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Chancen einer erweiterten Eigenverantwortung von Bürgern, Versicherten und Patienten im Gesundheitswesen

Autonomie und Selbstbestimmung des Bürgers sind tragende Elemente unseres freiheitlichen Staatswesens. Wir gehen davon aus, dass das Leben in eigener Verantwortung gemeistert werden kann und individuelle Zielsetzungen gefunden werden, die dabei leitend sind. Die Verwirklichung entsprechender Lebenschancen bedarf schützender Rahmenbestimmungen seitens Staat und Gesellschaft, die sich vor allem in den sozialen Sicherungssys-

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Erstveröffentlichungsdatum: 02.10.2012

Abstrakt: Chancen einer erweiterten Eigenverantwortung von Bürgern, Versicherten und Patienten im Gesundheitswesen

Die Epidemiologie alternder westlicher Gesellschaften einschließlich der vorzeitigen Sterblichkeit ist vorrangig geprägt durch chronische Erkrankungen, die auf verhaltensbedingte Risikofaktoren zurückgehen. Damit wird Gesundheit in großem Umfang zu einer durch Verhaltensentscheidungen des Individuums und damit in seiner Verfügbarkeit stehenden Lebensbasis. Eine nähere Beleuchtung des Gesundheitsverhaltens zeigt, dass Versicherte und Patienten durchaus in eigener Verantwortung handeln, indem sie den Nutzen einer medizinischen Maßnahme aus ihren individuellen Lebenskontexten heraus nach eigenem Ermessen werten, was vielfach zum Abweichen von ärztlichen Empfehlungen führt. Diese Voraussetzungen scheinen geeignet, über eine anteilige Mitverantwortung des Versicherten und Bürgers für die Absicherung gesundheitlicher Risiken nachzudenken. Daraus könnten Vorteile für die (kommunikative) Qualität der Versorgung, das Versorgungssystem und die Gesellschaft erwachsen.

Abstract: The potential of more responsibility taken by patients and citizens for their health

The epidemiology of morbidity in modern aging societies has changed from the predominance of fatal incurable diseases to chronic conditions and reduced quality of life, strongly influenced by risk factors of the individual behaviour. This means that to a high degree health has no longer the feature of an unforeseen destiny but rather of a basis of life that can directly be created and influenced by the individual. In fact, people react to their own responsibility by showing little compliance and adherence to doctors‘ advice using their own expectations and beliefs according to their personal life-conditions. These facts lead to the consideration to transfer more responsibility for the own health to the patients themselves. This will probably lead to advantages for the doctor-patient-relationship, the effectiveness of the health care system and society as a whole.

Literatur

Arnold, M. (1997): Die Gesundheitsversorgung zwischen Utopie und zunehmendem Kostendruck. Berliner Medizinethische Schriften, Heft 16 S 9 Dortmund Humanitas Verlag Baier, H. (1978): Medizin im Sozialstaat. Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag, S. 71 Beske, F. (2010): Anspruch, Anspruchsverhalten und Realitätsbezug in der GKV. Arzt und Krankenhaus 6/2010: 178-179 Beske, F. (2011): Rationalisierung, Rationierung und Priorisierung. Arzt und Krankenhaus 1/2011: 18-19 Böken, J., Braun, B., Schnee, M. (2002): Gesundheitsmonitor 2002. Die ambulante Versorgung aus Sicht der Bevölkerung und der Ärzteschaft. Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung, S. 130 ff Di Blasi, Z., Harkness,E., Ernst, E., Georgiou, A., Kleijnen, J. (2001): Influence of context effects on health outcomes: a systematic review. The Lancet.357: 757-762 Faltermaier, T., Kühnlein, I., Burda-Viering, M. (2008): Subjektive Gesundheitstheorien: Inhalt, Dynamik und ihre Bedeutung für das Gesundheitshandeln im Alltag. Journal of Public Health, Vol.6, No 4: 309-326 Geisler, L.S.