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Der unsichtbare Patient: Gesundheitsversorgung von Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus

In der öffentlichen Wahrnehmung und in den Medien haben in den letzten Wochen und Monaten die Berichte und Bilder von Menschen zugenommen, die über das Mittelmeer versuchen auf europäischen Boden zu gelangen. Sie riskieren ihr Leben in überfüllten Booten in der Hoffnung auf ein besseres Leben in Europa. Dabei wird in den Fernseh- und Zeitungsbeiträgen häufig von gekenterten Booten und ertrunkenen Menschen berichtet. Erreichen die illegal Eingewanderten doch europäisches Gebiet, landen sie zumeist in überfüllten Flüchtlingslagern mit der Hoffnung, nach Deutschland oder in ein anderes europäisches Land zu flüchten. Die Zahl der Asylbewerber ist aktuell in Deutschland so hoch wie nie zuvor, monatlich werden neue Rekorde gebrochen. Für das Jahr 2015 wurden knapp 330.000 Asylerstanträge erfasst (Stand: Oktober 2015), was einem Anstieg um 144% im Vergleich zu 2014 entspricht. Noch gravierender erscheinen die Zahlen im Vergleich zu vergangenen Jahren: im Jahr 2007 gab es in Deutschland insgesamt lediglich 19.000 und 2010 41.000 Asylerstanträge (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2015a). Die Gesamtschutzquote, also alle positiven Entscheidungen nach Art. 16a Abs. 1 GG, nach § 3 Abs. 1 AsylVfG, nach § 4 Abs. 1 AsylVfG und nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG, beträgt im Jahr 2015 39,1% und ist somit höher als im Vorjahr (31,5%) (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2015a). Die restlichen Asylantragsteller haben wenige Optionen dauerhaft in Deutschland leben zu können. Eine Möglichkeit: Sie entscheiden sich für ein Leben in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität.

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Erstveröffentlichungsdatum: 31.03.2015

Abstrakt: Der unsichtbare Patient: Gesundheitsversorgung von Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus

Menschen ohne regulären Aufenthaltsstatus gehören in Deutschland zum Personenkreis, die nach dem Asylbewerberleistungsgesetz Anspruch auf eine medizinische Versorgung haben. Im Rahmen einer qualitativen Untersuchung wurden teilstandardisierte Experteninterviews (n=10) und Betroffeneninterviews (n=10) in den Städten Hannover und Bremen durchgeführt. Die Ergebnisse der durchgeführten Studie zeigen, dass die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen durch die gesetzlichen Bestimmungen in Deutschland für Personen ohne legalen Aufenthaltsstatus erschwert wird. Die Angst entdeckt zu werden, schreckt viele Betroffene davon ab, medizinische Leistungen in Anspruch zu nehmen, was zu einer Verschleppung und zu einer Chronifizierung der Erkrankung führen kann. Es sind insbesondere nichtstaatliche Organisationen und karitative Initiativen, welche die medizinische Versorgung von Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus sicherstellen. Papierlose sind in Deutschland hinsichtlich der medizinischen Versorgung faktisch rechtlos, da sie aus Angst vor Aufdeckung nur sehr selten ihre rechtlichen Ansprüche wahrnehmen. Die Einführung eines anonymen Krankenscheins ist eine Lösungsmöglichkeit, die Papierlosen einen regulären Zugang in die ambulante und stationäre medizinische Versorgung sowie eine freie Arztwahl ermöglichen könnte.

Abstract: The invisible patient - health care for people without legal status

Undocumented Migrants in Germany belong to the group of persons, who are entitled to medical care under the Asylbewerberleistungsgesetz. In a qualitative study semi-standardized interviews with experts (n=10) and concerned persons (n=10) were realized in the cities of Hanover and Bremen. The results of the study show that the use of medical services by the legal requirements in Germany is difficult for people without legal residence status. The fear of discovery deters many concerned persons to take medical services, which often leads inevitably to a chronicity of the disease. There are particular non-governmental organizations and charitable initiatives that ensure the medical care of undocumented migrants. The improvement of the health care for undocumented migrants can not be realized by the maintenance of parallel systems. To ensure a sustainable improvement of health care, the integration of this group in the standard care is highly recommended. The introduction of an anonymous health insurance card is a possible solution that could allow regular access to outpatients and stationary medical services and free choice of medical practitioner.

