstellung, dass die Versorgungsprobleme alleine durch Randomisierte Studien gelöst werden können, lässt sich mit den Erkenntnissen der letzten 20 Jahre nicht mehr vereinbaren. Die Randomisation ist ein hervorragendes Instrument zur Lösung des Problems, für das sie entwickelt wurde. Wenn man die Anfänge der Randomisation von Ronald Fisher in den 1920ern sorgfältig liest, wird auffallen, dass diese Methode für die Zuordnung von Getreide-Anbauflächen entwickelt wurde. Bradford-Hill, der diese Methode auf die klinische Forschung übertragen hat, hatte damals keine Hinweise, dass bestehende Präferenzen bei Ärzten und Patienten die Ergebnisse randomisierter Studien beeinflussen können. Diese Hinweise liegen aber heute vor und sollten nicht ignoriert werden: Das Experiment an Studenten (7) sowie die klinischen Studien an Patienten mit Nierenzellkarzinom (8) und mit Dickdarmkarzinom (9) zeigen, dass eine signifikante Schmerzreduktion (7) oder auch eine signifikante Verlängerung des Überlebens (8,9) nachweisbar ist, wenn die Testpersonen bzw. die Patienten nur von der Wirkung der angewandten Intervention überzeugt waren. Im Experiment von Rebekka Waber wurden ausschließlich Placebos verabreicht, niemand hatte ein Schmerzmittel bekommen. In den Experimenten zum Nierenzellkarzinom und zum Dickdarmkarzinom zeigte sich Jahre später, dass die damals geprüften Arzneimittel letztlich keine überzeugende Wirksamkeit aufwiesen und in diesen Indikationen ihre Bedeutung verloren haben.
Anforderungen an die Daten und Methoden zur Versorgungsforschung
Wissenschaftliche oder politische Diskussion
Die Definition der Bundesärztekammer spricht im Bereich der Versorgungsforschung von einer wissenschaftlichen Untersuchung. Wir leiten daraus die Forderung ab, dass die in unserer Diskussion verwendeten Bausteine (Argumente) und Methoden (Verfahren) wissenschaftlichen, aber nicht politischen Kriterien genügen sollten.
Alltags- oder idealisierte Bedingungen
Ein zweiter bedeutender Aspekt betrifft die Bedingungen, unter welchen Versorgungsforschung stattfinden soll. Dieser Aspekt verdient Beachtung, weil von einigen Behörden, welche die Normen der Gesundheitsversorgung in Deutschland prägen, bisher keine klare Trennung zwischen Alltagsbedingungen und idealisierten Forschungsbedingungen getroffen wird. Wir vertreten den Standpunkt, dass Alltagbedingungen durch die Berücksichtigung individueller Wertvorstellungen geprägt sind, die z.B. in einem Arzt-Patienten-Gespräch entwickelt wurden. Die Wertvorstellungen beruhen auf Informationen und werden bei uns durch vielfältigste Informationsquellen in einer nicht kontrollierbaren Art und Weise ständig geprägt und verändert. Die so geprägten Wertvorstellungen äußern sich in Form von Präferenzen.
Wenn eine möglichst objektive Bewertung eines Sachverhalts abgegeben werden soll, sind individuelle Wertvorstellungen von Bürgern, Patienten, Ärzten und juristischen Personen wenig hilfreich, aber unvermeidbar. Diese Bewertungen sind notwendig, wenn grundsätzliche Entscheidungen zu treffen sind, z.B. die Zulassung eines neuen Wirkstoffs als Arzneimittel. Man würde für die Zulassung fordern, dass ein objektiver Nachweis der Wirkung (efficacy) erbracht ist. Das bedeutet, dass die durch Wertvorstellungen geprägten individuellen Präferenzen zu einem Konsens zusammenzuführen sind. Mit der Anwendung der klassischen Lebensqualitätsforschung wird das Verfahren extrem aufwändig und letztlich möglicherweise nicht präziser, weil die subjektive Bewertung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität selbst durch die individuellen Wertvorstellungen beeinflusst wird (10). Diese Wertvorstellungen sind nicht nur abhängig vom Alter und Gesundheitszustand sondern auch von aktuellen Situationen, z.B. Mittelungen über gravierende lebensverändernde Umstände, besonders wenn sie das Sicherheitsempfinden betreffen (11). Aus diesem Grund propagieren wir nicht die Verwendung von Instrumenten zur standardisierten Erfassung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität, sondern die Beschreibung der vom Patienten subjektiv empfundenen Probleme, deren Lösung er vom Gesundheitssystem erwartet.