(1997): Sprachlose Medizin? Das Verschwinden des Dialogischen, In: Imago Hominis, Wie 1997, Band IV/Nr. 1, S. 47-55 Griffin, SJ, Kinmonth, AL, Veltman, MW, Gillard, S., Grant, J., Stewart, M. (2004): Effect on health-related outcomes of interventions to alter the interaction between patients and practitioners: a systematic review of trials. Annals of Family Medicine. 2: 595-608 Haefeli, W. (2010): Pharmakotherapie, Therapie-Monitoring, Probleme der Compliance (Adherence) und Non-Compliance. Springer-Lehrbuch: 21-28 Keating, N.L., Gandhi, T.K.,Orav, E.J., Bates, D.W., Ajanian, J.Z. (2004): Patient characteristics and experiences associated with trust in specialist physicians. Archives of internal medicine. 164: 1015-1020 Marstedt, G., Moebus, S. (2002): In: Robert Koch-Institut (Hrsg.) Gesundheitsberichterstattung des Bundes Heft 9 Inanspruchnahme alternativer Methoden in der Medizin. Berlin: Verlag Robert Koch-Institut S. 22 Papst Leo XIII (1891): Enzyklika: Rerum Novarum Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, Jahresgutachten 2000/2001 Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit, Addendum: Zur Steigerung von Effizienz und Effektivität der Arzneimittelversorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) TK - Techniker-Krankenkasse (2011): Prognose zum Anstieg von Zivilisationskrankheiten bis 2030 und 2050 gegenüber 2007. Fritz-Beske-Institut für Gesundheits-System-Forschung Kiel http://de.statista.com/statistik/daten/studie/153966 Wurm, S. (2004): Expertise für den Fünften Bericht der Bundesregierung zur Lage der älteren Generation. Deutsches Zentrum für Altersfragen (Hrsg.) Fünfter Bericht der Bundesregierung zur Lage der älteren Generation. Berlin, S. 25 ff.

Zusätzliches

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Chancen einer erweiterten Eigenverantwortung von Bürgern, Versicherten und Patienten im Gesundheitswesen

Autonomie und Selbstbestimmung des Bürgers sind tragende Elemente unseres freiheitlichen Staatswesens. Wir gehen davon aus, dass das Leben in eigener Verantwortung gemeistert werden kann und individuelle Zielsetzungen gefunden werden, die dabei leitend sind. Die Verwirklichung entsprechender Lebenschancen bedarf schützender Rahmenbestimmungen seitens Staat und Gesellschaft, die sich vor allem in den sozialen Sicherungssystemen entfalten. Unter der Leitvorstellung einer möglichst weitreichenden Chancengleichheit sollen die Voraussetzungen für das Bestehen der Anforderungen, die das Leben stellt, möglichst gleich sein, wobei schicksalsbedingte Gegebenheiten wie soziale oder krankheitsbedingte Einschränkungen oder Behinderungen soweit möglich zu kompensieren sind, dass sie nicht zu Benachteiligungen hinsichtlich der Teilhabe am Erwerbsleben und der sozialen Lebensentfaltung führen (vgl. z. B. SGB IX, § 4, Abs. 3 und 4).

>> In Verbindung mit den großen Sozialbewegungen des vergangenen Jahrhunderts und dem christlichen Gedankengut (Papst Leo XIII. 1891), zudem der Nächstenliebe und -hilfe, sind hier die Wurzeln des europäischen Sozial- und Wohlfahrtsstaates zu sehen, der unsere Gesellschaften zutiefst geprägt hat, und zu ihrem kostbarsten Bestand gehört. Ein kritischer Blick zeigt allerdings, dass es nicht möglich ist, soziale Ungleichheit oder Ungerechtigkeit durch medizinische Dienste zu beeinflussen (Arnold 1997). Sehr modern mutet hierzu die Forderung von Horst Baier an, der bereits 1978 formulierte, dass „… es heute wieder darum (geht), … bei maßvollen Korrekturen … dem Einzelnen persönliche Freiheit und Selbstbestimmung auch dort zu ermöglichen, wo er unter der Betroffenheit von Krankheit und Leiden steht.“ Im Weiteren gilt es, „… den Widerspruch aufzubrechen der darin liegt, dass uns die Verfassung als Staatsbürger ein Höchstmaß an Autonomie einräumt, dass uns die … Wirklichkeit aber als „Sozialbürger“ nur in Gestalt subventionierter und reglementierter Untertanen kennt“ (Baier 1978).
