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Die Perspektive für das Gesundheitswesen?

Erstveröffentlichungsdatum: 19.08.2008

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Jede Veränderung im deutschen Gesundheitswesen, die nicht mit einem Zugewinn an Macht oder Geld verbunden ist, stößt auf den härtesten Widerstand der Betroffenen. Nur selten werden die Chancen und Perspektiven der ineinander greifenden Gesetzgebungsmaßnahmen erkannt und gewürdigt. Der folgende Beitrag analysiert die Entwicklungstrends seit der Blümschen Gesundheitsreform 1988, zeigt Handlungsmöglichkeiten zum gegenwärtigen Zeitpunkt auf und gibt einen Ausblick auf kommende Veränderungen.

> Bis zum 31.12.1988 galt in der Bundesrepublik Deutschland die Reichsversicherungsordnung (RVO) aus dem Jahr 1911. Dies ist auf der einen Seite sicherlich ein Beleg für die Stabilität des Gesundheitswesens und der Sozialordnung, in Wachstums- wie in Krisenzeiten. Die Fortgeltung Wilhelminischen Rechts bis fast zur Wiedervereinigung zweier durch den 2. Weltkrieg getrennter Staaten ist aber auch ein Beleg dafür, dass sich das System der gesetzlichen Krankenversicherung lange Zeit gegenüber Anpassungsnotwendigkeiten an die sozio-ökonomische Entwicklung erfolgreich gewehrt hat. Beispiele dafür bieten nicht nur zwei gescheiterte Gesundheitsreformen in der Zeit Konrad Adenauers. Auch die konjunkturabhängigen Anpassungsschritte der siebziger und achtziger Jahre mit einer unkontrollierten Leistungsausweitung und einer fragmentierten Kostendämpfungspolitik geben reichlich Anschauungsmaterial. Erst Norbert Blüm und sein Abteilungsleiter Karl Jung unternahmen mit dem GesundheitsReformgesetz (GRG) aus dem Jahr 1988 den Versuch, die notwendige Neukodifizierung des Krankenversicherungsrechts als Herzstück der Steuerung im Gesundheitswesen mit strukturellen Reformen zu verbinden, die in eine neue Zeit führen sollten. Auch wenn viele – der Autor eingeschlossen – damals glaubten, eine Jahrhundertreform zu bewerkstelligen und zu Recht auf neuartige Instrumente – wie Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit oder Festbeträge für Arznei- und Hilfsmittel- stolz waren – dauerte das Jahrhundert nur vier Jahre, bis neue Anpassungen notwendig waren und bis der Teil, der aus der Blümschen Gesundheitsreform bewusst ausgeklammert war, in Lahnstein von einer informellen Großen Koalition verbunden mit den Namen Seehofer und Dressler die Weichen zu einem wettbewerblich geprägten Krankenversicherungs- und Gesundheitssystem stellten.
Mit dem Kompromiss von Lahnstein zum Gesundheits-Strukturgesetz (GSG) wurde das alte Ordnungssystem der gesetzlichen Krankenkassen aus einer Kombination von Zuweisung und Wahlmöglichkeiten aus den Angeln gehoben und schrittweise durch ein wettbewerbliches, allein auf der Wahlentscheidung der Versicherten beruhendes Ordnungssystem ersetzt. Als Voraussetzung für die vielfach bekämpfte Einführung der Kassenwahlfreiheit wurde ein kassenartenübergreifender Risikostrukturausgleich zur Gewährleistung von Solidarität und Gerechtigkeit eingeführt. Beide Instrumente stellen bis heute die wesentliche Grundlage für die Herstellung der Balance von Wettbewerb und Solidarität im Gesundheitswesen dar. Auf der einen Seite können die Versicherten mit den Füßen abstimmen, wenn ihnen das Angebot einer Krankenkasse zum verlangten Preis nicht zusagt. Auf der anderen Seite verhindert der Risikostrukturausgleich, dass sich Kassen allein um junge, wohlhabende, gesunde Versicherte kümmern und sich gegen alte, arme, kranke und/oder kinderreiche Versicherte abschirmen. In der Folgezeit wurden – vor allem bei der Kassenorganisation und im Leistungs-, Mitgliedschafts- und Versicherungsrecht der GKV – zahlreiche Anpassungsschritte unternommen, die sich nahezu zwangsläufig aus der Grundentscheidung für eine wettbewerbliche Orientierung im Gesundheitswesen ergaben.
