Erstattungspreis-Korridor-Modell: ein wettbewerblicher Ansatz
Die positiven Ergebnisse des Wettbewerbs sollen derzeit - stimuliert durch selektivvertragliche Rabattverträge - die Arzneimittelversorgung effizienter gestalten. Soweit die Theorie. In der Realität zeichnet sich jedoch das Gegenteil ab: Rabattverträge führen zu ruinösem Preiswettbewerb und zerstören somit die Grundlagen eines funktionsfähigen Wettbewerbs. Die Etablierung eines Preis-Korridor-Systems, welches im Folgenden beschrieben wird, kann die positiven Kräfte des Wettbewerbs vollständig zur Geltung bringen und somit im Ergebnis zu einer effizienten Arzneimittelversorgung führen.
>> Über mehrere Jahrzehnte war die deutsche Pharmapolitik durch zentrale Steuerungseingriffe charakterisiert, die an der Preis-, Mengen- oder Umsatzkomponente ansetzten, um die Wirtschaftlichkeit der GKV-Arzneimittelverordnungen zu gewährleisten bzw. vorgegebene Sparziele umzusetzen. Erst in den letzten Jahren, speziell nach dem GKV-WSG, kommen zwei neue Trends stärker zum Tragen: Erstens die Betonung selektivvertraglicher Wettbewerbselemente, die sich im Arzneimittelwesen in den Rabattverträgen konkretisieren sollten. Zweitens die Etablierung der Nutzen- bzw. Kosten-Nutzen-Bewertung als Instrument zur Sicherung der Rationalität und Kosteneffizienz der Arzneimitteltherapie. Während die Rabattverträge zumindest in ihrer praktischen Anwendung besonders im generikafähigen Markt zum Tragen kommen, soll die Kosten-Nutzen-Bewertung primär der Beurteilung von pharmazeutischen Innovationen dienen. Diese Differenzierung trägt auch der Tatsache Rechnung, dass im generikafähigen Markt naturgemäß mehrere Anbieter miteinander konkurrieren, so dass zumindest in dieser Hinsicht die Voraussetzungen für einen funktionsfähigen Wettbewerb vorliegen. Mit Innovationen geht dagegen regelmäßig eine gewisse Monopolstellung einher, die ein wettbewerbliches Verhalten nicht erwarten lässt.
Unbeschadet der genannten Grundvoraussetzung für einen funktionsfähigen Wettbewerb (Anbietervielfalt im Generikamarkt) sind seit Einführung der Rabattverträge bestimmte Entwicklungen zu beobachten, die einerseits aus wettbewerbspolitischer Sicht, andererseits aber auch mit Blick auf die Versorgungsqualität Zweifel daran nähren, ob das Rabattsystem einen funktionsfähigen Wettbewerb etabliert, der zu nachhaltig sinnvollen Marktergebnissen führt. Daneben stellt sich auch die Frage, inwieweit es im generikafähigen Markt überhaupt zu rationalen Preis- und Verordnungsstrukturen kommen kann, wenn vergleichende und systematisch aufbereitete Informationen über den Nutzen und die Kosten medikamentöser Therapien hier als Entscheidungsgrundlage i.d.R. nicht vorliegen bzw. nicht herangezogen werden.
Nachfolgend wird daher ein Ansatz beschrieben, der den auf der freien Preisbildung der Hersteller beruhenden Wettbewerbsgedanken aufgreift und in den Vordergrund stellt, dabei aber bestimmte Vorkehrungen trifft, um Marktmängel, die im Rabattvertragssystem auftreten, zu korrigieren. Als Instrument hierzu dient ein Erstattungspreis-Korridor, der an der unteren Preisgrenze den unerwünschten Folgen eines ruinösen Unterbietungswettbewerbs begegnet, während eine Erstattungspreis-Obergrenze im Sinne eines Festbetrags die Preispolitik der Hersteller nach oben begrenzt und damit den Einsparzielen von Politik und Krankenkassen gerecht wird. Eine vereinfachte, den Erfordernissen des generikafähigen Markts angepasste, kategorisierende Arzneimittel-Evaluation soll in diesem Modellrahmen dazu dienen, die adäquate Lage und Breite1 des Erstattungspreis-Korridors und damit letztlich die in der GKV erstattungsfähigen Arzneimittelpreise zu definieren.