Das Ringen um die Gestaltung, insbesondere die Finanzierbarkeit unseres Gesundheitswesens, ist auch heute von Fragen dieser Art nicht zu trennen.
Der Begriff der Eigenverantwortung bleibt im Gesundheitswesen relativ unscharf definiert und wird meistens im Sinne einer Kostenbeteiligung des Versicherten gebraucht. Eine Ausgestaltung des Konstrukts zu einem klar umrissenen Gefüge, z. B. von Leistungen, Ansprüchen, Pflichten und Zuständigkeiten, fehlt bisher.
In den folgenden Ausführungen soll Eigenverantwortung im Gesundheitswesen als Bereitschaft verstanden werden, Verantwortung für die eigene Gesundheit und – in Grenzen – auch deren Absicherung zu übernehmen.
Welche Anforderungen würde eine erweiterte Eigenverantwortung gegenüber Krankheit an Bürger und Versicherte stellen? Sie setzte voraus, über ein kritisches Abschätzungsvermögen zu verfügen, hinsichtlich des individuellen Wertes, der Gesundheit zugebilligt wird, sowie der Möglichkeiten, Krankheiten zu verhindern und im Einzelfall zu entscheiden, ob bestimmte medizinische Interventionen den eigenen Präferenzen entsprechen oder nicht. Der Blick in unser System zeigt, dass hierfür alle Voraussetzungen gegeben sind: Die einfachen Formeln gesunder Lebensführung (Rauchen, Gewicht, Bewegung) sind jedermann unmittelbar zugänglich, eine partizipative Entscheidungsbildung im Behandlungsfall gehört heute zum Versorgungsstandard.
Im Folgenden soll der These nachgegangen werden, dass sich sowohl für Versicherte und Patienten, als auch für das Gesundheitssystem unausgeschöpfte Chancen ergeben, wenn mehr Verantwortung für die eigene Gesundheit und deren Absicherung auf den Bürger, Versicherten und Patienten selbst übertragen wird.
Wenn mehr Eigenverantwortung im Gesundheitswesen als Chance gesehen werden soll, müsste sie auf mehreren Ebenen einen Fortschritt bedeuten, d.h. sowohl für Versicherte und Patienten, als auch für das Gesundheitssystem, und schließlich für die Gesellschaft von Nutzen sein.
Welche Gegebenheiten rechtfertigen die Frage nach einer verstärkten Eigenverantwortlichkeit?
Im SGB V § 1 findet sich unter dem Thema Solidarität und Eigenverantwortung die folgende grundlegende Aussage, die man als eine Art Versprechen auf Gegenseitigkeit auslegen kann: „Die Krankenversicherung als Solidargemeinschaft hat die Aufgabe, die Gesundheit der Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen oder ihren Gesundheitszustand zu verbessern. Die Versicherten sind für ihre Gesundheit mit verantwortlich, (gefordert werden) … gesundheitsbewusste Lebensführung … aktive Mitwirkung … um den Eintritt von Krankheit und Behinderung zu vermeiden.“ Während sich die Aufmerksamkeit im Allgemeinen wesentlich auf die Leistungen der Krankenversicherung und der Solidargemeinschaft richtet, wird den Anforderungen, die, gleichsam im Gegenzug, an den Versicherten zu stellen sind, keine angemessene Beachtung geschenkt. Es finden sich kaum Auslegungen der ihm erwachsenden Mitverantwortung. Folglich fehlt bereits ein allgemein appellativer Umgang hiermit (Beske, 2010). Erst recht fehlt ein systematisches Einfordern entsprechender Leistungen.
