Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA), sowohl im Sinne des Digitalen-Versorgung-Gesetzes von 2019 als patientenzentrierte Anwendungen als auch im Sinne einer Verwendung von telemedizinischen Lösungen auf Seiten der Versorger (z.B. Telekonsile, Elektronische Akten), werden zunehmend als echte klinische Intervention anerkannt (Kowatsch et al. 2019). Sie haben das Potenzial die Versorgung belegbar zu ergänzen und zu verbessern sowie Prozesse effektiver zu gestalten (Eysenbach 2001; World Health Organisation (WHO) 2015). Dennoch werden innovative digitale Anwendungen in Deutschland, wie auch in vielen anderen westlichen Gesundheitssystemen, heute häufig nicht in der Regelversorgung etabliert (Huang et al. 2017). Die Verbreitung einer Neuerung innerhalb eines bestehenden Systems wird in der Wissenschaft mit dem Begriff der Diffusion und der zugehörigen Theorie der Diffusion von Innovationen (Rogers 2003) beschrieben. In der Praxis wird eher vom Phänomen der mangelnden Skalierungsfähigkeit (engl. scale up) gesprochen. Dieses Phänomen unterstreicht vor allem, dass es für digitale Innovationsprojekte ein zentrales Problem darstellt, die Erprobungsphase im Projektkontext zu verlassen und den Wirkungskreis auf die Regelversorgung auszuweiten (Häckl 2010; Gersch and Rüsike 2011).
>> Innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherungen wurden mit dem Inkrafttreten des Gesetzes für eine bessere Versorgung durch Digitalisierung und Innovation (Digitale-Versorgung-Gesetz DVG) am 19. Dezember 2019 erste Voraussetzungen für die Erstattungsfähigkeit von DiGA durch die Regelversorgung geschaffen und damit der Markteintritt wesentlich erleichtert. Voraussetzung für die Erstattungsfähigkeit durch die gesetzlichen Krankenkassen ist dabei die Aufnahme der DiGA in das DiGA-Verzeichnis, welches durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) geführt wird.
Um die Diffusion und die Skalierungsfähigkeit digitaler Innovationen im Kontext des Deutschen Gesundheitssystems aktiv weiter voran zu treiben, sind in diesem Beitrag konkrete Forderungen für zukünftige Schritte auf Seiten von Politik und Selbstverwaltung formuliert. Diese sollen dabei helfen, bestehende Barrieren der Entwicklung, Implementierung und begleitenden Evaluation von DiGA im Deutschen Gesundheitssystem abzusenken.
Forderungen zur erfolgreichen Entwicklung, Implementierung und Evaluation von digitalen Gesundheitsanwendungen – eine Auswahl
Überblick zum Forderungskatalog
Die Forderungen basieren auf den wissenschaftlichen Ergebnissen der Nachwuchsforschergruppe Care4Saxony, welche innerhalb der dreijährigen Projektlaufzeit (07/2017-09/2020) das Potenzial von DiGA untersucht hat. Im Rahmen dieses Beitrags werden ausgewählte Forderungen vor dem Hintergrund bestehender Ansätze zur Evaluation und Implementierung digitaler Anwendungen im Gesundheitswesen, wie beispielsweise dem NICE-Framework des britischen Nationalen Gesundheitsdienstes (NHS), vorgestellt.1 Die Forderungen leiten dazu an, die Evidenzbasis zu digitalen Gesundheitsanwendungen zu verbessern und beziehen dabei die aktuellen Anpassungen des Verfahrens ihrer Zulassung in Deutschland, d.h. den BfArM-Fast-Track, mit ein.2
Die Forderungen sind in einem Forderungskatalog zusammengefasst und enthalten jeweils eine Rationale, welche den wissenschaftlichen Hintergrund beschreibt, und Konsequenzen, welche sich aus der jeweiligen Forderung ergeben. Zusätzlich ist jede Forderung ergänzt um eine Warnung zu potenziellen Problemen, die infolge einer Nichtberücksichtigung der Forderung entstehen können.3
In Abbildung 1 sind die Themengebiete des Forderungskatalogs zusammengefasst. Im vorliegenden Beitrag werden vier ausgewählte Forderungen dargestellt, die dezidiert die Entwicklung (1 – Standardisiertes Vorgehen), Implementierung (3 – Unterstützende Gemeinschaft) und Evaluation (5 – Evidenz durch Usability und Akzeptanz sowie 6 – Evidenz zu Wirksamkeit und Nutzen) von digitalen Gesundheitsanwendungen fokussieren. Als notwendige grundlegende Basisforderung steht die passende Qualifikation und Weiterentwicklung der digitalen Kompetenzen der Anwender von DiGA
im Mittelpunkt, welche sowohl im Rahmen des Medizinstudiums als auch im Bereich der Weiterbildung sowie in der Ausbildung von Heil- und Pflegeberufen gefordert werden. Ohne diese Kompetenzen wird eine breite Akzeptanz und Nutzung von digitalen Gesundheitsanwendungen schwieriger zu erreichen sein (Brockes et al. 2017).