So wurden Privilegien einzelner Kassenarten abgeschafft und Sondersysteme wie zum Beispiel die Bundesknappschaft für den Wettbewerb geöffnet. Vor allem aber wurde der Risikostrukturausgleich schrittweise zu einem Feinsteuerungsinstrument ausgebaut. Den Gegnern dieses Ausgleichs, die sich fast ausschließlich aus denjenigen Kassen rekrutierten, die mehr in den Ausgleich einzahlten als sie heraus bekamen, gelang es allerdings, die Umsetzung des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs, die bereits zu Beginn der Amtszeit von Ulla Schmidt beschlossen wurde, immer wieder hinaus zu zögern. So wird erst der Gesundheitsfonds ab 2009 einen vollständigen Einnahmeausgleich bringen und die direkte Morbiditätsorientierung für 80 Krankheitsgruppen einführen, die alle wesentlichen schwerwiegenden und/oder chronischen Erkrankungen enthalten.

Zwischen Korporatismus und Einzelverträgen – Das Verhältnis von Krankenkassen zu Leistungserbringern
Weniger konsequent verlief die Entwicklungslinie hin zu mehr Wettbewerb im Verhältnis von Krankenkassen zu Leistungserbringern. Hier ist seit 20 Jahren ein zähes Ringen zwischen korporatistischen und einzelvertraglichen Ansätzen zu beobachten. Dies gilt prinzipiell für alle Versorgungsbereiche. So behauptet sich das unter Adenauer restaurierte System der Kassenärztlichen Vereinigungen mit Zwangsmitgliedschaft für alle niedergelassenen Ärzte, die GKV-Patienten behandeln wollen, gegen zahlreiche Versuche, über Einzelverträge mehr Wettbewerb zu initiieren. Schon die Blümsche Gesundheitsreform ging einen ersten zaghaften Schritt mit der Einführung von Modellklauseln und Erprobungsregelungen. Für begrenzte Zeit und unter wissenschaftlicher Begleitung konnten und können alle Regelungen des Leistungserbringerrechts im SGB V durch vertragliche Vereinbarungen außer Kraft gesetzt werden. Die Kassenärzte hielten aber ihre Reihen fest geschlossen. Abweichungen wurden nur akzeptiert, wenn dafür mehr Geld überwiesen wurde. Aus den Erprobungsregelungen entwickelte sich zwar manches lokale Versorgungsprojekt mit Vorbildcharakter, flächendeckende Steuerungswirkung entfalteten diese nicht. Weitergehende Öffnungsklauseln im Kassenarztrecht wurden bereits in der Diskussionsphase durch die geballte Lobbymacht der niedergelassenen Ärzte verhindert.
Diese Macht bekamen insbesondere Polikliniken und Fachambulanzen in der früheren DDR zu spüren, die im Prozess der Wiedervereinigung unter die Räder des westdeutschen Korporatismus gerieten. Hand in Hand ließen Ärzte und Kassenfunktionäre diese Einrichtungen, die über kein Pendant im Westen verfügten, am langen Arm verhungern. Es war allein dem unermüdlichen Einsatz von Regine Hildebrandt, der Gesundheitsministerin in der letzten, frei gewählten DDR-Regierung und späteren Gesundheits- und Sozialministerin von Brandenburg, zu verdanken, dass wenige Einrichtungen als Exoten eine befristete und begrenzte Überlebenschance erhielten. Es dauerte 15 Jahre bis mit dem Gesundheits-Modernisierungsgesetz (GMG) aus dem Jahr 2003 Medizinische Versorgungszentren mit freiberuflichen oder angestellt tätigem ärztlichen Personal eine dauerhafte Existenzgrundlage im Gesamtdeutschland erhielten. Früher als sozialistisches Teufelszeug verdammt, wächst heute diese neue Organisations- und Betriebsform als attraktive Alternative zur Einzel- oder Gemeinschaftspraxis. Der Versuch, die Modernisierung der Betriebsorganisation im ambulanten Sektor durch berufsrechtliche Hindernisse zu verlangsamen oder zu stoppen, ist weitgehend erfolglos geblieben. Hier hat insbesondere das Vertragsarztrechtsänderungsgesetz (VÄG) aus dem Jahr 2006 wesentliche Hilfe zur Flexibilisierung gebracht.