Literatur

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Zusätzliches

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Der unsichtbare Patient: Gesundheitsversorgung von Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus

In der öffentlichen Wahrnehmung und in den Medien haben in den letzten Wochen und Monaten die Berichte und Bilder von Menschen zugenommen, die über das Mittelmeer versuchen auf europäischen Boden zu gelangen. Sie riskieren ihr Leben in überfüllten Booten in der Hoffnung auf ein besseres Leben in Europa. Dabei wird in den Fernseh- und Zeitungsbeiträgen häufig von gekenterten Booten und ertrunkenen Menschen berichtet. Erreichen die illegal Eingewanderten doch europäisches Gebiet, landen sie zumeist in überfüllten Flüchtlingslagern mit der Hoffnung, nach Deutschland oder in ein anderes europäisches Land zu flüchten. Die Zahl der Asylbewerber ist aktuell in Deutschland so hoch wie nie zuvor, monatlich werden neue Rekorde gebrochen. Für das Jahr 2015 wurden knapp 330.000 Asylerstanträge erfasst (Stand: Oktober 2015), was einem Anstieg um 144% im Vergleich zu 2014 entspricht. Noch gravierender erscheinen die Zahlen im Vergleich zu vergangenen Jahren: im Jahr 2007 gab es in Deutschland insgesamt lediglich 19.000 und 2010 41.000 Asylerstanträge (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2015a). Die Gesamtschutzquote, also alle positiven Entscheidungen nach Art. 16a Abs. 1 GG, nach § 3 Abs. 1 AsylVfG, nach § 4 Abs. 1 AsylVfG und nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG, beträgt im Jahr 2015 39,1% und ist somit höher als im Vorjahr (31,5%) (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2015a). Die restlichen Asylantragsteller haben wenige Optionen dauerhaft in Deutschland leben zu können. Eine Möglichkeit: Sie entscheiden sich für ein Leben in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität.

>> Menschen, die in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität leben, werden als „illegale Migranten“, „Papierlose“, „Menschen ohne Aufenthaltsstatus“ oder auch „Statuslose“ genannt und sind Begrifflichkeiten für eine Personengruppe, die es eigentlich nicht geben dürfte. Ihnen fehlen die erforderlichen Papiere, um sich legal in einem Land aufzuhalten. Zur Größenordnung von Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus in Deutschland gibt es nur Schätzungen und diese schwanken von 100.000 bis über eine Million Menschen, weshalb das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2015b) im aktuellen Migrationsbericht betont, dass auf Grundlage der verfügbaren statistischen Zahlen bislang keine validen Daten existieren.
Papierlose leben und wohnen häufig versteckt unter uns. Sie kochen in Restaurants, kellnern in Bars, betreuen Kinder und ältere Menschen, putzen Wohnungen oder renovieren Häuser. Nicht nur Privatpersonen, sondern auch Unternehmen beschäftigen sie gern als Arbeitskräfte. Hauptgrund: Sie sind günstiger als legal Beschäftigte. Sie haben häufig ihre Heimat verlassen, mit der Hoffnung auf ein besseres Leben. Das Leben in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität kann jedoch zu einer Reihe von Schwierigkeiten für die Betroffenen führen. Dies kann neben den Arbeitsbedingungen auch die Lebens- und Wohnbedingungen, den Zugang zur Schulbildung für Kinder als auch die Gesundheitsversorgung betreffen.
Über die gesundheitliche Versorgungssituation von Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus liegen ebenfalls keine repräsentativen Studien vor. In den letzten Jahren sind jedoch zunehmend Studien veröffentlicht worden, die sich mit der Gesundheitsversorgung von Papierlosen auseinandersetzen, den Fokus aber vor allem auf die Untersuchung der Wohn-, Bildungs- sowie finanziellen Situation dieser Personengruppe legen (Alt 2003, Anderson 2010, Bommes/Wilmes 2007, Chauvin et al. 2012, Huschke 2013, Maschewsky-Schneider et al. 2010, Vogel et al., 2009).