Derzeit kann Eigenverantwortung von Versicherten und Patienten, wie in Tabelle 1 dargestellt, auf verschiedenen Ebenen des Gesundheitssystems ausgeübt werden. Auf der Micro-Ebene wird mit dem Verhalten in der vormedizinischen Phase, d.h. z.B. hinsichtlich eigener Behandlungen, Zeitpunkt und Wahl der ersten Versorgung, ferner bezüglich der Inanspruchnahme (Hausarzt/Fachspezialist, Häufigkeit, Praxisbindung), ein erheblicher Einfluss auf das Versorgungssystem ausgeübt. Bei der Behandlung gilt der Grundsatz, dass gemeinsam zwischen Arzt und beratenem Patient ein einvernehmlich abgestimmter Verfahrensweg hinsichtlich geplanter Maßnahmen entwickelt wird (shared decision, informed consent). Für das Versorgungsergebnis kommt dem Umfang der Beachtung ärztlicher Empfehlungen (Arzneimittel, Bestelltermine, Gesundheitsverhalten) besondere Bedeutung zu.
Wie der Blick auf die Meso-Ebene zeigt, haben Patienten im deutschen Gesundheitssystem weitgehende Wahlmöglichkeiten hinsichtlich der Versorgungsgestaltung, bis hin zu einer indirekten Einflussnahme über die Sozialwahlen, auch wenn dies kaum genutzt wird. Auf der Macro-Ebene kann Verantwortung bei politischen Wahlen, damit indirekt auch über das Beitragsvolumen und schließlich über Patientenvertreter im Gemeinsamen Bundesausschuss geltend gemacht werden, wobei letzteres durch das Patientenrechtegesetz von Anhörungs- in Stimmrechte gewandelt werden soll.
Die geschilderten Verhältnisse einschließlich der Grundsätze der Sozialgesetzgebung zeigen zwar Rechte und Ansprüche sowie Gelegenheiten, eigene Präferenzen einzubringen, sie enthalten jedoch keine Ansätze der Verwirklichung eines Pflichtprinzips, wie es auch aus dem Sozialgesetzbuch V (s. o.) hervorgeht.
Dorthin führende Überlegungen müssen zwei Tatbestände beleuchten: Erstens den Wandel des Phänomens Krankheit und zweitens das Gesundheitsverhalten von Bürgern, Patienten und Versicherten.
Dabei gilt es zu verstehen: Gesundheit gilt als hohes Gut und bildet eine besonders persönlichkeitsnah erlebte, die gesamte Biografie begleitende, gewichtige Lebenskomponente. Sie stellt ein inneres Projektionsfeld für tief sitzende subjektive Deutungen und Bedeutungen, Ängste, Hoffnungen und Erwartungen sowie komplexe Einflüsse aus sozialen Zusammenhängen, gesellschaftlichen Leitbildern und irrationalen Bereichen dar. Damit spiegelt Gesundheitserleben und -verhalten wesentliche Komponenten der Persönlichkeit und der individuellen Lebensprioritäten.
Wandel von Krankheit
In Vereinfachung und im Hinblick auf die epidemiologischen Gewichte und die Versorgungslast lassen sich hinsichtlich Morbiditätswandel die folgenden Trends erkennen:
Nicht beherrschbare und unerwartete schwere Krankheiten sind medizinisch behandelbaren Leiden gewichen (z. B. schwere Infektionskrankheiten).
Während die Existenzbedrohung viele Krankheiten kennzeichnete, ist es heute eine eingeschränkte Lebensqualität (z. B. chronische Krankheiten, etwa Diabetes mellitus).
Diesem Befund entspricht der Wandel von akuten zu chronischen Krankheiten.
Insbesondere durch den relativen und absoluten Anstieg älterer Patienten liegt in großem Umfang Multimorbidität vor.
Mit dieser Dominanz chronischer und multipler Leiden der älteren Bevölkerung verlagerten sich die Therapieziele von der primär medizinischen Beherrschung zu sozialen Behandlungsmotiven.