Ein einheitliches Diffusionsframework ermöglicht standardisiertes Vorgehen bei Implementierung und Evaluation
Forderung: Für die Einführung und Bewertung von DiGA bedarf es eines standardisierten und gestuften Vorgehens. Hierzu schlagen wir die vier Stufen „Prototyp, Lösung mit erstem Pilottest, breitengetestete Lösung und am Markt befindliche Lösung“ (Broens et al. 2007) vor (s. Abb. 2).
Rationale: Digitale Anwendungen im Gesundheitswesen entstehen in unterschiedlichen Umgebungen und basierend auf unterschiedlichen Vorbedingungen und Vorarbeiten. Sowohl für Unternehmen, die sich in diesem Marktumfeld bewegen, als auch für diejenigen Organisationen des Gesundheitswesens, die über die Finanzierung solcher Lösungen entscheiden (etwa der Gemeinsame Bundesauschuss oder die Krankenkassen im Rahmen von Selektivverträgen), ist es schwierig, die Konformität der Lösungen mit bestehenden Regularien oder die Potenziale der Lösungen zu bewerten (Dittmar und Wohlgemuth, 2009).
Warnung: Eine unstrukturierte Entwicklung und Implementierung digitaler Anwendungen im Gesundheitswesen kann zu einer kritischen Projektverzögerung und zu einer Vielzahl identischer Lösungen führen (Lehmann und Bitzer, 2019). Jeweils individuell neue Herangehensweisen zu eruieren, ist ökonomisch wenig sinnvoll und widerspricht dem Entwicklungsprozess digitaler Anwendungen.
Regionale Strukturen unterstützen die Digitale Transformation
Forderung: Regionen und Interessengemeinschaften sollten im Rahmen ihrer Möglichkeiten die Implementierung von DiGA im Gesundheitswesen unterstützen. Durch die Bereitstellung von u.a. Ressourcen und administrativer Leitung können die Implementierung von DiGA und damit die Digitale Transformation der Gesundheitsversorgung innerhalb einer Region gelingen.
Rationale: Ob DiGA erfolgreich sind, hängt von verschiedenen Faktoren ab, u.a. von der Motivation der Endnutzer über die technischen Funktionalitäten bis hin zu rechtlichen oder finanziellen Rahmenbedingungen (Otto 2019).
Regionale und Interessengemeinschaften können dabei innerhalb der gültigen gesetzlichen und finanziellen Rahmenbedingungen eine zusätzlich unterstützende Rolle gegenüber den Endnutzern einnehmen (Edwards et al. 2000). Wir fordern, dass regionale Gemeinschaften und Interessengemeinschaften („communities“) dieser Rolle
gerecht werden. Die Unterstützung kann dabei vielfältig sein und reicht von der Bereitstellung finanzieller, personeller und technischer Ressourcen bis hin zur Organisation von Aufklärungskampagnen über Möglichkeiten und Vorteile von DiGA (Atkinson et al. 2009). Existierende Werkzeuge wie das „Reifegradmodell für Telemedizin in Gemeinschaften“4 können explizit dabei helfen, spezifische Unterstützungsmöglichkeiten je Gemeinschaft zu identifizieren.