Das unbefriedigende Wissen über die gesundheitliche Situation ist insbesondere auf die geringe Gesprächsbereitschaft von Papierlosen zurückzuführen, weshalb dieses Forschungsfeld häufig als schwer zugänglich beschrieben wird. Daher ist es für Wissenschaftler nicht nur schwierig, einen Einblick in das Leben in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität zu bekommen, sondern überhaupt einen vertrauensvollen Zugang zu den betroffenen Menschen aufzubauen, um valide Informationen zu erhalten. Es handelt sich bei Papierlosen um eine Personengruppe, die nichts oder so wenig wie möglich Auskunft über ihr Leben in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität bekanntgeben möchte. Die Situation geht sowohl für die Betroffenen als auch für ihre Verwandten, Freunde sowie für die helfenden Menschen mit Angst, Unsicherheit und Gefahren einher.
Methodisches Vorgehen
Trotz der Schwierigkeit, Betroffene für wissenschaftliche Untersuchungen zu gewinnen, wurde in der vorliegenden Studie dennoch versucht, die gesundheitliche Versorgungssituation von Papierlosen in Deutschland nicht nur anhand von Experteninterviews, sondern auch von Betroffeneninterviews zu erfassen. Um mehr über die Gesundheitsversorgung von Papierlosen zu erfahren, wurden in einer qualitativen Untersuchung teilstandardisierte Experteninterviews (n=10) und Betroffeneninterviews (n=10) im Rahmen von Face-to-Face-Interviews in den Städten Hannover und Bremen durchgeführt, die zusammenfassend, inhaltsanalytisch nach Mayring (2010) ausgewertet wouden. Ziel der Studie war es, die medizinische Versorgungssituation dieser Gruppe zu erfassen sowie Handlungsempfehlungen zu formulieren.
Experteninterviews
Ausgehend von der Frage, welche Personengruppen Aussagen über die Gesundheitsversorgung von Papierlosen machen können, wurden in einer vorab durchgeführten Recherche die zutreffenden Organisationen und Institutionen für die Städte Hannover und Bremen identifiziert. Die interviewten Experten in Hannover (n=5) und Bremen (n=5) sollten das Kriterium erfüllen, Papierlose medizinisch zu behandeln, an medizinisches Personal zu vermitteln oder in Gesundheitsfragen zu beraten. Um ein möglichst facettenreiches Bild zu erhalten, wurden Experten aus unterschiedlichen Organisationen und Institutionen (u.a. Vertreter von behördlichen Einrichtungen, der Ärzteschaft, der öffentlichen Flüchtlingsarbeit sowie kirchlicher Organisationen) in beiden Städten interviewt. Ferner wurde für die weitere Gewinnung von Experten die Anwendung der so genannten „Schneeball-Methode“ (Browne 2005) eingesetzt. Die „Schneeball-Methode“ verfolgte das Ziel, Hinweise zu weiteren möglichen Gesprächspartnern zu erhalten, die zur Gesundheitsproblematik von Papierlosen Auskunft geben können.
Betroffeneninterviews
In einem weiteren Schritt wurden leitfadengestützte, problemzentrierte Betroffeneninterviews durchgeführt (Lamnek 2010, Witzel 1985). Die durchgeführten Betroffeneninterviews fanden ebenfalls, wie die Experteninterviews, in den Städten Bremen und Hannover statt. Ziel der Befragung dieser heterogenen Personengruppe war es, direkt Einzelheiten aus dem Leben von Papierlosen zu erfahren. Dadurch konnte das durch die Experteninterviews erlangte Wissen am Einzelfall vertieft und erweitert werden. Da es sehr schwierig ist, Kontakt zu Personen ohne Aufenthaltsstatus herzustellen, wurde der Zugang insbesondere im Rahmen des Kontaktes zu den interviewten Experten und Vertrauenspersonen in den Beratungs- und Hilfseinrichtungen gesucht. In einem weiteren Schritt wurden Aufenthaltsorte und Communitys in beiden Städten aufgesucht, an denen potenzielle Betroffene vorzufinden sind. Dadurch sollte ausgeschlossen werden, dass nicht nur Papierlose befragt werden, die bereits Beratungs- und Hilfseinrichtungen in Anspruch genommen haben (Bommes/Wilmes 2007).