Wenn weitere methodische Kriterien beleuchtet werden, gehören die Geheimhaltung eines Randomisationsplans (concealment), die Randomisation und die Verblindung zu den Werkzeugen, um idealisierte Bedingungen herzustellen, haben aber keinen Platz in Projekten, in welchen die Qualität der Versorgung unter Alltagsbedingungen beschrieben oder vergleichend geprüft werden soll. Präferenzen können innerhalb einer Studie aus methodischen Gründen nicht mit den Prinzipien der Randomisation und Verblindung kombiniert werden, weil durch eine Randomisation die Strukturgleichheit hergestellt werden soll, die für den Vergleich zweier Gruppen notwendig ist. Durch die Berücksichtigung der Präferenz wird aber ein für das Ergebnis der Studie bedeutendes Strukturmerkmal gerade nicht gleichmäßig auf die zu vergleichenden Gruppen verteilt, sondern als Kriterium für die Unterscheidung der Gruppen verwendet (12, 13).
Daraus lässt sich ableiten, dass Werkzeuge wie die Randomisation und Verblindung, die für die Herstellung idealisierter Testbedingungen absolut geeignet sind, auf ideale Testbedingungen zu begrenzen sind. Diese Werkzeuge können nicht für Messungen verwendet werden, die unter Alltagsbedingungen stattfinden sollen, weil die Randomisation mit der Berücksichtigung von Präferenzen nicht kombinierbar ist und Präferenzen in Versorgungstudien unter Alltagsbedingungen ein bedeutendes Auswahlkriterium darstellen, das zu berücksichtigen ist.
Für die vergleichende Beschreibung der Versorgungsergebnisse unter Alltagsbedingungen eignen sich sogenannte Pragmatic Controlled Trials (PCTs) in welchen nicht nur jene Probanden eingeschlossen werden, die eine der geprüften Interventionen erhalten, sondern alle Probanden einer definierten Grundgesamtheit (14). Diese Regel ist erforderlich, um einen sampling bias (15) zu vermeiden. Der selection bias (16) wird vermieden, indem jeder Proband, der in die Studie eingeht, unabhängig von der präferierten Intervention einer Hoch- oder Niedrig-Risikogruppe (oder einer intermediären Risikogruppe falls die Kriterien für keine der beiden Risikogruppen erfüllt werden) zugeordnet wird. Die Kriterien zur Definition der Risikogruppen sind vor Beginn der Studie festzulegen. Sie orientieren sich an konkreten, unerwünschten Ereignissen, die durch die Interventionen vermieden werden sollen. Da in einer Versorgungsstudie nahezu alle Outcomes z.B. das Überleben, die Compliance, die Kosten oder die Präferenzen gemessen und zwischen verschiedenen Gruppen verglichen werden können, sofern die Einschränkungen des multiplen Testens berücksichtigt sind, sind die Risikogruppen für jedes einzelne Zielkriterium getrennt zu benennen. Die Notwendigkeit, für jedes einzelne Zielkriterium eigene Risikofaktoren zu definieren, wird klar, wenn man sich Beispiele vor Augen hält: Das Risiko zu überleben wird von anderen Faktoren abhängen als das Risiko die Compliance nicht einzuhalten.
Da diese Messungen von einer Vielzahl systematischer Fehlern beeinflusst werden können, die vom Ziel der Messung und von den jeweils gewählten Messbedingungen abhängen, lässt sich die ideale Messmethode nur bei Kenntnis der Fragestellung und der Rahmenbedingungen benennen. Die Fehler, die im Rahmen einer Studie begangen werden, sind in der Regel umso gravierender, je früher sie sich im zeitlichen Ablauf einer Studie einschleichen. Deshalb besteht das größte Risiko, welches bei der Durchführung einer Studie eingegangen werden kann, in der Akzeptanz einer unpräzisen Fragestellung. Wenn die Fragestellung präzise ist, lassen sich die methodischen Anforderungen und die Erfordernisse zur lege artis Durchführung einer Studie leicht ableiten. Eine unangemessene Interpretation der Ergebnisse und inadäquate Schlussfolgerungen lassen sich vermeiden, wenn tatsächlich alle erhobenen Befunde berichtet und nur innerhalb des Rahmens diskutiert werden, der durch die Wahl der Studienpopulation definiert wurde.
