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Das Un-Thema „Verschwendung“

Kommentar von Prof. Dr. Martin Wehling

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Erstveröffentlichungsdatum: 16.08.2011

Plain-Text

>> Ex-Gesundheitsminister Rösler hat als großen Clou der laut propagierten Gesundheitsreform am 6. Juli 2010 eine Beitragserhöhung der gesetzlich Krankenversicherten von 14,9 % auf 15,5 % verkündet, um den drohenden Bankrott des Systems abzuwenden.
Statt einer großen Empörung und Ursachensuche für die ausufernden Kosten hat „man“ dies offensichtlich nach dem Motto akzeptiert, es hätte ja noch schlimmer kommen können.
Dies ist aber schon jetzt sehr schlimm, da es ja zahlreiche Stimmen gibt, die große Einsparpotenziale des Systems nachweisen. Diese gehen weit über das Volumen der Beitragserhöhung hinaus und würden diese auf bis zu zehn Jahre unnötig machen. Es geht also um die unglaubliche Verschwendung im deutschen Gesundheitswesen (dem zweitteuersten der Welt), das geradezu darauf ausgelegt ist, teure Akut- und (Zu-)Spätmedizin anzubieten, die sich nur bei Unterdrückung der Präventivmedizin rentiert. Der Autor hat in zwei ausführlichen Arbeiten Ende 2009 (Wehling 2009) und Anfang 2010 (Wehling 2010) in dieser Zeitschrift das Sparpotenzial im deutschen Gesundheitswesen aufgrund einer eingehenden Analyse auf zwischen 20 und 80 Milliarden Euro/Jahr beziffert, mit dem Schwerpunkt bei etwa 60 Milliarden Euro; er steht damit wirklich nicht allein (SVR 2002).
Wen interessiert‘s?
Anfang 2010 hat der Autor, als die Diskussion um die Kostenexplosion und mögliche Maßnahmen dagegen heftiger wurde, diese Publikationen insgesamt 75 mal in Deutschland an alle relevanten Politiker (4), Kassenführer (4), vor allem aber auch Journalisten (14) der großen Zeitschriften und zeitkritischen Fernsehformate (11) geschickt. Das Begleitschreiben enthielt ein eindeutiges Angebot zur weiteren Diskussion und Unterstützung bei diesbezüglichen Reaktionen, z.B. in der politischen oder journalistischen Äußerung zum Thema. Die Bilanz dieser Aktion war allerdings mehr als ernüchternd: Obwohl Daten, Recherche, auch Querverweise zur kritischen Kontrolle durch Vergleich mit anderen Autoren sozusagen „frei Haus“ kamen, wurden nur 15 Schreiben beantwortet. Davon kamen 11 erst, nachdem insgesamt 27 Adressaten zum zweiten Mal angeschrieben wurden. Die Antworten hatten im Wesentlichen drei Inhalte: A) sehr spannend, vielen Dank (3) – B) wir sind nicht zuständig (1) - C) Sie hören noch von uns (5). Eine konkrete Aktion bestand in einem Fall in einer Einladung zu einem Gespräch mit einem Gesundheitspolitiker, in den anderen Fällen fanden noch ein bis zwei schriftliche oder fernmündliche Kontakte statt. Am Ende, ein Jahr später, ist keine einzige erkennbare Aktion aus dieser Bemühung resultiert. Den Höhepunkt der Enttäuschung markierten dann die oben erwähnte Beitragserhöhung und die fast völlige Ignoranz gegenüber den Einsparpotenzialen im Gesundheitswesen.
Im Februar 2011 hat der Autor einen erneuten Versuch unternommen, auf die Verschwendung im Gesundheitswesen aufmerksam zu machen, indem er weitere neun Redaktionen (Printmedien und einen TV-Sender) angeschrieben hat. Auch hier wieder Ernüchterung: Entweder folgte überhaupt keine Reaktion (4) oder es gab kein Interesse (3 - Empfehlung den Artikel gekürzt als Leserbrief zu veröffentlichen, Weiterleitung an die Fachredaktion ohne weitere Reaktion, Ablehnung mit unverschämten und anmaßenden Worten). Lediglich zwei Adressaten zeigten ein gewisses Interesse und waren grundsätzlich der gleichen Meinung wie der Autor. Leider sind aber auch diese Spuren im Sande verlaufen.
Die üblichen Verdächtigen?
Es ist völlig unverständlich, warum die in den Publikationen nachgewiesenen Verschwendungen (als stellvertretendes Beispiel für viele hat Deutschland z.B. die größte Herzkatheterdichte der Welt) offensichtlich keiner Behandlung bedürfen und so neben Geldverlusten auch Patientenschädigungen, also eine unethische Medizin, geduldet werden. Es drängt sich ein beklemmender Verdacht auf: Hier beschützen Lobbyisten ihre Pfründe, und die Politiker trauen sich nicht, dagegen anzugehen. Die notwendigen Einsparungen würden in jedem Fall zu Umsatzeinbußen z.B. bei Geräteherstellern wie Philips oder Siemens, Pharmafirmen, aber auch Ärzten und Krankenhäusern führen. Dass unter dem Druck dieser Lobby Politiker Eingriffe nicht wagen, ist zumindest wahlmechanistisch verständlich, wenn auch trotzdem höchst unethisch.
Was aber hält die zahlreichen angeschriebenen Journalisten nach anfänglich deutlichem Interesse von einer Thematisierung dieses Problems ab? Es entsteht der hochgradige Verdacht, dass auch in diesem Bereich Abhängigkeiten bestehen, die einer Thematisierung entgegentreten. Es ist bekannt, dass insbesondere Printmedien durch die neuen Medien, vor allem das Internet, unter einem enormen Kostendruck stehen. Sie sind daher mehr denn je auf ihre Anzeigeneinnahmen angewiesen, die natürlich durch für manche Firmen ungünstige Berichte leiden könnten.
Ob dies auch für die Fernsehjournale gilt, bleibt unklar. Hier haben die wenigen Interaktionen, die stattfanden, den Eindruck vermittelt, dass der Skandalcharakter oder der „Knalleffekt“ dieser Tatsachen nicht groß genug wären, um genügend Aufmerksamkeit zu erregen. Obwohl natürlich diese Annahmen rein spekulativer Natur sind, erzeugen sie doch eine Plausibilität, der sich gerade Journalisten als die letzten Wächter der gesellschaftlichen Ehrlichkeit durch eine mutigere Haltung entgegenstellen sollten. Es ist zu erwarten, dass es im Wesentlichen „nur“ noch darauf ankommt, endlich den ersten Bericht, die erste Reportage hierzu zu veröffentlichen. Da es um viel Geld, vor allem aber auch um Gesundheit und Versorgungsqualität für viele Millionen Wähler geht, sollte dies ein sehr dankbares journalistisches Thema mit großer Brisanz und langer Laufzeit sein. Allerdings sind Argumentationen im medizinisch-wissenschaftlichen Bereich immer etwas sperrig und abhängig von „Autoritäten“. Welcher investigative Journalist möchte diese Herausforderung und Chance als erster ergreifen? Es lohnt sich! <<