In bereits durchgeführten Studien (Alt 1999, Alt 2003, Anderson 2003, Krieger et al. 2006, Bommes/Wilmes 2007, Mitrovic‘ 2009) zur Situation von Papierlosen hat sich gezeigt, dass es für einen vertrauensvollen Zugang zu Betroffenen sehr wichtig ist, die notwendige Anonymität in Bezug auf die erhobenen Daten zu gewährleisten. Es war in der vorliegenden Studie sehr schwierig, Betroffene zur Teilnahme an einem Interview zu überzeugen. Bei allen interviewten Betroffenen waren mehrere Gespräche im Vorfeld notwendig, um sie für ein Interview zu gewinnen. Bei allen Betroffenen fand die erste Kontaktaufnahme telefonisch statt. Die Kontaktaufnahme zu den Betroffen wurde in erster Linie über die Berater der Hilfseinrichtungen ermöglicht (n=5). Die Hilfsorganisationen haben dabei als Vermittler fungiert und Betroffene gefragt, ob sie Interesse haben, an der Studie teilzunehmen. Drei Betroffeneninterviews wurden von bereits interviewten Betroffenen vermittelt sowie zwei weitere Interviews über die Communitys gewonnen.
Die Betroffeneninterviews konnten nahezu alle mit dem Einverständnis der Interviewten digital aufgezeichnet werden. Lediglich von einem Betroffenen wurde die Tonbandaufnahme nicht akzeptiert. In diesem Fall wurden die Inhalte und der Ablauf des Interviews protokolliert sowie ausführliche Gesprächsnotizen angefertigt und direkt im Anschluss an das Interview Gedächtnisprotokolle erstellt.
Von den zehn interviewten Betroffenen besitzen acht keinen legalen Aufenthaltsstatus. Zusätzlich wurden mit zwei weiteren Migranten Interviews durchgeführt, die zum Zeitpunkt des Interviews vor 12 bzw. 18 Monaten einen legalen Aufenthaltsstatus erhalten haben und mittlerweile legalisiert sind, aber viele Jahre in Deutschland papierlos gelebt haben. Voraussetzung für die Teilnahme an einem Interview war, dass die Betroffenen sich seit mindestens einem halben Jahr ohne regulären Aufenthaltsstatus in den Städten Bremen oder Hannover aufhalten. Die Berücksichtigung von Betroffenen mit noch kürzeren Aufenthalten ist nach Alt (2003) nicht zu empfehlen, da aufgrund der neuen Situation mit dem irregulären Aufenthaltsstatus noch nicht genügend Erfahrungen vorliegen. Grundsätzlich lag der Fokus auf der Auswertung der Interviews von Betroffenen, die sich zum Interviewzeitpunkt ohne regulären Aufenthaltsstatus in Deutschland aufhalten. Da jedoch die zwei zusätzlich interviewten Personen über einen längeren Zeitraum sich papierlos in Deutschland aufgehalten haben und ein sehr breites Wissen zu dieser Thematik aufweisen, wurden beide inzwischen legalisierten Personen in die Datenerhebung eingeschlossen.
Tabelle 1 gibt einen Überblick über die soziodemografischen Merkmale. Das Alter der Betroffenen variiert zwischen 18 und 45 Jahren, das Leben in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität in Deutschland von vier bis zehn Jahren. Der Migrationshintergrund und ihr aufenthaltsrechtlicher Lebenslauf sind dabei sehr unterschiedlich. Die beiden mittlerweile legalisierten Personen sind beide inzwischen mit deutschen Partnern liiert. Interessant ist die Tatsache, dass acht der zehn Betroffenen schon vor ihrer Einreise Verwandte in Deutschland hatten. Da alle interviewten Betroffenen sich seit mehreren Jahren in Deutschland aufhalten, konnten alle Interviews in deutscher Sprache geführt werden.