Komplette oder inkomplette Versorgungsstudien
Die Gesundheitsversorgung wird mit dem Ziel durchgeführt, ein bestehendes Gesundheitsrisiko durch eine gezielte Versorgungsmaßnahme stärker als durch keine oder eine andere, bereits bestehende Versorgungsmaßnahmen zu reduzieren. Da neue Versorgungsmaßnahmen in der Regel mehr Ressourcen binden, als die bereits verfügbaren Versorgungsmöglichkeiten, sind bei einem Vergleich zweier Maßnahmen immer beide Seiten, die Kosten und die Konsequenzen zu berücksichtigen. Die Kosten beschreiben die monetären und nicht-monetären Belastungen, die in Kauf zu nehmen sind, um eine Maßnahme zu erhalten. Die Konsequenzen benennen die monetären und nicht-monetären Gewinne, die durch Einführung der erwünschten Maßnahme erzielt werden. Deshalb muss eine komplette Versorgungstudie drei Komponenten enthalten, die Benennung der Kosten, die Benennung der Konsequenzen und die Benennung der alternativen Handlungsmöglichkeiten.
Andere Studien, welche lediglich einen Teilaspekt der Versorgung beschreiben, sollten demnach als inkomplette Versorgungsstudien bezeichnet werden. Studien, welche zum Beispiel den Zugang zum Gesundheitssystem beschreiben, sind bedeutend, weil ohne Zugang zur Gesundheitsversorgung alle nachfolgenden Überlegungen obsolet werden. Dennoch wäre eine Studie, die nur den Zugang zum System ohne die daraus entstehenden Kosten und Konsequenzen beschreibt, als inkomplette Versorgungsstudie zu klassifizieren, weil ohne konkrete Beschreibung der Konsequenzen stillschweigend angenommen wird, dass die mit dem Zugang verbundenen erwünschten Effekte „zu akzeptablen Kosten“ zu bekommen sind. Europäer akzeptieren häufiger als der Durchschnitt der US-Amerikaner die solidarische Gesundheitsversorgung. Sie benennen aber auch nicht konkret, ob die entstehende zusätzliche Belastung des Systems, die durch die Erweiterung des Solidarprinzips entsteht, durch Beitragserhöhungen oder durch Leistungseingrenzungen kompensiert werden soll. Es wird eine unserer zukünftigen Aufgaben sein, das Bewusstsein für die Notwendigkeit kompletter ökonomischer Analysen zu wecken. Jedem Bürger sollte klar sein, dass jede Form einer verbesserten Gesundheitsversorgung ebenso wie jede Verbesserung in jedem anderen Lebensbereich, sei es die Bildung, die Landesverteidigung oder die Freizeitgestaltung mit einer Erhöhung der in Kauf zu nehmenden Kosten einhergeht. Wenn diese Erhöhung der Kosten in einem dieser Lebensbereiche schneller ansteigt als die Entwicklung der Gesamtwirtschaft (stellvertretend wird dafür häufig das Bruttoinlandsprodukt, BIP, verwendet), bedeutet das, dass dieser Lebensbereich einen höheren Anteil aller verfügbaren Ressourcen als bisher für sich in Anspruch nimmt. Die unvermeidbare Konsequenz ist, dass in diesem Fall für alle anderen Lebensbereiche künftig weniger Ressourcen zur Verfügung stehen werden. Dieses Beispiel zeigt, dass die Konsequenzen eines Kostenanstiegs nur interpretierbar sind, wenn der Bezugspunkt genannt ist. Aus diesem Grund sollten in der Versorgungsforschung künftig komplette und inkomplette Versorgungsstudien unterschieden werden.