Noch resistenter gegenüber wettbewerblichen Vertragsgestaltungen zeigt sich der Krankenhausbereich. Behinderer und Blockierer reichen sich die Hände über die Grenzen von politischen Ideologien und regionalen Bezügen hinweg. Die Prolongierer des Status quo finden sich in Landesregierungen, Kommunalverwaltungen, Gewerkschaften, Kirchen und Wohlfahrtsverbänden. Aber auch die Krankenkassen strotzten lange Zeit nicht vor Kreativität, wie Wettbewerb im Krankenhaussektor organisiert werden könnte. Speziell die Verbände der Kassen, deren antiquitierter Struktur Ulla Schmidt im GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) aus dem Jahr 2007 ein Ende bereitete, konnten sich bis zum Ende des alten Jahrhunderts kaum mit Wettbewerbsgedanken im Krankenhaussektor anfreunden. Aufgrund der komplexen verfassungsrechtlichen Lage – der Bund ist nur für die Grundsätze der Krankenhausfinanzierung zuständig, für die konkrete Investitionsfinanzierung und für die innere Organisation der Krankenhäuser sind die Bundesländer zuständig – und des geballten Widerstandes der Krankenhäuser und ihrer Organisationen fehlt es bis heute an einzelvertraglichen Regelungen. Und leider wird es vorerst auch dabei bleiben.
Zwar konnten die Häuser und die Bundesärztekammer angesichts der gewaltigen Fehlsteuerungen im alten Krankenhausfinanzierungssystem über tagesgleiche Pflegesätze nicht verhindern, dass unter Andrea Fischer mit der Gesundheitsreform 2000 der schrittweise Einstieg in ein modernes Fallpauschalensystem beschlossen wurde, das sich mittlerweile zum Exportschlager in andere Ländern entwickelt. Doch der mit dieser Grundentscheidung für ein leistungsorientiertes Entgeltsystem, das für gleiche Leistungen auch gleiche Preise vorsieht, gestiegene Wettbewerbsdruck auf die einzelnen Häuser konnte bisher nicht in ein adäquates Vertragssystem überführt werden. Die Bundesländer kleben an ihrer Krankenhausplanungskompetenz und am Kontrahierungszwang ebenso wie an der dualen Krankenhausfinanzierung, die angesichts der chronischen Finanznot in den Ländern nicht nur anachronistisch wirkt, sondern beträchtlich zu einem Investitionsstau in vielen Ländern beigetragen hat.
Auch im Arzneimittelsektor wogt der Kampf zwischen kollektiven und individuellen Steuerungsansätzen hin und her. Während Norbert Blüm Arzneimittelfestbeträge nach harten Auseinandersetzungen mit der FDP einführen durfte, musste Horst Seehofer sie auf Druck derselben Partei wieder einschränken. Ulla Schmidt stellte den ursprünglichen Rechtszustand wieder her, musste aber auch erkennen, dass die Reichweite dieses Steuerungsinstruments auf bestimmte Marktsegmente begrenzt ist. Alle Gesundheitsministerinnen und -minister seit Blüm versuchten der dynamischen Entwicklung von Preisen, Mengen und Struktur in der Arzneimittelversorgung mit speziellen Instrumenten entgegen zu wirken, so dass sich heute eine Vielzahl von Regularien gegenüberstehen, deren Wirkungen sich teilweise konterkarieren. Ob der von Ulla Schmidt eingeschlagene Weg einzelvertraglicher Rabattverträge das Potenzial besitzt, viele andere Regulierungen abzulösen, muss erst unter Beweis gestellt werden.
In vielen anderen Versorgungsbereichen, deren finanzielle Dimensionen einzeln geringfügig erscheinen, die insgesamt aber durchaus relevante Ausgaben verursachen, die in der Regel schneller als die Einnahmen wachsen, hat der Gesetzgeber zwar Spielräume für wettbewerbliche Gestaltungen geschaffen, doch werden diese in der Praxis oft nicht genutzt oder durch Aufsicht und Rechtsprechung restriktiv begrenzt. Exemplarisch sei nur die Ausschreibung für Hilfsmittel oder die Vertragsfreiheit im Reha-Bereich genannt.

