>> Molekulargenetische Untersuchungen haben in den zurückliegenden 20 bis 25 Jahren das Verständnis der Pathogenese von Tumorerkrankungen wesentlich verbessert und deren Klassifikation auf molekularer Basis ermöglicht. Dadurch konnten nicht nur die Genauigkeit von Krankheitsdiagnosen erhöht und prognostisch relevante Patientengruppen für risikoadaptierte Therapiestrategien definiert, sondern auch zahlreiche sog. zielgerichtete neue Wirkstoffe für die Behandlung von Tumorerkrankungen entwickelt werden. In der Euphorie über diese Fortschritte wird jedoch häufig übersehen, dass unsere Wissensbasis hinsichtlich der Zielgenauigkeit und exakten Wirkungsweise neuer Arzneimittel noch sehr lückenhaft ist und länger anhaltende Therapieerfolge bei fortgeschrittenen Tumorerkrankungen mit zielgerichteten Wirkstoffen heute nur selten erreicht werden.
Neue Strategien zur Sicherstellung einer effizienten Arzneimittelversorgung in der Onkologie sind deshalb dringend erforderlich, insbesondere angesichts der immer deutlicher werdenden globalen Probleme in unserem Gesundheitssystem. Hierzu zählen: (1) der demographische Wandel mit einem steten Anstieg der Inzidenz und Prävalenz von Krebserkrankungen trotz abnehmender Letalität, (2) der weiterhin große Bedarf an echten Innovationen sowie qualitativ hochwertiger Versorgung in der Onkologie, (3) die damit verbundenen hohen Erwartungen in der Öffentlichkeit, (4) die Kostenexplosion in der medikamentösen Therapie von Krebserkrankungen (siehe dazu auch: Artikel Dr. Spelsberg auf S. 28) und (5) die begrenzten Ressourcen im Gesundheitssystem. Nutzen- bzw. Kosten-Nutzen-Bewertung kostenintensiver neuer Therapieverfahren in der Onkologie rücken deshalb immer mehr in den Blickpunkt der klinischen Versorgung von Krebspatienten, aber auch wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Überlegungen.
Zahlreiche Analysen haben in den letzten Jahren verdeutlicht, dass die Datenlage bzw. die beste verfügbare Evidenz zum Zeitpunkt der Zulassung für neue Wirkstoffe in der Onkologie häufig unbefriedigend ist. Die vor Zulassung durchgeführten klinischen Studien der Phase-II- bzw. –III sind wenig aussagekräftig für die Wirksamkeit neuer Arzneimittel unter Alltagsbedingungen („effectiveness“). Gründe hierfür sind u. a. das Design klinischer Studien (z. B. Vergleichsintervention entspricht nicht der gegenwärtigen Standardbehandlung), strenge Einschlusskriterien (z. B. ältere Patienten und/oder Patienten mit Komorbiditäten werden ausgeschlossen), die Auswahl nicht patientenrelevanter Endpunkte (z. B. Ansprechrate) und der meistens auf wenige Wochen bis Monate begrenzte Untersuchungszeitraum.
Zu Recht kritisiert werden auch die unzureichende Berücksichtigung wichtiger Parameter für die Bewertung des Patientennutzens (z. B. Verbesserung der Lebensqualität, Symptomkontrolle, Verminderung von Toxizität) und der zu häufig vorzeitige Abbruch klinischer Studien, der zu einer Überschätzung der Wirksamkeit und/oder unzureichenden Bewertung der Sicherheit eines neuen Wirkstoffs führt.
Deshalb wird auch eine wichtige Vorgabe der Europäischen Arzneimittelagentur (EMEA) im Rahmen von Zulassungsverfahren, nämlich die Bereitstellung einer evidenz-basierten Wissensbasis für klinische Entscheidungen in einer gut charakterisierten, für den medizinischen Alltag relevanten Zielpopulation, heute häufig nicht erfüllt. Ärzte sind aber für rationale Entscheidungen in klinischen Situationen auf solide, patientenrelevante Daten und den Vergleich neuer Arzneimittel mit preisgünstigeren Alternativen („head-to-head“) angewiesen, um Wirksamkeit, Toxizität, Handhabbarkeit und Kosten neuer Wirkstoffe beurteilen und Patienten entsprechend informieren zu können (siehe dazu auch: Artikel Prof. Dr. Dr. Harms et al. auf S. 32). Auch für die Formulierung von evidenz-basierten Therapieempfehlungen sind diese Daten unverzichtbar.