Notwendige Änderungen zur Erfüllung
gesetzlicher Vorgaben
Nicht nur die finanzielle sondern auch die medizinische Bewertung von Aufwand und Ertrag
Die sorgfältige Analyse der Forderungen des Gesetzgebers verdeutlicht ein mögliches Defizit in unserem Versorgungssystem: Vermutlich ist eine Profession alleine überfordert, auf der finanziellen Seite und auf der gesundheitlichen Seite jeweils Aufwand und Ertrag gegeneinander abzuwägen. Ohne praktische Erfahrung im Vertrags- und Versorgungsmanagement sind die komplexen Aufgaben nicht lösbar. Erfolgreich arbeitende Dienstleistungsbetriebe im Gesundheitssystem erkennen die Notwendigkeit einer reibungslosen Kooperation zwischen allen Abteilungen, die kooperieren müssen, um die ganzheitliche Versorgung der Patienten zu gewährleisten. Ganzheitlich wird hier in dem Sinne verstanden, dass nicht nur eine medizin-technische Methode, z.B. die Durchführung eines Testes oder einer Behandlung angeboten wird, sondern auch Begleiterkrankungen und Komplikationen im üblichen Umfang angemessen versorgt werden können. Im Interesse der Transparenz einer Versorgungsleistung sollte ein Dienstleistungsunternehmen, dessen Angebot von einem Patienten zur Lösung seines Gesundheitsproblems in Anspruch genommen wird, auch die Rechnungsstellung und Haftung für die erbrachte Gesamtleistung übernehmen. Andernfalls wird aus externer Sicht eine ökonomische Bewertung unmöglich, weil lediglich aus der Innensicht ein unmissverständlicher Abgleich zwischen erteiltem Teilauftrag und erzieltem Teilergebnis möglich ist. Für den Patienten ist eine Bewertung der erbrachten Leistungen ohne Kenntnis der medizinischen und der wirtschaftlichen Zusammenhänge nahezu unmöglich. Deshalb ist eine Lösung fair, bei welcher sowohl die Handlung wie auch die Haftung vom dem gemeinschaftlich auftretenden Dienstleistungsunternehmen angeboten bzw. übernommen wird.
Zu den Abteilungen, die eine ganzheitliche Versorgung im oben genannten Sinn anbieten, sind jene zu rechnen, die gegenüber dem Patienten die Gesamthaftung des Dienstleistungsunternehmens für eine Leistungsperiode übernehmen können. Die Übernahme der Haftung setzt voraus, dass der Nutzen eines medizinischen Dienstleistungsunternehmens als Teamwork verstanden wird. Selbst der beste Diagnostiker oder Operateur wird erfolglos bleiben, wenn das schwächste Glied in der Versorgungskette versagt und das Verfehlen des Versorgungsziels verursacht. Innerhalb des Unternehmens sollten sich alle Bereiche als Dienstleister, nicht als Aufsichtsführende empfinden, weil letztlich im Interesse des gemeinsamen Erfolges des Gesamtunternehmens die optimale Lösung der Gesundheitsprobleme individueller Patienten mit dem geringstmöglichen Aufwand zu erzielen ist. Dieses gemeinsame Ziel wird kaum zu erreichen sein, wenn jede Abteilung ihre eigenen gewinnorientierten Ziele verfolgt. Die aus diesen Überlegungen resultierende Struktur der Gesundheitsversorgung ist in Abb. 1 dargestellt.
Wahl der patientenrelevanten Endpunkte
Die Risiken, die mit der Versorgungsforschung zweifellos einhergehen, wurden kürzlich beschrieben (17, 18). Diese können vermieden werden, wenn klare Vorstellungen über die unterschiedlichen Ziele von Versorgung und Forschung bestehen, wenn zusätzlich drei unscharfe Definitionen vermieden werden (die Definition des Ziels, des Ergebnisses und des Ausgangsrisikos) und wenn systematische Fehler vermieden werden, die als Risiken bei allen Maßnahmen der Gesundheitsversorgung (Primäre Prävention, Sekundäre Prävention einschließlich Screening, Diagnostik und Therapie und Tertiäre Prävention einschließlich Diagnostik und Prävention) bekannt sein sollten. Unter Quartärer Prävention wird die Vermeidung der Überversorgung subsumiert. Diese Klassifikation berücksichtigt nicht, dass eine Über- oder Unterversorgung bei allen anderen Formen der Prävention auftreten kann. Deshalb haben wir die ökonomische Definition der Über- und Unterversorgung als übergeordneten Aspekt zu Beginn unserer Überlegungen diskutiert.