Zaghafte Versuche zur Überwindung der Sektorengrenzen – Neue Versorgungsformen
Vor allem ist die starke Sektorierung des deutschen Gesundheitswesens selbst eine wesentliche Ursache für Fehlsteuerungen und Hindernis für eine Verbesserung von Qualität der Versorgung und Effizienz des Ressourceneinsatzes. Versuche, der Abschottung der Sektoren über integrative Lösungen zu begegnen, reichen bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts zurück, stießen aber immer auf den Widerstand etablierter Institutionen und blieben häufig im Experimentierstadium stecken. Auch erwies und erweist sich noch immer als schwierig, einen regulatorischen Rahmen für integrierte Versorgung in einem strukturen- und sektorenorientierten Gesundheitsrecht zu formulieren. Erst unter Andrea Fischer gelang es, Integrationsversorgung als neue Form der Regelversorgung im SGB V zu verankern. Allerdings erwiesen sich die Beteiligungsrechte der Verbände von Kassen und Kassenärzten als ebenso kontraproduktiv wie der Versuch, gesetzlich eine Bereinigungsregelung gegenüber der ärztlichen Gesamtvergütung und der Krankenhausbudgets zu schaffen. Erst mit dem GMG wurde eine finanzielle Anschubregelung mit pauschaler Ausgrenzung von je 1 % der ärztlichen Vergütung und der Krankenhausvergütung geschaffen. Die brach den Bann, so dass in wenigen Jahren Tausende von Integrationsverträgen abgeschlossen wurden.
Da der Gesetzgeber bewusst auf eine Evaluationsregelung verzichtete, ist eine echte Bewertung des Versorgungsgeschehens im sektorübergreifenden Bereich bis heute schwierig. Auch ist eine Prognose, wie sich die integrierte Versorgung unter den Bedingungen des Gesundheitsfonds ohne Anschubfinanzierung entwickeln wird, kaum seriös. Die Dynamik, die sich im Versorgungsgeschehen sektorübergreifend durch bessere Kommunikation, Koordination und Kooperation entwickelt hat, dürfte allerdings kaum zu bremsen sein. Die künftige Finanzierung integrativer Leistungen bleibt auf der Tagesordnung der kommenden Gesundheitsreform. Ein Weg wäre denkbar, für neue Versorgungsformen einen speziellen Anteil aus dem Gesundheitsfonds – gegebenenfalls als Kofinanzierung – zu reservieren. Der Integrationsprozess beschleunigt wettbewerbliche Ansätze in der vertragsärztlichen Versorgung, die nicht auf diesen Sektor begrenzt bleiben. So genannte besondere Versorgungsformen wie ambulantes Operieren, hausarztgestützte Versorgung oder besondere Qualitätsverträge ermöglichen Einzelverträge zwischen Krankenkassen und einzelnen oder Gruppen von Ärzten.
Insbesondere bei der Ausgestaltung der hausärztlichen Versorgung konkurrieren Kassenärztliche Vereinigungen mit freien Ärzteverbänden und -verbünden, die nicht nur in Baden-Württemberg einen erheblichen Wettbewerbsdruck auf etablierte Monopolisten entfalten. Und dabei wird mit harten, teilweise unfairen Bandagen gekämpft.
Gerade die permanente Diskussion um Hausarztverträge zeigt, wie politisch ambivalent das Thema Vertragswettbewerb ist. Ob das Vertragsprivileg für Hausärzteverbände, das das GKV-Organisations-Weiterentwicklungsgesetz (GKV-OrgWG) ihnen einräumen will, verfassungsrechtlich haltbar ist und zur Verbesserung der hausärztlichen Versorgung führt, werden erst die nächsten Jahre zeigen.