Marktmängel und unerwünschte Nebenwirkungen
des Rabattvertragssystems
Nach Angaben von IMS Health sind im ersten Halbjahr 2009 rund 63 % der abgegebenen Medikamentenpackungen im generikafähigen Segment „rabattgeregelt“. Die Anzahl abgegebener „Rabattmedikamente“ hat sich gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 39 % erhöht, während Arzneimittel ohne Kassenvertrag ein Drittel an Menge verloren (IMS 2009). Diese Zahlen dokumentieren den dominierenden Einfluss, den die Rabattverträge auf alle Marktbeteiligten haben und weiterhin gewinnen. In ihrer Grundidee setzen die Rabattverträge konsequent den politischen Willen um, die Krankenkassen jeweils nur mit den Kosten für das niedrigstpreisige am Markt verfügbare wirkstoffgleiche Präparat zu belasten.
Diese Vorgabe findet ihren Niederschlag in den Ausschreibungskriterien für Rabattverträge und führt de facto zu einem Marktausschluss von Präparaten, deren Preise (nach Rabattierung) höher liegen als der Präparatepreis des Anbieters, dessen Rabattangebot zum günstigsten Preis geführt hat. Das Anliegen der Kassen, auf diese Weise die Generikaversorgung so kostengünstig wie möglich erbringen zu können, ist nachvollziehbar und aus dem Blickwinkel einer statischen Betrachtungsperspektive auch zielführend. Aus dieser kurzfristigen Sichtweise ist somit auch der politische Wille, an dem selektivvertraglichen Rabattsystem festhalten zu wollen, nachvollziehbar.
Die Mängel des Rabattvertragssystems offenbaren sich erst aus einer dynamischen Perspektive, d.h. einer Sichtweise, die Entwicklungen über einen mehrjährigen Zeitraum mit einbezieht. Ausgangspunkt sind dabei die sich infolge des Rabattvertragssystems ändernden Strukturen des generikafähigen Marktes. Das „Geschäftsmodell Generika“, das den Wettbewerb im entsprechenden Marktsegment in der Vergangenheit befördert hat, vollzieht sich, wie in Abbildung 1 dargestellt, in einem Preisspielraum, der nach oben durch das „historische“ Festbetragsniveau (ggf. kombiniert mit Zuzahlungsbefreiungsgrenzen) und nach unten durch den niedrigsten ökonomisch rationalen Preis, d.h. einen Preis auf Grenzkostenniveau, limitiert wird. Durch die Rabattverträge und durch die Kombination verschiedener Co-Preisregulierungs-Mechanismen ist dieser Spielraum inzwischen - wie in der Abbildung exemplarisch dargestellt - deutlich reduziert worden, aber zumindest in einigen Segmenten noch vorhanden. Nur solange dies gewährleistet ist, kann ein Geschäftsmodell wie das der Generikaanbieter, welches maßgeblich auf dem Parameter Preis basiert, funktionsfähig bleiben und mithin die ihm zugeschriebenen positiven Wettbewerbskräfte freisetzen. Aufgrund der fortschreitenden Reduzierung des Preisspielraums durch ein Rabattsystem, das bei Preisen oberhalb des niedrigsten Preises de facto einen Marktausschluss nach sich zieht, wird dem Geschäfts- und Wettbewerbsmodell die Basis entzogen.
Aus Anbietersicht ist es in dem beschriebenen Szenario mitunter rational, einen Zuschlag im Vergabeverfahren der Krankenkassen zu erzielen, indem strategische Preise angeboten werden, die so bemessen sind, dass sie auf Basis einer Gesamtkostenbetrachtung langfristig nicht kostendeckend sind (sog. Dumpingpreise). Dumpingpreise sind volkswirtschaftlich nicht wünschenswert und daher in Deutschland wie international als wettbewerbsrechtlich bedenklich eingestuft. Sie können aber in einem Szenario, in dem für die Anbieter entsprechende Anreize gegeben sind, nicht unterbunden werden, da die Dumpingpreisgrenzen i.d.R. nur mit Hilfe von unternehmensinternen (nicht zugänglichen) Daten bestimmbar und somit justitiabel sind.