An die Stelle gesundheitlicher Einbrüche durch äußere Verursachung wie Unfälle oder Infektionen sind verhaltensbedingte Organ- und Funktionsstörungen getreten (z. B. Schäden durch klassische Risikofaktoren des Herz-Kreislaufsystems). Die Gesundheitsberichterstattung für 2009 (www.gbe-bund.de) zeigt (Tab. 2), dass (in großem Umfang) verhaltensbedingte Krankheiten die vorzeitige Sterblichkeit dominieren. Ischämische Herzkrankheiten stehen mit einem Verlust von 13.085 Verstorbenen an der Spitze der Ursachen vorzeitiger Sterblichkeit. Fügt man die bösartigen Neubildungen der Bronchien und der Lunge (12.396 vorzeitig Verstorbene) hinzu, so treten alle übrigen Krankheiten in ihrer epidemiologischen Bedeutung für die vorzeitige Sterblichkeit weit zurück. Derzeitig wird noch von einer Zunahme der sog. Zivilisationskrankheiten ausgegangen (Abb.2).
Hinsichtlich Hochdruck, Diabetes mellitus, Schlaganfall und Herzinfarkt wird mit einer teilweise erheblichen Zunahme von bis über 40 % gerechnet (TK 2011).
Insgesamt ist als entscheidende Veränderung der Wandel von der Schicksalhaftigkeit von Krankheit zum vorhersehbaren Schaden festzustellen.
Zusammengefasst zeigt der Vergleich: Krankheit ist auf individueller Ebene in großem Umfang vermeidbar. Der Gesundheitsverlauf des Einzelnen wird zu einer gestaltbaren Lebenskomponente etwa wie die Wahl des Berufes oder geschäftlicher Risiken. Sie gewinnt den Charakter einer eigenständigen persönlichen Lebensleistung. Gesundheit steht damit in großem Umfang erstmals in der Geschichte der Medizin in der Verfügbarkeit des Bürgers. Unter dem sozialen Blickwinkel ist hierin, abgesehen von Lebensverlängerung, Leidensminderung und Schadenskompensation, der entscheidende Effekt zu sehen, etwa für ein modernes Lebensgefühl, das auf Ausschöpfung des Daseins gerichtet ist, an dem auch der medizinische Fortschritt gemessen werden kann.
Gesundheitsverhalten
Gesundheitsverhalten ist nicht zu trennen von Patientenpräferenzen, also an eigenen Vorstellungen, Lebensstilen, und -zielen orientierten individuellen Prioritäten. Sie relativieren die Vorstellung eines hinsichtlich eigener Gesundheit rational urteilenden Menschen, der sich von objektiven Fakten leiten läst. Hierzu scheint es angebracht, darauf hinzuweisen, dass ein eigenverantwortliches Gesundheitshandeln keineswegs voraussetzt, dass es sich ausschließlich auf rationale Erwägungen stützt, die auf Sachinformationen zurückgehen. Es gehört zum Wesen menschlicher Lebensentfaltung, dass wir, besonders auch bei durchaus gewichtigen Entscheidungen mehr oder weniger unbewusst, auch bei Kenntnis der Faktenlage mehr aus Neigungen und sehr persönlichen Vorstellungen herrührend entscheiden. Dies trifft besonders für das Gesundheitserleben zu, bzw. wurde hier besonders ausführlich beschrieben. Studien zeigen, dass sich das Gesundheitshandeln im Alltag aus sog. Subjektiven Gesundheitstheorien erklärt (Faltermaier et al. 2008). Schließlich lässt sich der bemerkenswerte Befund anführen, dass die subjektive Einschätzung des Gesundheitszustandes einen besseren Prädiktor der gesundheitlichen Prognose darstellt als objektive Befunde. Dies konnte z.B. für das Mortalitätsrisiko gezeigt und in zahlreichen Studien repliziert werden (z.B. Wurm, 2004).
Die Tatsache, dass komplementäre Heilverfahren nach wie vor eine steigende Nachfrage erfahren (Böken et al. 2002), kann ebenfalls in diesem Sinne gedeutet werden. Schließlich finden 61 % der Bevölkerung unkonventionelle Verfahren oft besser als Schulmedizin (Marstedt u. Moebus 2002).
Den augenfälligsten Hinweis auf eine weitgehend autonome, ärztliche Empfehlungen ignorierende Steuerung des Gesundheitsverhaltens liefert das geradezu systemprägende Phänomen der Non-Compliance, dem der Sachverständigenrat die wirtschaftliche Bedeutung einer Volkskrankheit zumisst (Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, 2001). 20 bis 70 % aller Verordnungen werden vom Patienten nicht entsprechend umgesetzt, was auch für 30 bis 80 % aller Langzeittherapien gilt (Haefeli, 2010).