Ansätze zur wettbewerblichen Ausdifferenzierung – Die Verknüpfung von Leistungs- und Vertragsrecht
Auch wenn manchem Kritiker aus Wissenschaft und Praxis die Wettbewerbsintensität noch nicht weit genug geht, während andere die Ökonomisierung des Gesundheitswesens beklagen, an einer Ausdifferenzierung der Versorgungslandschaft durch einzelwirtschaftliche Verträge kommt niemand mehr vorbei. Diese Ausdifferenzierung wird sich unter den Bedingungen des Gesundheitsfonds mit Zusatzbeiträgen weiter erhöhen. Die Kassen werden jede Möglichkeit ergreifen, bei Wahrung oder Verbesserung der Versorgungsqualität ihre Ressourcen effizienter und zielgerichteter einzusetzen. Dazu trägt bei, dass Krankenkassen Versorgungsangebote mit Anreizen für Leistungserbringer und Versicherte verknüpfen können. Zahlreiche Verträge, insbesondere in den eingeführten strukturierten Programmen zur Versorgung chronisch Kranker (neudeutsch: Disease-Management-Programme – DMP), haben bei einheitlicher Programmausrichtung unterschiedliche Anreizsysteme entwickelt, die unter dem neuen morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich zu hinterfragen sind.
Das Schwergewicht wettbewerblicher Differenzierungen bei einheitlichem Beitragssatz und möglichst zu vermeidendem bzw. niedrig anzusetzendem Zusatzbeitrag, der allein vom Versicherten zu tragen ist und ein starkes Preissignal aussendet, liegt künftig bei der Ausgestaltung der Versorgung. In diesem Feld werden sich die Krankenkassen über Wahltarife und über neue Formen des versichertenbezogenen Gesundheitsmanagements wie beispielsweise Gesundheitscoaching differenzieren. Sie beschränken sich nicht nur auf simple PKV-geprägte Modelle mit Kostenerstattung, Beitragsrückgewähr und Selbstbehalt, sondern sollen so ausgestaltet sein, dass sie Anreize für Versicherte bieten, Versorgungsangebote entsprechend individueller Präferenzen und gesundheitlichen Bedarf zu wählen. Der Gesetzgeber erhofft sich damit einen Wandel von der bisher primär auf den Beitragssatz fixierten Ausrichtung hin zu einem qualitätsorientierten Wettbewerb, in dem das Preis-Leistungs-Verhältnis der entscheidende Wettbewerbsparameter ist. Gestützt wird diese Umorientierung durch den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich, der vermehrte Anstrengungen der Krankenkassen verlangt, ihre Versicherten im Rahmen der differenzierten Normkostenprofile zu versorgen. Managementversäumnisse dort schlagen sich in Zusatzbeiträgen nieder.

Kooperationen und Fusionen – Die Auswirkungen auf Organisations- und Betriebsformen
Mit relativer Sicherheit werden die Rechtsänderungen der letzten fünf Jahre zu erheblichen Veränderungen bei Versicherern wie Versorgern führen. Unter den Krankenkassen hat die Fusionswelle bereits begonnen. Diese wird nicht – wie manch ideologisch verblendeter Journalist seinen Leserinnen und Lesern weiszumachen versucht – zur Einheitsversicherung führen, gleichwohl aber die Zahl der Krankenkassen deutlich reduzieren und einen Zwang zur Bildung von managementfähigen Einheiten ausüben. Nur wer die wettbewerblichen Instrumente im Verhältnis zu den eigenen Mitgliedern wie den eigenen Vertragspartnern gezielt einzusetzen weiß, hat eine Überlebenschance im Kassenwettbewerb. Wer dies nicht kann oder will, muss fusionieren oder geschlossen werden. Im Extremfall können nach den GKV-OrgWG auch regionale Krankenkassen künftig insolvent werden. Vor allem aber müssen alle Krankenkassen künftig nach einheitlichen handelsrechtlichen Grundsätzen bilanzieren, so dass die Finanzsituation einer Kasse deutlich transparenter wird.
Aber auch die Leistungserbringerseite wird sich gewaltig verändern. Die Einzelpraxis dürfte außerhalb der hausärztlichen und fachärztlichen Grundversorgung ein Auslaufmodell werden. Gemeinschaftspraxen und vor allem Medizinische Versorgungszentren dürften ihren Marktanteil stark erhöhen. Darauf weisen die Aktivitäten der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zur Schaffung eigener Trägergesellschaften sowie Expansionspläne privater Krankenhausketten deutlich hin. Nicht nur in der Wissenschaftsszene und in der Beraterwelt werden integrierte Gesundheitskonzerne intensiv diskutiert. Innovative Kräfte arbeiten daran.