Unter diesen Rahmenbedingungen führt das Rabattvertragssystem zu einem als ruinös zu charakterisierenden Unterbietungswettbewerb, dessen Folge eine unverhältnismäßige Erlöserosion und Marktkonzentration sowie die Verlagerung von Produktion in Billiglohnländer ist (Telgheder 2009). Nicht nur die bereits verzeichnete Marktentwicklung und -konzentration, sondern auch wirtschaftstheoretische und wettbewerbspolitische Analysen machen deutlich, dass das System der Rabattverträge absehbar auf eine Oligopolisierung in wichtigen Segmenten des Generikamarktes zusteuert (Greß et al. 2009). Am Ende eines derartigen Prozesses ist mit Marktkonstellationen zu rechnen, die aus gesamtwirtschaftlicher Perspektive nicht wünschenswert sind, da sie mit Marktmacht einhergehen, den Wettbewerb zum Erliegen bringen und zu Preisen führen, die den Sparzielen der Kassen zuwiderlaufen. Diese Einschätzung wird auch durch das Bundeskartellamt geteilt (Heitzer 2008).
Auswirkungen auf die Arzneimittelversorgung
Nicht weniger wichtig als die ökonomischen Folgen sind die Auswirkungen, die das Rabattvertragssystem auf der Ebene der Versorgungsqualität zeitigt. Auf kurze Sicht sind hier zuvorderst die bereits dokumentierten Complianceprobleme anzuführen, die auch in ihrer gesundheitsökonomischen Dimension nicht unterschätzt werden sollten. In einer Untersuchung der KV Nordrhein werden gravierende Umstellungs- und Complianceprobleme durch einen Großteil der niedergelassenen Ärzte im Zusammenhang mit den Rabattverträgen dokumentiert (DocCheck 2008). In einer durch die AOK beauftragten Studie haben ein Viertel der Patienten angegeben, dass Probleme im Zusammenhang mit der Umstellung auf ein Rabattarzneimittel aufgetreten sind (WIdO 2009). Ebenfalls jeder vierte Patient nannte in einer Repräsentativbefragung des Instituts für Demoskopie Allensbach Schwierigkeiten bei der Umstellung auf ein Rabattarzneimittel. Überwiegend wurden hier von den Betroffenen unerwünschte Arzneimittelwirkungen aber auch Beeinträchtigungen der therapeutischen Wirkung genannt (Institut für Demoskopie Allensbach 2009). Rechenbeispiele und Studien zeigen zudem die medizinische Dimension und die bedeutende ökonomische Größenordnung einer Non-Compliance auf, wie sie durch das Rabattvertragssystem induziert werden kann (WHO 2003) (Heuer et al. 1999) (Ho et al. 2006) (Hulten E. et al 2006).
Medizinisch wie ökonomisch werden die kurzfristigen Folgen bei weitem durch die mittel- bis langfristig zu erwartenden Effekte des Marktversagens im Rabattvertragssystem übertroffen. In diesem Zusammenhang kommen Auswirkungen zum Tragen, die unmittelbar den sich rabattbedingt verändernden Strukturen im generikafähigen Markt geschuldet sind. Schon im Verlauf des Konzentrationsprozesses führt die Erlöserosion und die Fokussierung auf den Preis als einzigen Wettbewerbsparameter zu einer abnehmenden Qualitätsorientierung im Hinblick auf das aktuelle Sortiment und generische Weiterentwicklungen. Hierzu zählen optimierte Darreichungsformen und Freisetzungsmechanismen, die positiven Einfluss auf die Compliance und die Lebensqualität der Verwender haben können. Zum Ende des Konzentrationsprozesses hin bestehen für die verbleibenden Hersteller weder Anreize noch ist der finanzielle Spielraum gegeben, um ein therapeutisches Angebot auf höchstem Niveau aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln. Nicht zuletzt führt die Marktbereinigung auch unmittelbar durch die verminderte Anbieterzahl zu einer Einschränkung der therapeutischen Vielfalt (Kötting; May 2008).