Das Ergebnis der ökonomischen Analyse wird ganz wesentlich von den Wertvorstellungen abhängen, die dieser Analyse zugrunde gelegt werden. Wenn Einigkeit darüber besteht, dass die Gesundheitsversorgung primär mit dem Ziel angeboten wird, die Gesundheitsprobleme individueller Mitglieder einer Gesellschaft - nicht aber primär ein gesellschaftliches Problem - zu lösen, sind primär die Wertvorstellungen individueller Mitglieder der Gesellschaft zu respektieren. Die Entscheidung, wessen Urteil gelten soll, das Urteil des Individuums oder das der Gesellschaft, ist für alle weiteren Schritte der Versorgungsforschung essentiell. Wenn dem Urteil des Individuums Priorität zuerkannt wird, sind theoretische Überlegungen zu den Präferenzen der Patienten nicht hinreichend verlässlich. Unter dieser Prämisse ist es sinnvoller, im Versorgungsalltag die in Tabelle 1 skizzierte Information durch den Arzt und den Patienten zu dokumentieren. Patienten und Health Care Professionals (HCP) sind deshalb wahrscheinlich die am besten geeigneten Gruppen, um patientenrelevante Endpunkte zu definieren. Diese Endpunkte sollten die vom Patienten erwarteten Lösungen der Gesundheitsprobleme abbilden. Die Lösungen betreffen jene Probleme, mit welchen sich die Patienten an die HCP gewandt haben. Dazu ist praktische Erfahrung notwendig. Experten, die keine konkrete Erfahrung haben, welche Detail-Probleme im Versorgungsalltag zu lösen sind, werden möglicherweise nur die theoretisch, aber nicht die praktisch bedeutsamen Versorgungsendpunkte benennen können. Da wir wissen, dass auch die Sichtweise von Ärzten nicht notwendigerweise mit der Sichtweise von Patienten übereinstimmt (19, 20), könnte überlegt werden, jedem Patienten, der eine solidarisch finanzierte Gesundheitsleistung in Anspruch nimmt, per Gesetz die Möglichkeit einzuräumen, die Wahl patientenrelevanter Endpunkte mitzugestalten.
Um dieses Wahlrecht in die Praxis umzusetzen, könnte gesetzlich festgelegt werden, dass jeder Erbringer einer ganzheitlichen (im oben genannten Sinn) Gesundheitsleitung die in Tabelle 1 skizzierte, einfache Dokumentation erstellt. Diese Dokumentation wird vom System kostendeckend vergütet, weil sie nicht nur als Grundlage für die Selektion patientenrelevanter Endpunkte dient, sondern auch durch die Anwendung multivariater Auswertungsverfahren eine vergleichende Bewertung des Nutzens von Gesundheitsleistung ermöglicht. Ohne die Mithilfe der Patienten sind diese Auswertungen nicht machbar. Sie setzen allerdings voraus, dass zumindest eine Gruppe interessierter Kollegen oder eine Fachgesellschaft die wenigen Kriterien festlegt, die für die Risikoklassifikation der Patienten für jedes einzelne Behandlungsziel erforderlich sind und die sinnvollen Intervalle definiert, die zwischen der Beschreibung der erwarteten und der erreichten Ziele liegen sollen. Bei Behandlung einer Migräne wird dieses Intervall kürzer sein als bei Behandlung chronischer Rückenschmerzen.
Schlussfolgerungen
Es wäre zu begrüßen, wenn die in fünf Teilen angesprochenen Aufgaben der Versorgungsforschung einer kritischen Analyse unterzogen werden. Diese fünf Aufgaben betreffen den Unterschied zwischen Versorgung und Forschung, die ökonomische Definition der Über- und Unterversorgung, die Anforderungen an die Daten und Methoden zur Versorgungsforschung, die Unterschiede zwischen ökonomisch kompletten und inkompletten Versorgungsanalysen und die notwendigen Änderungen zur Erfüllung gesetzlicher Vorgaben. Für künftige Entscheidungen sind experimentelle Studien notwendig, in welchen die Praxistauglichkeit dieser Empfehlungen geprüft wird.
Falls unterschiedliche Auffassungen verschiedener Institutionen vertreten werden, orientieren wir uns an der rechtlichen Verbindlichkeit.
Jedes Gesundheitssystem wird krank, wenn seine Akteure die primären und sekundären Ziele vertauschen. Das primäre Ziel des Arztes ist die Erhaltung oder Wiederherstellung von Gesundheit. Das primäre Ziel eines Industrieunternehmens ist die Entwicklung und Vermarktung seiner Produkte. Die Versorgungsforschung könnte durch die Thematisierung dieser Annahmen einen wertvollen Beitrag leisten. <<