Der Krankenhausmarkt wird sich ebenfalls spürbar verändern. Seit Jahren geht die Zahl der Häuser und der Betten zurück, auch wenn Deutschland in der Bettendichte und der Verweildauer noch immer Spitzenplätze einnimmt. Immer mehr öffentliche Häuser werden an private Träger verkauft, oder das Management wird in private Hände gelegt. Ohne eine Reform der Krankenhausinvestitionsfinanzierung wird sich dieser Trend beschleunigen. Generell sorgen Fusionen und Kooperationen für ein besser abgestimmtes Angebot an Krankenhausleistungen. Die unterschiedlichen Möglichkeiten der Krankenhäuser zur Öffnung in den ambulanten Bereich werden noch lange nicht in dem Umfang genutzt, wie der Gesetzgeber sich das vorstellt. Dies liegt auch daran, dass in den meisten Bundesländern die mit dem GKV-WSG geschaffene Öffnungsmöglichkeit für seltene Erkrankungen oder hochspezialisierte Leistungen restriktiv gehandhabt wird. Die Öffnung der Krankenhäuser durch Einzelverträge mit den Krankenkassen ist im Übrigen ein gutes Beispiel dafür, dass es nicht genügt, den Akteuren wettbewerbliche Spielräume zu schaffen. Unter den geltenden Organisations- und Finanzierungsbedingungen ist die bloße Möglichkeit zur wettbewerblichen Differenzierung nicht ausreichend. Bisweilen muss der Gesetzgeber Vertragsparteien zu ihrem Glück zwingen. Vor allem muss der Gesetzgeber die Wirtschaftlichkeitsanreize so setzen, dass sie für beide Vertragsparteien vorteilhaft wird.

Nach der Reform ist vor der Reform – Die Fortsetzung des Reformpfades
„Nach der Reform ist vor der Reform!“ ist also ein unumstößlicher Grundsatz der Gesundheitspolitik. Im Jahr 2009 werden sich alle Parteien erneut für die gesundheitspolitische Diskussion im Bundestagswahlkampf 2009 und in der praktischen Politik ab 2010 rüsten. Der grundsätzliche Pfad einer auf Qualität und Effizienz ausgerichteten Wettbewerbsorientierung im Gesundheitswesen dürfte dabei kaum verlassen werden. Zwar träumen nicht wenige Akteure des Gesundheitswesens und einige politisch Verantwortliche von der Rückkehr zu guten alten Zeiten, als Ressourcenbegrenzungen nicht wahrgenommen wurden oder nicht zu schmerzhaften Anpassungsschritten zwangen. Doch der gesundheitspolitische „mainstream“ wird – mit wahrnehmbaren Differenzierungen zwischen den einzelnen Parteien – den eingeschlagenen Weg fortsetzen. Dabei gibt es genug zu tun.

Von korporatistischer Steuerung zu einzelwirtschaftlichem Wettbewerb
Das Verhältnis von korporatistischer Steuerung und einzelwirtschaftlichem Wettbewerb muss zugunsten einzelwirtschaftlicher Vertragsmöglichkeiten verschoben werden. Dies gilt sowohl für den ambulanten wie für den stationären Bereich. Die Möglichkeit zum Abschluss von Einzelverträgen mit Ärzten oder Arztgruppen sollte nicht auf besondere Versorgungsformen beschränkt bleiben. In der stationären Versorgung sollte für elektive Eingriffe selektives Kontrahieren möglich werden. Dieser Einstieg könnte schrittweise unter den Bedingungen einer bald monistischen Krankenhausfinanzierung in ein Vertragsmodell münden. Zahl und Inhalt der regulierenden Eingriffe in die Arzneimittelversorgung müssen deutlich zugunsten weniger, aber wirksamerer Steuerungsinstrumente reduziert werden, wobei zu berücksichtigen ist, dass die pharmazeutische Industrie kaum noch neue Blockbuster entwickeln wird, sondern sich auf extrem hochpreisige Spezialpräparate konzentrieren wird und eine individualisierte Arzneimitteltherapie absehbar ist.