Das Erstattungspreis-Korridor-Modell als Alternative -
Prämissen aus einem idealisierten Referenzmodell
Das hier vorgestellte Alternativmodell zur Erstattungspreisbildung im Generikamarkt basiert in vier wesentlichen Eckpunkten auf Erkenntnissen eines theoretischen Idealmodells, welches hier als Referenz für die Ausgestaltung eines pragmatisch umsetzbaren Modells für den Generikamarkt herangezogen wird (May et al. 2009) (Greß et al. 2009) vgl. Monitor Versorgungsforschung MVF 04/09, S. 40ff. Demnach ist erstens festzustellen, dass Preise aus volkswirtschaftlicher Perspektive nicht nur zu hoch, sondern im Sinne eines ruinösen Preiswettbewerbs auch zu niedrig sein können. Der ruinöse Preiswettbewerb bezeichnet dabei den strategischen Einsatz von Dumpingpreisen zur Gewinnung von Marktmacht. Die zweite abgeleitete These lautet, dass die Erstattungspreisbildung indikationsbezogen und damit ggf. wirkstoffübergreifend zu erfolgen hat, wenn sie dem gesundheitsökonomischen und politischen Interesse an einer problembezogenen und effizienten Lösung der Erstattungs- und Preisbildungsproblematik im GKV-Markt Rechnung tragen soll. Es ist nachvollziehbar, dass Arzneimittel mit verschiedenen Wirkstoffen preislich miteinander verglichen werden sollten, wenn sie innerhalb der selben Indikation einen identischen therapeutischen Effekt haben und sich auch in anderen relevanten Eigenschaften nicht unterscheiden. Die dritte Prämisse, die wesentlich auf der oben skizzierten wettbewerbspolitischen Analyse beruht, sieht vor, dass das neu vorgeschlagene Regulierungssystem keine preisbedingten absoluten Erstattungsausschlüsse im Sinne eines exklusiven Marktzugangs (wie im derzeitigen Rabattvertragsystem) beinhalten darf. Viertens liegt dem vereinfachten Modell, das hier vorgestellt wird, ebenso wie dem ursprünglichen „Idealmodell“ der Gedanke zugrunde, dass der Präparatenutzen das maßgebliche Kriterium für die Legitimation einer bestimmten Höhe der Arzneimittelpreise bzw. für Preisunterschiede zwischen Präparaten sein muss, d.h. beispielsweise mehr Nutzen rechtfertigt einen höheren Preis. Dabei wird der Nutzen eines Arzneimittels in diesem Modell sowohl durch therapeutische als auch pharmakoökonomische Präparateeigenschaften bestimmt.
Grundidee des Erstattungspreis-Korridors
Das konkrete Modell, mit dem die genannten Prämissen umgesetzt werden, sieht die Festlegung eines Korridors vor, in dem zwischen einer Ober- und einer Untergrenze die adäquaten GKV-Erstattungspreise der in einem Anwendungsgebiet relevanten Arzneimittel angesiedelt sind.
Die grafische Darstellung der Marktsituation bildet den Status quo, d.h. die tatsächlich am Markt befindlichen Präparate eines Indikationsgebietes bezogen auf die Parameter Preis und Packungsgröße, ab (Abb. 2). Grundlagen zur Definition der Packungsgrößen können dabei je nach Gewichtung der systemimmanenten Vor- und Nachteile das Konzept der DDD oder PDD sein (Wasem; Bramlage 2009).
Die Untergrenze des Erstattungspreis-Korridors wird rein deskriptiv aus der grafischen Darstellung des Marktbildes abgeleitet und definiert sich durch die Präparate mit dem niedrigsten relativen Preis respektive der günstigsten Preis-Mengen-Relation, die in der entsprechenden Indikationsgruppe am Markt verfügbar sind.
Die Obergrenze für den Erstattungspreis-Korridor, d.h. der Betrag bis zu dem Arzneimittel in der entsprechenden Gruppe uneingeschränkt erstattungsfähig sind, wird in dem Modell nutzenbasiert bestimmt. Durch die Festlegung der Erstattungspreis-Obergrenze auf einem bestimmten Niveau verbleibt je nach Höhe eine mehr oder weniger große Zahl von Präparaten in der uneingeschränkten GKV-Erstattungsfähigkeit. Präparate, deren Preis oberhalb der Erstattungspreis-Obergrenze liegen, sind ähnlich wie im derzeitigen Festbetragssystem für GKV-Versicherte nur durch eine Aufzahlung in Höhe der Differenz zwischen dem jeweiligen Präparatepreis und der durch den Korridor definierten Erstattungspreis-Obergrenze erhältlich.