Eine Unterstützung durch Gemeinschaften sollte immer dann erfolgen, wenn ein regionaler Bedarf für DiGA existiert. Dieser Bedarf kann anhand regionaler Strukturdaten (zu Soziodemografie, Krankheitsprävalenz und Versorgungsstrukturen, technischer und administrativer Infrastruktur) und strukturiert erhobener Bedürfnisse regionaler Akteure identifiziert werden (Khatun et al. 2015; Harst et al. 2019b).
Warnung: Regionale (Versorgungs-)Strukturen, administrative Prozesse und Netzwerke sollten die Implementierung von DiGA unterstützen, andernfalls droht die Gefahr der mangelnden Akzeptanz der Bevölkerung für die Anwendungen und die Gefahr der Implementierung nicht passfähiger Anwendungen.
Akzeptanz, Gebrauchstauglichkeit und die subjektive Wahrnehmung der Nützlichkeit bedingen Wirksamkeit von DiGA
Forderung: Sowohl die Gestaltung als auch die Gebrauchstauglichkeit (sog. Usability) einer Anwendung, sowie die Präferenzen von Patienten und Leistungserbringern sollten bereits in der Entwicklungsphase untersucht und auch als Evidenz für eine nachhaltig erfolgreiche Implementierung verstanden werden (Årsand und Demiris, 2008).
Rationale: Neben klinischen Parametern als traditionelle Maßeinheiten für die Wirksamkeit einer Intervention sind auch Akzeptanz oder die subjektive Wahrnehmung der Nützlichkeit und einfachen Bedienbarkeit durch die Endnutzer, also Patienten oder Leistungserbringer, wichtige Treiber für eine langfristige Nutzung von Telemedizin-Anwendungen (Harst et al. 2019a). Darin unterscheiden sie sich zumindest in Teilen von pharmakologischen Interventionen, obwohl auch hier mangelnde Bereitschaft zur regelmäßigen Einnahme die Wirkung beeinflussen kann. Outcomes wie gesundheitsbezogene Lebensqualität, wie sie im BfArM-Fast-Track als relevante Indikatoren für die Wirksamkeit von DiGA vorgesehen sind, beruhen auf dieser individuellen Wahrnehmung der Nützlichkeit einer Anwendung (Bonn et al. 2019).
Daher bedarf es eines standardisierten nutzerzentrierten Entwicklungsprozesses für digitale Anwendungen im Gesundheitswesen, der mit bestehenden ISO-Normen wie der ISO 9241 („Ergonomics of human-system interaction“) konform ist. Teil dieses Prozesses sollte eine kontinuierliche Evaluation der Akzeptanz und Usability einer Anwendung vor, während und nach deren Implementierung sein.
Warnung: Die Berücksichtigung der subjektiven Einschätzung und Wahrnehmung durch den Patienten ist insbesondere aus Sicht der Evidenzbasierten Medizin (EbM) eine relevante Veränderung, da umständliche Bedienung und Funktionalitäten, die nicht den Präferenzen der Nutzer entsprechen, in der Bewertung der Wirksamkeit insbesondere von Telemedizin-Anwendungen als Störfaktoren wirken können. Dadurch kann trotz an sich evidenzbasierter Interventionskomponenten der Effekt der DiGA verzerrt sein.
Die Entwicklung und Konsentierung von Core Outcome Sets (COS) in Telemedizinstudien erleichtern die Evaluation von DiGA
Forderung: Anschließend an die zuvor geschilderten Forderung, bedarf es weiterhin Core Outcome Sets, um die Erhebung patientenrelevanter Endpunkte sicherzustellen und die Vergleichbarkeit von Studienergebnissen zu erhöhen. Somit sollten in der Evaluation von DiGA neben Endpunkten zur Messung der klinischen Wirksamkeit auch Patient Reported Outcomes (kurz: PRO) und Endpunkte zur Abbildung der Patientenerfahrungen (Patient Reported Experiences, kurz: PRE) regelhaft und standardisiert erhoben werden.