Zur Intensivierung des Wettbewerbs zwischen ambulant und stationär, dessen Feld angesichts der medizinischen und technischen Möglichkeiten größer wird, müssen faire Wettbewerbsbedingungen für beide Seiten geschaffen werden. Dazu gehört eine vergleichbare Honorierung vergleichbarer ärztlicher Leistungen unter Berücksichtigung von Investitionsfinanzierung und Vorhaltekosten und vor allem eine Reform der Bedarfsplanung in beiden Sektoren. Gerade bei der Bedarfsplanung bietet sich die Chance, diese Sektorengrenzen zu überwinden und die Effektivität der Planung zu erhöhen. Dazu müsste auf eine betten- bzw. arztsitzscharfe Planung verzichtet werden, die bisher weder Unter- noch Überversorgung verhindert hat. Vielmehr könnte die Bedarfsplanung auf eine indikatorengestützte integrative Rahmenplanung reduziert werden, deren Ausgestaltung der freien Vertragsgestaltung von Krankenkassen und Leistungserbringern überlassen wird. Der Staat sollte erst dann ins Spiel kommen, wenn die Indikatoren Hinweise auf (drohende) Unterversorgung liefern oder wenn eine extrem unwirtschaftliche Überversorgung nicht abgebaut wird. Dies setzt aber voraus, dass die Aufsichten in den Bundesländern inhaltlich und personell so ausgestattet werden, dass sie diese Aufgabe – notfalls mit Kontrahierungszwang – erfüllen können. Heilsamen Druck auf die Krankenkassen dürfte auch ein Recht der Versicherten ausüben, gegebenenfalls Nichtvertragspartner in Anspruch nehmen zu dürfen.

Von der Strukturbeschreibung zur Prozesssteuerung
Insgesamt muss das Gesundheitsrecht stärker von der Strukturbeschreibung hin zur Prozessorientierung verändert werden. Speziell die Ergebnisqualität, die bisher im Rahmen der Qualitätssicherung und des Qualitätsmanagements eine eher untergeordnete Rolle spielt, muss stärker in den Fokus von Regulierung und Vertragspolitik genommen werden. Die mit dem GKV-WSG eingeführte sektorübergreifende Qualitätssicherung ist ein erster wichtiger Schritt dazu. Weitere müssen folgen.

Zur Bedeutung des Wettbewerbs- und Kartellrechts
Intensiv diskutiert werden muss die Frage, wie weit ein stärker wettbewerblich orientiertes Gesundheitswesen den Grenzen des allgemeinen Wettbewerbs- und Kartellrechts unterliegen soll. Unzweifelhaft muss es eine Regulierung zur Gewährleistung eines fairen Wettbewerbs geben. Dabei sind aber die Besonderheiten der flächendeckenden Versorgung und der Anbieterdominanz im Gesundheitswesen zu berücksichtigen. So mutet es mehr als merkwürdig an, dass eine aus versorgungspolitischen Gründen notwendige Fusion von Krankenhäusern vom Bundeskartellamt gestoppt und erst durch eine auf Forschungsaspekte gestützte Ministererlaubnis möglich geworden ist. Auch ist zu berücksichtigen, dass die Intensivierung des Wettbewerbs neben einer Qualitätsverbesserung mehr Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen bringen soll. Schließlich muss eine flächendeckende Versorgung in zumutbarer Entfernung aller Versicherten gewährleistet bleiben. Es ist nicht das Ziel von Wettbewerb im Gesundheitswesen bestehende Anbieterstrukturen zu schützen oder Einkünfte zu maximieren. Mit dem GKV-OrgWG werden deshalb weitere Teile des Wettbewerbs- und Kartellrechts im Sozialrecht für anwendbar erklärt, ohne die Besonderheiten des Gesundheitsmarktes außer acht zu lassen.

Zur Konvergenz von GKV und PKV
Auf mittlere bis längere Sicht wird die Konvergenz von gesetzlicher und privater Krankenversicherung diese und andere Fragen neu aufwerfen. Die Krise auf dem internationalen und nationalen Finanzmarkt hat mantraartige Forderungen, die GKV auf Kapitaldeckung umzustellen, leiser werden lassen. Selbst innerhalb der PKV-Landschaft mehren sich die Stimmen, die eine Prolongierung des Status quo in Frage stellen. Abgesehen davon, dass es sozialpolitisch nicht zu rechtfertigen ist, nur bestimmten Gruppen Zugang zur PKV zu verschaffen und soziale Lasten allein in der GKV zu konzentrieren, dürfte der steigende Kostendruck (in der PKV steigen die Prämien rund doppelt so schnell wie die Beiträge in der GKV) die Versicherungswirtschaft dazu bewegen, die Harmonisierung mit dem Ziel der Schaffung eines einheitlichen Ordnungsrahmens für GKV und PKV positiver zu bewerten, als sie das heute tut.