Die Erstattungspreis-Obergrenze respektive die – wie eingangs definierte - Breite des Erstattungspreis-Korridors leitet sich, wie angedeutet, aus den therapeutischen und ökonomischen Eigenschaften der im potenziell relevanten Korridor liegenden Präparate ab (Abb. 3). Eine aus medizinischer Sicht hohe Relevanz therapeutischer Alternativen bzw. Unterschiede zwischen den Präparaten, die (zumindest für Patientensubgruppen) therapierelevant sind, können die Einbeziehung auch solcher Präparate in den Korridor rechtfertigen, die bis zu einem gewissen Umfang oberhalb der preisgünstigsten Alternativen liegen. Neben den therapeutischen Präparateeigenschaften können auch pharmakoökonomische Aspekte, die ein Präparat - ungeachtet eines vergleichsweise höheren Preises - als kosteneffektiv erscheinen lassen, ein Argument dafür sein, dieses Arzneimittel in den Erstattungspreis-Korridor einzubeziehen. Dies wäre z.B. der Fall, wenn durch die Einnahme eines teureren Arzneimittels Folgekosten im Krankenhaus im Vergleich zu anderen Arzneimitteln eingespart werden.
Nutzenbewertung als Entscheidungsgrundlage
Der Nutzenbegriff, der der Bewertung der Arzneimittel in diesem Ansatz zugrunde liegt, beruht auf einer gesellschaftlichen Perspektive, wobei eine besondere Gewichtung den patientenrelevanten Aspekten und der GKV-Sicht beigemessen wird. In erster Linie sind dabei naturgemäß die therapeutischen Eigenschaften der Präparate maßgeblich. Hinzu treten können auch pharmakoökonomisch relevante Präparateeigenschaften, sofern diese Ressourcen freisetzen, die im Rahmen des Gesamtsystems therapeutischen Nutzen stiften. Unter der gegebenen Ressourcenknappheit können Einsparungen, die mit Präparaten im Vergleich zu einer Therapiealternative erzielt werden, nutzenstiftend im o. g. Sinne eingesetzt werden. Der hiermit zusätzliche erzielbare therapeutische Nutzen ist somit diesen Präparaten zuzurechnen (May et al. 2009).
Zur Operationalisierung dieses Nutzenbegriffs wurden für den vorliegenden Ansatz primäre und sekundäre Nutzenkriterien definiert. Die Abgrenzung zwischen beiden Nutzenkategorien wurde hier in Anlehnung an die in Deutschland in der pharmapolitischen Diskussion etablierten Standards durchgeführt (Zentner et al. 2005). Entsprechende Beispiele für primäre und sekundäre Nutzenkriterien werden weiter unten genannt.
Eine einfache, den Erfordernissen des Generikamarktes angepasste, kategorisierende Nutzenbewertung soll die Grundlage sein, um in Kombination mit den ökonomischen Daten in diesem Modellrahmen die adäquate Höhe und Breite des Erstattungspreis-Korridors zu definieren. Die Vereinfachungen entsprechen pharmapolitischen Vorgaben, die den speziellen Gegebenheiten des Generikamarkts Rechnung tragen.
Für Fälle, bei denen Fehlanreize und Steuerungsprobleme dadurch auftreten, dass die Nutzenunterschiede zwischen unterschiedlichen Wirkstoffen innerhalb einer Indikationsgruppe relativ groß ausfallen, sieht das Modell wirkstoffbezogene Segmentierungen innerhalb der Korridore vor.