Die genannten Fakten sind geeignet, die Bedeutung individueller Bewertungen für das Gesundheitsverhalten sowohl für den Einzelnen, als auch für das Gesundheitssystem zu zeigen. Die Entscheidungskette der Nutzenbewertung im Gesundheitswesen, der eine wesentliche systemgestalterische Bedeutung zukommt, muss dementsprechend ergänzt werden, wie Abb. 1 verdeutlicht: In der Endstrecke der Anwendung einer medizinischen Maßnahme kann der „Nutzen“ keineswegs direkt weitergegeben werden. Hier entscheidet der Patient über den Nutzen der Maßnahme für seine Belange, aus seiner Vorstellungswelt heraus, was in großem Umfang von der objektiven Nutzenfeststellung der vorangegangenen Entscheidungsschritte abweicht. In diesem sensiblen Bereich treffen die beiden Welten der wissenschaftlichen rationalen Feststellungen einerseits und der von subjektiven individuellen, - in diesem Sinne - eher „irrationalen“ Bewertungen des Patienten getragenen andererseits aufeinander.
Es findet also hier eine von jedem einzelnen Patienten in seiner Weise getroffene „Priorisierung“ statt. Sie kann als eine Art Filter der Nutzenweitergabe gewertet werden.
Folgerungen
Die Ausübung von Verantwortung setzt immer auch Entscheidungsspielräume und die Möglichkeit, verschiedene Optionen zu erkennen, voraus. Während drohende und eingetretene Verluste an Gesundheit den Menschen noch im vergangenen Jahrhundert meist wenig Möglichkeiten eröffneten, Krankheit aus eigener Kraft abzuwenden oder zu mildern, ist diese Chance angesichts der heutigen Bedingungen für den Umgang mit Krankheit gegeben.
Der Wandel des Krankheitsspektrums und der heutigen Morbiditätstypologie sowie die Hinweise auf ein in nennenswertem Umfang von subjektiven individuellen Faktoren geleitetes Gesundheitsverhalten von Bürgern, Versicherten und Patienten zeigen erstens, dass der Wille eines selbst gesteuerten und verantworteten Umgangs mit Gesundheit besteht. Zweitens lässt sich durch ein an einfachen allgemein zugänglichen Grundsätzen der Gesundheitserhaltung ausgerichtetes Verhalten ein selbst verantwortbarer, weit reichender Einfluss auf die eigene gesundheitliche Prognose ausüben.
Diese Voraussetzungen bieten bisher nicht realisierte Möglichkeiten einer systematischen Einbeziehung und strukturellen Nutzung eigenverantwortlicher Gesundheitsvorsorge bei der Systemgestaltung. Ansätze hierzu bestehen bereits insofern, als sich im Grenzbereich selbst wählbarer Leistungen und der IGeL-Leistungen bereits in nennenswertem Umfang eine finanzielle Selbstbeteiligung des Patienten findet. Sie würden vermutlich auch unumgänglich, wenn die Forderungen (z.B. Beske 2011) nach einer Konzentration des Leistungskatalogs auf Krankheit und notwendige Leistungen erfüllt würden. Aus den bestehenden Verhältnissen ein durchdachtes Prinzip zu machen, könnte der entscheidende Schritt sein, an der Kombination einer solidarisch getragenen Grundversorgung für Jedermann mit einem freien Versicherungsmarkt, anzusetzen. Entscheidend wäre, die Rolle des Versicherten und Patienten zu erweitern, ihm mehr Wahlmöglichkeiten hinsichtlich der gesundheitlichen Absicherung einzuräumen und deren Ausgestaltung in einem neuen erweiterten Spielraum entsprechend den individuellen Gesundheitsrisiken flexibel selbst bestimmen zu lassen. Wenn Gesundheit als individuelle Leistung entsteht, muss es auch möglich sein, dies in einer individuellen Absicherung zu repräsentieren. Das Krankheitsrisiko wird damit, wenn auch in der Ausgestaltung gewiss nur in einem vertretbaren und relativ geringen Ausmaß, vermehrt auch auf den Bürger, Versicherten und Patienten selbst verlagert.