Rationale: Digitale Gesundheitsanwendungen sind oft als komplexe und/oder multimodale Interventionen gestaltet, wodurch eine kausale Beurteilung der Wirksamkeit erschwert ist (Yasmin et al. 2016). Gegenwärtig gibt es zudem keinen „best-practice Ansatz“ um Digitale Gesundheitsanwendungen zu evaluieren (McKay et al. 2018; Zanaboni et al. 2018). Ein Vergleich der Wirksamkeit Digitaler Gesundheitsanwendungen wird dabei zusätzlich durch die Verwendung heterogener Outcomes erschwert.
Evidenzsynthesen zeigen, dass die Wirksamkeit Digitaler Gesundheitsanwendungen von Charakteristika der Patienten in Bezug auf deren klinischen Gesundheitszustand, aber auch von deren Technologieakzeptanz und dem individuellen Bedarf für soziale Unterstützung abhängen (Harst et al. 2019a; Timpel et al. 2020). Eine derartige, auf den jeweiligen Nutzen für die Patienten ausgerichtete Versorgung folgt den Grundsätzen der „value-based healthcare“ (Porter 2010).
Die standardisierte Verwendung relevanter Outcomes hat das Potenzial, die Evidenzbasis für digitale Anwendungen im Gesundheitswesen nachhaltig zu verbessern. Core Outcome Sets können dabei durch eine Standardisierung von Endpunkten zu einer verbesserten Vergleichbarkeit von Studienergebnissen beitragen (Schmitt et al. 2015; Williamson et al. 2017; Kirkham et al. 2017). Dazu bedarf es einer Entwicklung neuer oder der Erweiterung bestehender Core Outcome Sets zur Evaluation von digitalen Anwendungen im Gesundheitswesen, um Evidenz jenseits der reinen klinischen Wirksamkeit zu generieren.
Warnung: Ein ausschließlicher Fokus auf klinische Wirksamkeit vernachlässigt relevante Domänen der Wirksamkeit, insbesondere die Wahrnehmung der Nutzer und Veränderungen in deren Krankheitsverhalten (Versorgungsrealität). Außerdem besteht bei Erhebung heterogener Outcomes die Gefahr, dass Studienergebnisse nur bedingt verglichen werden können und somit die Ableitung evidenzbasierter Empfehlungen für DiGA erschwert wird.
Zusammenfassung
Der Artikel adressiert die Herausforderung der Verstetigung von DiGA. Anhand eines Forderungskatalogs wurden Punkte benannt, die Handlungsbedarf für den Umgang mit und die Bewertung von DiGA aufzeigen. Es wurde bspw. herausgearbeitet, dass die Nutzerakzeptanz und deren subjektive Nutzenwahrnehmung nachweislich ebenso wichtig für die Entwicklung und Diffusion von Digitalen Gesundheitsanwendungen sind, wie die Erhebung primär medizinischer Endpunkte, was mit der konkreten Ausgestaltung des BfArM-Fast-Track korrespondiert.
Somit sind die Forderungen überdies Hilfestellung und Orientierung für die nachhaltige Entwicklung digitaler Anwendungen im Gesundheitswesen. Hierzu werden Forschungsbedarfe im Bereich der Core Outcome Sets, regionalen Reife von Gemeinschaften und der patientenzentrierten Nutzenbewertung Digitaler Gesundheitsanwendung beschrieben, welche zur Verbesserung der Evidenzbasis beitragen können. Das in Abb. 2 dargestellte Diffusionsframework für DiGA fasst all diese Forderungen zusammen, visualisiert den ideal-
typischen Entwicklungs- und Diffusionsprozess und soll dabei helfen, bestehenden sowie zukünftigen DiGA zu einer nachhaltigen Implementierung in die Regelversorgung zu verhelfen. <<
1. NICE steht für das National Institute for Health and Care Excellence
2. https://www.bfarm.de/SharedDocs/Downloads/DE/Service/Beratungsverfahren/DiGA-Leitfaden.pdf
3. Den vollständigen Forderungskatalog in seiner Langfassung finden Sie online unter http://care4saxony.de/?page_id=2731
4. http://care4saxony.de/?p=3324