Zusätzliche Entscheidungskriterien
Wettbewerbspolitischer Aspekt: Strikt getrennt von diesem Nutzenbegriff und der Nutzenbewertung sind wettbewerbspolitische Aspekte zu sehen, die für eine Mindestzahl an Marktteilnehmern sprechen können. Das Wettbewerbsargument ist unabhängig von Präparateeigenschaften, sondern bezieht sich alleine auf den Erhalt eines funktionsfähigen Marktes. Es kann zum Tragen kommen, da auch bei fehlenden Nutzenunterschieden der Präparate eine Mindestzahl an Präparaten und somit Wettbewerbern erforderlich ist (Swedish Pharmaceutical Benefits Board 2006). Die Konkretisierung dieser Nebenbedingung beruht auf oligopoltheoretischen Erkenntnissen, die in Deutschland z.T. formelhaft Eingang in das Wettbewerbsrecht gefunden haben (Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen).
Aspekt der therapeutischen Vielfalt: Der Nutzenbegriff und die Bewertungsperspektive, insbesondere die Betonung der patientenrelevanten Nutzenaspekte, die dem vorliegenden Ansatz zugrunde liegen, verlangen, neben einer generalisierten Nutzenbewertung auch individuelle Unterschiede zwischen Patienten zu berücksichtigen. Infolgedessen findet der Aspekt der Therapievielfalt als weitere Nebenbedingung Eingang in das Modell und die Korridorbestimmung. Wenngleich die Nutzenbewertung mit Blick auf den „Standardpatienten“ keine Nutzenunterschiede zeigt, schließt dies nicht aus, dass im individuellen Fall Patienten unterschiedlich auf „nutzengleiche“ Präparate ansprechen. Primär ist dieser Umstand mit Erkenntnissen der Pharmakogenetik und Pharmakogenomik zu erklären (Pauli-Magnus 1974) (BfArM 2007).
Neben diesen naturwissenschaftlich begründeten Gegebenheiten können auch psychologische Aspekte für den einzelnen Patienten im Hinblick auf die Arzneimittelwirkung, insbesondere aber auch hinsichtlich der Compliance relevant sein und somit eine generalisierte Nutzenbewertung bezogen auf dieses Individuum in Frage stellen. Die genannten Überlegungen rechtfertigen es, der therapeutischen Vielfalt im Rahmen eines auf Patientennutzen bezogenen Modellansatzes einen eigenen Wert beizumessen und diesem auch bei der Definition des Korridors im hiesigen Modell Rechnung zu tragen. Für die praktische Umsetzung bedeutet dies, dass Therapievielfalt neben dem Wettbewerbs-aspekt gleichfalls einen Korridor von erstattungsfähigen Arzneimitteln oberhalb der Niedrigstpreise legitimieren kann.
Operationalisierung der Entscheidungskriterien
Maßgebliche Basis zur Bestimmung der Breite des Erstattungspreis-Korridors und für die Frage, wie viele Korridore in einer Indikationsgruppe (ATC-Code 4. Ebene, DIMDI 2009) anzulegen sind, sind die Ergebnisse der vorausgegangenen Nutzenbewertung in Verbindung mit den Zusatzaspekten Therapievielfalt und Wettbewerb. Um über einen einfachen und pragmatischen Ansatz zur Festlegung der Korridore zu verfügen, wurde ein Entscheidungsalgorithmus entwickelt, der sukzessive die Frage nach der Anzahl der Korridore und nach deren Breite beantwortet. Dabei kommen prinzipiell drei Korridor-Kategorien in Betracht: schmal, mittel und breit. Welche Korridor-Kategorie im konkreten Fall relevant ist, ist abhängig von der Qualität der Nutzenunterschiede und wird in Abbildung 3 veranschaulicht.
Wie in Abb. 3 dargestellt, ist ein breiter Erstattungspreis-Korridor immer nur dann angezeigt, wenn dies sowohl durch primäre und ggf. zusätzlich sekundäre Nutzenunterschiede legitimiert ist. Sofern lediglich sekundäre Nutzenunterschiede zwischen den Präparaten innerhalb einer Indikationsgruppe vorliegen, spricht dies für einen mittleren Korridor. Sind keine Nutzenunterschiede ersichtlich, ist durch das Modell lediglich ein schmaler Erstattungspreis-Korridor oberhalb der Preisuntergrenze legitimiert, der maßgeblich durch das Wettbewerbskriterium sowie durch das Kriterium der therapeutischen Vielfalt begründet ist.