Ergebnisse
Papierlose gehören zum Personenkreis, die Anspruch auf eine medizinische Grundversorgung nach §4 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) haben. Das Gesetz gewährt Leistungen bei akuten Erkrankungen, Schmerzzuständen, Schwangerschaften und Impfungen (Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz 2015). Die Kosten der Behandlung haben die örtlichen Behörden zu tragen. Die Betroffenen machen in den Interviews jedoch deutlich, dass sie faktisch rechtlos sind, da sie aus Angst vor Aufdeckung nur sehr selten die vorhandenen rechtlichen Ansprüche wahrnehmen. Zentrales Hindernis ist die nach § 87 Abs. 2 des Aufenthaltsgesetz (AufenthG) bestehende behördliche Übermittlungspflicht öffentlicher Stellen an die Ausländerbehörde, die für Betroffene eine Statusaufdeckung zur Folge hätte (Schlöpker et al. 2009). Trotz der seit Ende 2009 verabschiedeten allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz, wonach neben Ärzten auch Apotheker, Psychologen, Sozialpädagogen oder Angehörige eines anderen Heilberufes (z.B. Hebammen, medizinisch-technische Assistenten) als auch das mit der Abrechnung befasste Verwaltungspersonal öffentlicher Krankenhäuser dem verlängerten Geheimnisschutz unterliegen, ist noch keine Verbesserung der Gesundheitsversorgung zu erkennen. Papierlose nehmen die gesetzlich verankerte theoretische Möglichkeit einer medizinischen Versorgung in der Praxis nur sehr selten wahr, da weiterhin für die Übernahme der Kosten bei der zuständigen Behörde ein Antrag gestellt werden muss, der mit der Gefahr einer Statusaufdeckung einhergeht.
Verschleppung und Chronifizierung
von Erkrankungen als Folge
Die Angst, entdeckt zu werden, schreckt viele Betroffene davon ab, medizinische Leistungen in Anspruch zu nehmen, was zu einer Verschleppung und Chronifizierung der Erkrankung führen kann. Grundsätzlich lässt sich bei nahezu allen befragten Papierlosen sowie aus den Berichten der Experten die Verdrängung von Krankheiten beziehungsweise der bewusste Selbstausschluss von medizinischen Leistungen erkennen.
Chronische Erkrankungen können zum einen aus dem Heimatland der Betroffenen mitgebracht werden oder durch Verschleppung von Krankheiten sowie aufgrund der Arbeits- und Lebensbedingungen in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität entstehen. Wenn die Betroffenen alle Anzeichen von grippalen Infekten, Magenschmerzen oder Rückenbeschwerden zunächst ignorieren oder durch Selbstmedikation zu behandeln versuchen, kann die Unkenntnis über die tatsächlichen Anwendungsbereiche der Medikamente eine Verschlimmerung der Erkrankung die Folge sein. Neben dem Kauf von Medikamenten aus der Apotheke findet aufgrund der angespannten finanziellen Situation auch ein Medikamentenaustausch zwischen Verwandten oder Bekannten statt, wie mehrere Betroffene berichten. Es besteht somit für Betroffene die Gefahr, dass sie durch Verschleppung einfacher Krankheiten ihr Immunsystem schwächen und daraus schwerwiegende Erkrankungen entstehen können. Die Notwendigkeit, Geld verdienen zu müssen, wird sowohl von den interviewten Experten als auch von den Betroffenen als eine der Hauptursachen für die Verschleppung von Krankheiten genannt.
Die Interviews machen deutlich, dass die Gesundheitsprobleme von Papierlosen sehr vielfältig sein können. In Hannover werden die Patienten insbesondere wegen internistischer Untersuchungen behandelt. Die Betroffenen suchen medizinische Hilfe aber auch wegen Schwangerschaften, Zahnerkrankungen, orthopädischen Behandlungen, psychischen Problemen oder auch Hauterkrankungen auf, während in Bremen Papierlose insbesondere wegen Schwangerschaften, grippalen Infekten, erhöhtem Blutdruck, aber auch chronischen Erkrankungen wie Asthma behandelt werden.