Die Verbesserung der Datenlage zur Nutzen- bzw. Kosten-Nutzen-Bewertung neu zugelassener Arzneimittel in der Onkologie ist deshalb eine wesentliche Voraussetzung für eine rationale Verordnung kostenintensiver Wirkstoffe in der Onkologie. Dies setzt voraus, dass Defizite in den klinischen Studien vor Zulassung (z. B. Auswahl eines geeigneten Designs und klinisch relevanter Endpunkte, rasche Publikation aller Studienergebnisse, Vermeidung von Bias) rasch abgebaut und unabhängig von der Industrie geplante bzw. durchgeführte, versorgungsrelevante klinische Studien sofort nach Zulassung zur Beantwortung der offenen Fragen initiiert werden.
Die kürzlich von der EMEA für hämatologische Neoplasien vorgelegten Empfehlungen zur Evaluation neuer Wirkstoffe gehen in die richtige Richtung, da sich Design, Vergleichsintervention und Endpunkte klinischer Studien vor Zulassung am Therapieziel (kurativ bzw. palliativ) orientieren und der aus Patientensicht so wichtigen Ermittlung der Toxizität sowie Symptomkontrolle größere Bedeutung gewidmet und zu große Heterogenität in den untersuchten Patientenkollektiven vermieden werden sollen.
Vor dem Hintergrund des „Wachstumsmarktes Onkologie“ mit jährlichen Wachstumsraten von 20 bis 25 %, in dem derzeit die Kosten für neue Arzneimittel wesentlich rascher steigen als die wissenschaftlich fundierten Erkenntnisse zur Wirksamkeit bzw. zum Nutzen dieser Arzneimittel, haben neben der raschen Ermittlung des Zusatznutzens innovativer Wirkstoffe auch neue Möglichkeiten der Individualisierung von Diagnose und Therapie bei Krebserkrankungen verstärkte Aufmerksamkeit gefunden. Die bisher verfolgte Strategie, sehr große, häufig heterogene Patientenkollektive nach Zulassung mit neuen Wirkstoffen zu behandeln („Gießkannenprinzip“), obwohl nur ein kleiner Prozentsatz der Patienten von diesen Wirkstoffen tatsächlich profitiert, soll durch individualisierte Therapiekonzepte ersetzt werden. Diese Entwicklung ist prinzipiell zu begrüßen, setzt allerdings die Identifizierung und Validierung geeigneter Parameter für an Subpopulationen spezifisch ausgerichtete Therapien voraus. Dabei ist auch zu beachten, dass sich der Einsatz von den derzeit sehr populären, allerdings noch raren Biomarkern nicht am technisch Machbaren bzw. wissenschaftlich oder wirtschaftlich Attraktiven, sondern am klinischen Nutzen orientieren sollte. Um zu verhindern, dass unzureichend validierte, kostenintensive Verfahren vorschnell in die Gesundheitsversorgung eingeführt werden, benötigen wir auch für individualisierte Arzneimitteltherapien eine evidenz-basierte Wissensbasis, die nur im Rahmen klinischer Studien erarbeitet werden kann.
Es wird deshalb in Zukunft immer wichtiger, den Nutzen neuer diagnostischer Methoden bzw. medikamentöser Therapieverfahren nach Zulassung wissenschaftlich zu belegen. Zu diesem Zweck sollte auch über die Etablierung von Kompetenzzentren unter Beteiligung von Prüfkrankenhäusern und niedergelassenen Ärzten mit onkologischem Schwerpunkt nachgedacht werden. Eine zeitlich befristete, kontrollierte und dokumentierte Einführung diagnostischer und medikamentöser Innovationen im Rahmen unabhängiger klinischer Studien wäre ein wichtiger Schritt, um die zum Zeitpunkt der Zulassung noch offenen, patientenrelevanten Fragen schneller als derzeit zu beantworten und mittelfristig auch eine aussagekräftige Nutzen-Risiko- bzw. Kosten-Nutzen-Bewertung in der Onkologie vornehmen zu können. Für die Finanzierung derartiger Studien muss unbedingt über neue Konzepte unter Beteiligung öffentlicher Mittel, auch der Gesetzlichen Krankenversicherung, nachgedacht werden.
Nur über nicht von kommerziellen Interessen geleitete klinische Studien wird es möglich sein, echte von Scheininnovationen in der Diagnostik und Therapie onkologischer Erkrankungen zuverlässig zu unterscheiden, die für eine transparente Nutzen- und Risikokommunikation mit Patienten erforderlichen Informationen zu beschaffen und eine gerechte Verteilung der begrenzt zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel auch in Zukunft zu gewährleisten. <<