Um den hier definierten Nutzenbegriff und die beschriebenen Nutzenkategorien durch ein hiermit beauftragtes Gremium (z.B. G-BA) in konkrete Entscheidungen über die Anzahl und Breite von möglichen Erstattungspreis-Korridoren umsetzen zu können, wurde für das Modell ein spezieller und einfacher Entscheidungsalgorithmus entwickelt.
Auswirkungen und praktische Umsetzbarkeit des Modells:
Auswirkungen auf Marktstruktur und Marktverhalten
In dem beschriebenen Modellszenario besteht im Ergebnis zwischen einer marktbasierten Preisuntergrenze und einer nutzenbasierten Erstattungspreis-Obergrenze ein Korridor, innerhalb dessen sich generischer Preiswettbewerb entfalten kann und in dem für den verordnenden Arzt jenseits des Niedrigstpreiskriteriums ein therapeutischer Freiraum erhalten bleibt. Um auf der Anbieterseite den Anreiz für ein wettbewerbliches Preisverhalten zu gewährleisten, sieht das Modell vor, innerhalb des Korridors z.B. eine prozentuale Zuzahlung in Abhängigkeit des Arzneimittelpreises als Steuerungsinstrument zu verwenden. Würde hingegen auf jegliche Steuerungsinstrumente innerhalb des Korridors verzichtet, wäre damit ein nicht beabsichtigter Anreiz für die Hersteller geschaffen, ihre Präparate grundsätzlich nahe bei oder auf der Erstattungspreis-Obergrenze anzusiedeln. Umgekehrt hätte ein Steuerungsinstrument, das einen dominierenden Anreiz zur Preissenkung bietet bzw. anderenfalls den faktischen Marktausschluss bedingt, zur Folge, dass sich alle Präparate auf der Preisuntergrenze befänden, und somit gleichfalls der Preisspielraum für den generischen Wettbewerb auf Null reduziert würde. Dem Anliegen, einen Wettbewerbsspielraum zu erhalten, würde daher die Einführung eines „drastischen“ Steuerungsinstruments im Korridor nicht gerecht.
Die Umsetzung des skizzierten Modells würde die ausschließliche Preisfokussierung des Wettbewerbs, die dem Rabattvertragssystem innewohnt, zugunsten eines Qualitätswettbewerbs verschieben. Qualität bedeutet dabei Nutzen im Sinne des hier zugrunde liegenden Nutzenbegriffs. Da die Zahlungsbereitschaft der Solidargemeinschaft, die ihren Ausdruck in der Höhe und Breite des Korridors findet, unmittelbar aus dem relativen Nutzen der Produkte, bewertet aus Sicht eben dieser Solidargemeinschaft, resultiert, sind Arzneimittel-Hersteller, die nach einem hohen Marktanteil und einem adäquaten Preis streben, mithin incentiviert, möglichst nutzenstiftende Arzneimittel zu vermarkten. Aus statischer Analyseperspektive bedeutet dies, dass die Anbieter bestrebt sein werden, den Nutzen ihrer Präparate zu belegen und überdies die bestmögliche, d.h. nutzenmaximierende Anwendung ihrer Präparate zu fördern (z. B. im Sinne eines umfassenden Arzneimittelmanagements). Aus dynamischer Perspektive bietet das Modell Anreize, die Innovationsanstrengungen auf Produkteigenschaften und therapeutische Fortschritte zu lenken, die den von der Solidargemeinschaft vorgegebenen Nutzenkriterien entsprechen. Auf diese Weise würde ein solches Modell positive Beiträge zur statischen und dynamischen Effizienz der Arzneimittelversorgung leisten.
Trotz der stärkeren Betonung der Wettbewerbsparameter Qualität bzw. Nutzen wird dem Preiswettbewerb, der auf der freien Preissetzung jedes einzelnen Herstellers beruht, in dem vorgeschlagenen Ansatz ein hoher Stellenwert eingeräumt. Die Schaffung eines Korridors, in dem sich dieser Preiswettbewerb, beflügelt durch die Steuerungswirkung einer Zuzahlung, entfalten kann, ist dabei die Leitidee des Vorschlags. Auf mittlere und längere Sicht wird dies als maßgebliche Voraussetzung für den Erhalt funktionsfähiger wettbewerblicher Strukturen angesehen. Ein selektivvertraglicher Ansatz wie das Rabattvertragssystem kann zwar auf kurze Sicht den gewünschten Preisdruck und - zumindest vordergründig - Einsparungen erzielen, erkauft diese aber schon auf mittlere Sicht mit Effizienzverlusten auf der Ebene der Wettbewerbs- und der Versorgungsqualität.