Große Schwierigkeit:
Posttraumatische Belastungsstörungen und Behandlung psychischer Erkrankungen
Papierlose weisen nach Ansicht der interviewten Experten nicht nur körperliche Beschwerden, sondern auch psychische Erkrankungen auf. Dabei werden sowohl von den Experten als auch von den Betroffenen insbesondere die folgenden Stressoren genannt: ständige Angst vor Aufdeckung und Kontrolle, finanzielle Probleme, Angst vor vollständiger Isolation und Perspektivlosigkeit. Die für viele Betroffene allgegenwärtige Angst kann eine permanente Stresssituation zur Folge haben und nimmt starken Einfluss auf den Lebensalltag. Nach Ansicht einiger Experten versuchen eine Reihe von Betroffenen ihren Stress durch übermäßigen Alkohol- und Zigarettenkonsum auszugleichen.
Welchen Einfluss die Stressfaktoren auf Personen ohne Aufenthaltsstatus haben, hängt allerdings unter anderem auch von der Persönlichkeit und der Biographie des Einzelnen ab. Im Heimatland verfolgte und traumatisierte Personen können sich aufgrund ihrer aufenthaltsrechtlichen Illegalität in ihrem neuen Umfeld weiterhin nicht frei bewegen, weshalb nicht selten selbst auf das Einkaufen verzichtet wird, wie einige Betroffene berichten.
Die mit der Angst verbundene Isolation erschwert die kulturelle und sprachliche Integration der Betroffenen. Ferner kann gegebenenfalls dadurch selbst die eigene Kultur nicht mehr gelebt werden. Als Folge der Angstzustände können psychische Erkrankungen entstehen, da häufig sowohl das soziale Umfeld, die Arbeit sowie die Unterkunft und damit nahezu die gesamte Identität der Betroffenen von Unsicherheiten bestimmt ist.
Psychische Erkrankungen können bei Personen ohne Aufenthaltsstatus häufig nicht angemessen behandelt werden, da die Betroffenen selbst auch ungern über das Thema sprechen. Auffällig in den durchgeführten Interviews ist, dass lediglich ein Experte berichtet, dass ein Betroffener offen über psychische Probleme gesprochen hat und er diesen bezüglich seiner psychischen Erkrankung beraten bzw. behandelt hat, aber dennoch alle Experten in den Interviews immer psychische Erkrankungen als eines der größten Gesundheitsprobleme im Zusammenhang mit Erkrankungen von Personen ohne Aufenthaltsstatus nennen.
Aber selbst wenn den Betroffenen ihre psychischen Probleme bewusst sind, gibt es große Hürden, die eine Gesundheitsversorgung erschweren. Das sind zum einen die sprachlichen, aber vor allem die kulturellen Barrieren der Betroffenen. Kommt es zu einer psychotherapeutischen Behandlung, ist diese außerdem mit einem sehr hohen Aufwand verbunden. Fehlende zeitliche und vor allem finanzielle Ressourcen der Behandlungseinrichtungen lassen zumeist keine angemessene Behandlung der Betroffenen zu.
Letzter Ausweg: Nichtstaatliche Organisationen
In den letzten Jahren haben sich zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung von Migranten ohne gültigen Aufenthaltsstatus in einigen deutschen Städten zunehmend nichtstaatliche medizinische Netzwerke wie beispielsweise die Malteser Migranten Medizin in Hannover oder das MediNetz in Bremen gebildet. Diese ermöglichen Papierlosen eine anonyme medizinische Behandlung bzw. vermitteln sie an Ärzte, die Personen ohne Aufenthaltsstatus kostenlos oder kostengünstiger medizinisch behandeln. Es handelt sich dabei in der Regel um Zusammenschlüsse von Personen verschiedenster Berufsgruppen, die eine medizinische Versorgung der betroffenen Personen koordinieren oder im Falle von Medizinern selbst durchführen. Ziel der Angebote ist es, eine gesundheitliche Basisversorgung anzubieten, die durch Kooperationen mit Fachärzten, Psychologen, Hebammen, Krankenhäusern und anderen medizinischen Einrichtungen ermöglicht wird. In den Experteninterviews wird deutlich, dass sich die medizinischen Netzwerke in erster Linie als Menschenrechtsorganisationen betrachten, indem sie versuchen, den Folgen der Exklusion dieser Personengruppe aus dem deutschen Gesundheitssystem entgegenzuwirken. Sie sehen es als ihre Aufgabe, das Recht auf eine gesundheitliche Versorgung unabhängig von dem Aufenthaltsstatus des Patienten zu realisieren.