Damit verbunden ist die Frage der künftigen Finanzierung von Gesundheitsleistungen. Auch in der nächsten Legislaturperiode wird erneut zu diskutieren sein, ob die Fixierung der GKV-Beiträge auf Löhne und Gehälter bzw. deren Ersatz zukunftsweisend ist. Ob die Verbeitragung sonstiger Einkünfte der Königsweg zur Verbreiterung der Einnahmen und zur Herstellung von mehr Belastungsgerechtigkeit ist, wird zu hinterfragen sein. Die Alternative in Form höherer Steuerzuschüsse an die Krankenversicherung dürfte weiter im Rennen bleiben.

Best practice im Systemvergleich
Schließlich dürfte vor der nächsten Reform ein Blick über die Grenzen Deutschlands wiederum hilfreich sein. Dabei dürfte sich das Augenmerk speziell auf die Erfahrungen der Niederländer mit ihrer Neuordnung von Versicherungslandschaft und Finanzierung richten. Aber auch die Erfahrungen der skandinavischen Länder, die einen hohen Integrationsgrad in der Gesundheitsversorgung erreicht haben, sollten die Diskussion in Deutschland befruchten. Speziell in der Arzneimittelversorgung, wo multinationale Hersteller das Angebot dominieren, werden nationale Strategien ihre Grenzen finden. Selbst eine große deutsche Kasse dürfte keinen gleichgewichtigen Verhandlungspartner für einen Weltkonzern bedeuten. Daher bieten sich transnationale Lösungen ebenso an wie der Blick auf andere Länder, hier speziell die Schweiz, Frankreich oder Großbritannien, wo die pharmazeutische Industrie ebenfalls eine große wirtschaftliche Rolle spielt. Schließlich lohnen sich Besuche in den USA und Diskussionen mit den dortigen Fachleuten immer. Das betrifft zwar nicht die Systemsteuerung als Ganzes auf der Makroebene. Im Fokus hier stehen die Instrumente zur Feinsteuerung, die sich nach dem „backslash“ von Managed Care in den neunziger Jahren zu einer differenzierten und zunehmend effektiveren Steuerungsphilosophie verdichtet haben.

Fazit
Wenn sich der Pulverdampf um die aktuelle Gesundheitsreform und den Fonds in Deutschland legt, kann man erkennen, dass die Gesundheitsreformen der letzten Jahre im Zusammenwirken den Weg für eine durchgehende wettbewerbliche Orientierung im Gesundheitswesen geschaffen haben, ohne die solidarische Ausgestaltung des Systems in Frage zu stellen. Der Prozess der Umgestaltung ist allerdings noch keineswegs abgeschlossen. Zum einen ist die Regulierung im Gesundheitswesen stets strategieanfällig. Zum anderen fehlen in den einzelnen Versorgungssektoren wettbewerbliche Anreize völlig oder sind mit Hemmnissen behaftet. Der Anspruch, Integrationsversorgung als Regelversorgung zu etablieren, konnte bisher nicht erfüllt werden. Hierzu müssen neue Anreize, wie beispielsweise ein gesonderter F + E-Topf im Gesundheitsfonds, diskutiert werden. Planungs- und Finanzierungsstrukturen müssen auf Integrationsziele ausgerichtet und entbürokratisiert werden. Im Mittelpunkt von Regulierungen und Vereinbarungen müssen Versicherte und Patienten stehen, die über Wahlentscheidungen und Partizipation die Steuerung des Gesundheitswesens auf allen Bereichen beeinflussen können. Der Kurs in Richtung Wettbewerb ist unumkehrbar, allerdings durchaus unterschiedlich ausgestaltbar. Nur wer in diesem Wettbewerb eigene Aktivitäten entwickelt, wird längerfristig von diesem Weg profitieren. <<