Welche Vorteile ergeben sich durch mehr
Eigenverantwortung im Gesundheitswesen?
Vorteile für Versicherte und Patienten
Wenn eine neu gelebte Eigenverantwortung des Versicherten zum Tragen kommen soll, kann sie sich bereits auf der Micro-Ebene der Patienten-Arzt-Begegnung auswirken. Im Wesentlichen geht es darum, die Präferenzen des Patienten zu erkennen und sinnvoll in die Behandlung zu integrieren. Damit wäre ein aus Patientensicht immer wieder vermisstes Qualitätskriterium erfüllt, nämlich ihn anzuhören und auf seine wirklichen Bedürfnisse einzugehen. Dies würde der in der Medizin kritisierten (Geisler, 1997) „Sprachlosigkeit“ abhelfen, so dass allein schon in der vermehrten Kommunikationsdichte ein erheblicher Vorteil für den Patienten zu sehen wäre. Es kann vermutet werden, dass Patienten mit einer eigenverantwortlichen Gesundheits-Mitgestaltung den methodisch und in ihrer Effektivität gut dokumentierten Verfahren (z. B. zur Salutogenese) gegenüber aufgeschlossen sind, die an der Wandlungs- und Entwicklungsfähigkeit des Menschen ansetzen und über eine erweiterte Verstehensebene dazu führen, dass sich dem Patienten neue Optionen eröffnen, seine Situation zu deuten und in sein individuelles biografisches Gefüge und seine Vorstellungswelt einzuordnen.
Versicherte, die ein Teilrisiko ihrer gesundheitlichen Entwicklung selbst tragen, werden ein besonderes Interesse daran haben, dass unnütze Leistungen der medizinischen Versorgung vermieden werden. Dies bewirkt die Forderung nach einer verständlichen Information und Beratung durch den Arzt über Notwendigkeit und Alternativen einer Maßnahme sowie einer realistischen Einschätzung der Risiken und der Folgen der Unterlassung einer Behandlung in Form einer neuen medizinischen Gesprächs- und Informationskultur in der Arzt-Patienten-Begegnung. Es ist bekannt, dass sich die Qualität der Beziehung zwischen Patient und Arzt fördernd auf Vertrauensbildung und Behandlungsergebnis auswirkt (Di Blasi et al. 2001, Keating 2004). Eine unbefriedigende Arzt-Patienten-Beziehung zeigt, wie zahlreiche Studien belegen, schlechtere Behandlungsergebnisse und eine schlechtere Behandlungseffizienz, z.B. durch häufigen Arztwechsel und Unzufriedenheit mit der Behandlung (z.B. Griffin et al., 2004).
In einer vermehrten Eigenverantwortung von Versicherten und Patienten kann ein Promotor dafür gesehen werden, die ärztliche Kommunikation mit dem Patienten, wie seit Jahrzehnten gefordert, nicht zuletzt zur Steigerung der Behandlungs- und System-Effektivität zu verbessern.

Vorteile für das Gesundheitswesen
Von grundlegender Bedeutung ist der Blickwechsel vom Leistungssystem, das weit dominierend die Aufmerksamkeit der Gestalter des Systems genießt, hin zum Bürger, Versicherten und Patienten, der nun nicht mehr nur als passiver Leistungsempfänger und -fordernder, sondern auch als indirekter Mitgestalter mit selbst auferlegten Pflichten und Leistungen der Gesundheitsbildung fungiert, und auf den sich ebenfalls Erwartungen der Solidargemeinschaft richten.
Durch einen erhöhten Erwartungsdruck des eigenverantwortlichen Versicherten und Patienten werden über die oben bereits angesprochenen Systemeffekte hinaus weitere Verbesserungen möglich.