Viele Organisationen arbeiten nach dem Vermittlungsprinzip. Die Vermittlungstätigkeit findet in der Regel in den ein- bis zweimal wöchentlich angebotenen Sprechstunden statt. Nach der ersten Kontaktaufnahme wird der Betroffene an einen praktizierenden Arzt weitervermittelt. Die Anlaufstellen haben nahezu alle einen Pool an Ärzten zusammengestellt, die je nach Fachbereich Betroffene ehrenamtlich oder kostengünstiger behandeln. Für die Organisationen erweist es sich als sehr schwierig, immer wieder neue Ärzte zu kontaktieren und diese für Behandlungen zu gewinnen.
In Deutschland gibt es eine Reihe von Organisationen, die eine medizinische Versorgung für Personen ohne Aufenthaltsstatus anbieten. Die Malteser Migranten Medizin und die Büros für medizinische Flüchtlingshilfe („MediNetz“ oder „Medibüro“) sind zwei große medizinische Versorgungsnetzwerke, die bundesweit in einigen deutschen Städten tätig sind und eine kostenlose, anonyme Beratung und Behandlung anbieten. Tabelle 2 gibt einen Überblick über die Standorte in Deutschland.
Fazit
Die Studie hat gezeigt, dass die Lebenssituation von Migranten ohne regulären Aufenthaltsstatus im Spannungsfeld zwischen dem menschenrechtlichen Anspruch auf medizinische Versorgung und den migrationsrechtlichen Vorgaben von Nationalstaaten, Zuwanderung zu begrenzen und damit den Zugang zu staatlichen Leistungen zu verwehren, steht. Das Recht auf medizinische Versorgung ist ein Menschenrecht (OHCHR/WHO 2008). Menschenrechte sind unveräußerliche Rechte, die statusunabhängig und somit auch für Papierlose uneingeschränkt gelten. Ein Staat kann seinen Bürgern kein „Recht auf Gesundheit“ sicherstellen. Allerdings ist in Deutschland auf Grundlage des Grundgesetzes der Staat zur Einhaltung der Grundrechte seiner Bürger zum Schutz und zur Förderung der Gesundheit verpflichtet. Das Problem dabei ist: Es existiert ein gefühlter Widerspruch zwischen den theoretisch vorhandenen menschenrechtlichen Ansprüchen und der in der Praxis wahrgenommenen Übermittlungspflicht.
In den letzten Jahren haben sich zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung von Papierlosen nichtstaatliche medizinische Netzwerke gebildet. Die Organisationen sind jedoch auf die Unterstützung ehrenamtlicher Helfer und privater Spenden angewiesen und stoßen regelmäßig an ihre personellen und finanziellen Grenzen. Dieses hat durch die EU-Osterweiterung in den letzten Jahren zugenommen, da viele Personen aus den neuen EU-Ländern in Deutschland nicht krankenversichert sind und bei medizinischem Versorgungsbedarf die Flüchtlings- bzw. Wohlfahrtsorganisationen aufsuchen. In den letzten Jahren sind einige ermutigende Initiativen wie das Münchener Fondsmodell oder die Humanitäre Sprechstunde in den Städten Bremen, Frankfurt und Wiesbaden entstanden. Diese kommunalen Lösungsansätze setzen eine enge Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Akteuren wie z.B. Wohlfahrtsverbänden, karitativer und religiöser Organisationen mit behördlichen Einrichtungen wie beispielsweise mit dem dort zuständigen Sozialreferat bzw. Gesundheitsamt um. Allerdings kann sich die Einhaltung des oben dargestellten Menschenrechts auf medizinische Versorgung nicht nur in der Hand von karitativen Initiativen sein. Der Staat kann sich seiner Verantwortung zur Sicherstellung der Menschenrechte nicht entziehen.
Anonymer Krankenschein als Lösung?
Die Verbesserung der Gesundheitsversorgung von Papierlosen ist nicht durch die Aufrechterhaltung von Parallelsystemen zu erreichen. Hierfür ist die Integration dieser Personengruppe in die Regelversorgung des deutschen Gesundheitssystems notwendig. Dabei ist die Einführung eines anonymen Krankenscheins eine Lösungsmöglichkeit, die Papierlosen einen regulären Zugang in die ambulante und stationäre medizinische Versorgung sowie eine freie Arztwahl ermöglichen könnte. In diesem Zusammenhang sollte die in Italien praktizierte anonyme Registrierkarte als Beispiel herangezogen werden, die es seit vielen Jahren Menschen ohne regulären Aufenthaltsstatus ermöglicht, Zugang zum staatlich finanzierten Gesundheitssystem zu erhalten. Der anonyme Krankenschein könnte nach italienischem Vorbild mit einem Code versehen werden, der keine Rückschlüsse über die Herkunft und Identität des Patienten zulässt. Die entstehenden Behandlungskosten könnten nach erfolgter Bedürftigkeitsprüfung anonym durch das zuständige Sozialamt abgerechnet werden. Es gibt in einigen deutschen Städten seit mehreren Jahren immer wieder Anläufe zur Umsetzung des anonymen Krankenscheins, die bislang jedoch allesamt von der Politik abgelehnt wurden. Aktuell wird in einigen Städten, unter anderem in Göttingen und Hannover, in Modellprojekten der anonyme Krankenschein erprobt (Mylius/Meyer 2015).
Darüber hinaus soll nach Wunsch des Gesetzgebers mit dem am 24.10.2015 in Kraft getretenen „Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz“ die medizinische Versorgung von Flüchtlingen verbessert werden. Die gesetzlichen Krankenkassen sollen demnach von den Ländern verpflichtet werden können, gegen Kostenerstattung die Krankenbehandlungen bei Asylbewerbern zu übernehmen, die speziell für die Behandlung von Flüchtlingen, die Folter, Vergewaltigung oder schwere psychische oder physische Gewalt erlitten haben. Diese Regelung greift für Flüchtlinge allerdings erst ab dem 15. Monat ihres Aufenthalts in Deutschland. Ab diesem Zeitpunkt sind Flüchtlinge leistungsrechtlich weitgehend den GKV-Versicherten gleichgestellt (GKV-Spitzenverband 2015). In den ersten 15 Monaten ihres Aufenthalts haben Asylbewerber weiterhin nach § 4 des Asylbewerberleistungsgesetzes einen eingeschränkten Anspruch auf medizinische Versorgung.
Eine weitere Neuerung ist, dass Bundesländer eine elektronische Gesundheitskarte für Flüchtlinge einführen können (Deutsches Ärzteblatt 2015). In mittlerweile drei Bundesländern (in Bremen bereits seit 2005 und bekannt als „Bremer Modell“, Hamburg und neuerdings Nordrhein-Westfalen) erhalten Asylbewerber kurz nach der Antragstellung eine elektronische Gesundheitskarte von kooperierenden Krankenkassen, mit der die medizinische Versorgung nach dem Asylbewerberleitungsgesetz abgerechnet werden kann.
Ausblick
Neben dem beschriebenen politischen Handlungsbedarf gibt es aus Sicht der Wissenschaft weiterhin großen Forschungsbedarf. Trotz des Eingangs der Studie beschriebenen gestiegenen öffentlichen, politischen und wissenschaftlichen Interesses an der Lebenssituation von Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus besteht weiterhin eine große Forschungslücke auf nationaler und internationaler Ebene. Sowohl über den Umfang von Papierlosen als auch deren Lebensbedingungen wie Bildung, Wohnsituation und Gesundheit liegen kaum umfassende wissenschaftliche Erkenntnisse vor. Die durchgeführten Experten- und Betroffeneninterviews beschränken sich auf die Stadt Hannover und den Stadtstaat Bremen. Daher ist eine bundesweite Studie zu empfehlen, die mehr Erkenntnisse über die medizinische Versorgung von Papierlosen sammelt, so dass zukünftig genauere Statistiken über Alter, Geschlecht, Krankheitsbilder, Häufigkeiten der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen, Versorgungsbedarf sowie Versorgungsbedürfnisse dieser Personengruppe zur Verfügung stehen. <<