Der Bürger, der verstanden hat, in welchem Umfang er selbst zu seiner Gesundheit beitragen kann, wird auf folgende Entwicklungen drängen:
Dazu gehört eine frühzeitige und breit angelegte effektive Gesundheitsförderung, die schon in der Kindheit einsetzt und sich über betriebliche Gesundheitsförderung bis hin zur Prävention im Alter fortsetzt. Er wird dabei im besonderen Angebote einer auf seine Person zugeschnittenen Prävention in Form individueller Anleitung und Übung an Stelle allgemeiner Fitness-Ratschläge suchen. Schließlich werden im Falle einer bereits eingetretenen chronischen Krankheit oder Behinderung Hilfsmittel gefragt sein, besonders dann, wenn sie den Gang zum Arzt oder die Einnahme von Medikamenten ersetzen. Dies wiederum bedeutet eine Intensivierung von Schulungs- und Übungsprogrammen zum eigenständigen Umgang mit Krankheit und Behinderung. Dies fördert insgesamt die Tendenz, das Gesundheitswesen seltener in Anspruch zu nehmen. Dadurch könnten die in Deutschland im internationalen Vergleich besonders hohen Kontaktraten zum ambulanten Sektor sinken. Es werden sich vermutlich stärker differenzierte Verhaltensmuster der Versicherten und damit auch (gewollte) unterschiedliche Gesundheitsverläufe ergeben, was die Frage nach entsprechenden Anreizen, z. B. durch mehr Wettbewerb der als Zusatzversicherer agierenden Anbieter eröffnet.
Praktisch gesehen liegt also in der Eigenverantwortung der Schlüssel für ein auf eine egalitäre Grundversicherung für alle Bürger aufgesetztes System der Gesundheitssicherung, das Anreize bietet für gesundes Verhalten, vor allem variabel ist hinsichtlich unterschiedlicher Ausgangsrisiken, flexibel ist hinsichtlich sich verändernder Risiken, den Charakter einer Versicherung, nicht den einer Kasse hat, also vorweggenommene Entscheidungen des Versicherten zu Grunde legt.
Damit muss das Versorgungssystem zwangsläufig für den Bürger absolut transparent, d.h. einfach und übersichtlich strukturiert sein.

Vorteile für die Gesellschaft
Neben den Gewinnen des medizinischen Versorgungssystems durch verbesserte Versorgungsqualität und -effizienz stehen gesellschaftliche Vorteile: Intensiver als bisher praktizierte Sozialwahlen könnten, aufgewertet zu einer Art Versichertenrat, geeignet sein, auf der Meso- und Macro-Ebene Interessen der Versicherten und Patienten zu vertreten.
Eine teilweise Gesundheitssicherung in der Initiative des Bürgers würde die GKV entlasten und damit Probleme der Leistungs-„Rationierung“ und -„Priorisierung“ mit ihren z.T. ethisch hoch problematischen Implikationen letztlich einer Daseinsbewertung weitgehend eliminieren, zumindest erheblich relativieren. Individuell vereinbarte Behandlungsziele im Sinne funktionaler lebensgestalterischer Kompetenzen werden den Besonderheiten einer alternden Gesellschaft im besonderen Maße gerecht. Wird dem Bürger und Versicherten mehr Eigenverantwortung zugebilligt, bedeutet dies die Anerkennung der Autonomie des Einzelnen und einer Bürgerkompetenz, die auf breiter Basis Verantwortlichkeit fördert. Nicht zuletzt wird das Interesse am Gesundheitswesen, der Gesundheitspolitik und schließlich am Staat geweckt und damit demokratische Entwicklungen gefördert.
Zum Abschluss sei noch auf übergreifende Effekte der Eigenverantwortlichkeit im Gesundheitswesen hingewiesen. Entscheidungen, die wir über unser Gesundheitsverhalten treffen, tangieren Fragen an den Wert, den wir einem von Krankheit unbelasteten Leben heute, vor allem aber auch in der Zukunft beimessen. Es wird eine Lebensvision aufgerufen. Unsere Kinder und Enkel lernen schon in der Schule, dass der eigene Körper etwas wert ist, dass man sich um ihn kümmern sollte, schließlich, dass man selbst etwas wert ist, und vielleicht auch, dass auch der andere etwas wert ist. Gesundheitsverhalten ist immer auch Ausdruck einer Kultur. <<