Fiskalische Auswirkungen auf GKV und Patienten
Eine finanzielle Mehrbelastung der Patienten durch ein erhöhtes Zuzahlungsvolumen sieht das Modell nicht vor. Präparate innerhalb des Erstattungspreis-Korridors können mit einer prozentualen Zuzahlung belegt werden, die in ihrer Höhe (Prozentsatz) ggf. mit einer Obergrenze (Euro) und Sozialklauseln (Ausnahmetatbestände) so ausgestaltet sein kann, dass sie aufkommensneutral gegenüber dem Status quo ist.
Das hier beschriebene Alternativmodell zielt in erster Linie auf die Preisverhältnisse der am Markt befindlichen Präparate untereinander ab. Aussagen über das Niveau der absoluten Arzneimittelpreise und der daraus i.V.m. der Mengenkomponente resultierenden Arzneimittelausgaben der GKV sind aus dem Modell nur abzuleiten, wenn bestimmte Zusatzannahmen getroffen werden. Insofern ist der Vorschlag prinzipiell mit höheren oder auch niedrigeren politisch vorgegebenen Ausgabenniveaus bzw. Einsparvolumia vereinbar. Insbesondere ist auch ein für die GKV aus der statischen Perspektive, d.h. bezogen auf den Zeitpunkt der Umstellung, ausgabenneutraler Übergang auf das Modell möglich und wäre im Sinne der politischen Machbarkeit als opportun anzusehen.
Abgrenzung zu etablierten Regulierungssystemen
Die Vorteile des Korridor-Modells gegenüber dem Rabattvertragssystem liegen darin, die oben beschriebenen Risiken, die aus der Zerstörung der wettbewerblichen Strukturen und der Therapievielfalt resultieren, zu vermeiden. Aus fiskalischer Sicht setzt das Modell den „Scheineinsparungen“ des Rabattsystems (siehe Abb. 4) echte Effizienzsteigerungen und daraus resultierende Einsparpotentiale für die GKV entgegen.
Gegenüber dem heutigen Festbetragssystem, dessen Grundidee als positiv zu bewerten ist, stellt der Vorschlag eine Weiterentwicklung dar. Diese besteht darin, dass die bislang reine Fortschreibung der gegebenen Preisverhältnisse am Markt durch nutzenbasierte, rationale Kriterien über die Höhe der Erstattungspreise ersetzt wird. Zudem schafft das neue System eine verbesserte Informationsbasis und Transparenz über die therapeutischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten im Generikamarkt. Dadurch, dass Nutzenaspekte selbst zum Gegenstand der Preispolitik werden, resultieren auf Arzt- und Herstellerebene optimale Anreize zur Verbesserung der Patientenversorgung unter Qualitäts- und Effizienzaspekten. Die Struktur des Modells ist mit verschiedenen von der Politik zu definierenden Einsparvolumina - die auch über das Festbetragssystem hinausgehen können - vereinbar, ohne dabei die Grundstrukturen des Modells in Frage zu stellen.
Praktische Umsetzbarkeit des Modells
Beispiele aus dem Ausland, insbesondere Schweden, machen deutlich, dass selbst eine flächendeckende Umsetzung eines vergleichbaren Kosten-Nutzen-Ansatzes möglich ist. Der zu leistende Evaluationsaufwand wäre unter arbeitsökonomischen und pragmatischen Gesichtspunkten an die jeweiligen Marktsegmente und deren wirtschaftliche Bedeutung zu adaptieren und sukzessive abzuarbeiten. Der institutionelle und finanzielle Aufwand, der mit diesem Ansatz einhergeht, übersteigt auf der übergeordneten Verwaltungsebene den heute in Deutschland betriebenen Bewertungs- und Steuerungsaufwand in der Arzneimittelversorgung. Rechnet man jedoch die Transaktionskosten - die mit der aufwändigen Vorbereitung und Umsetzung von Arzneimittelrabattverträgen auf Ebene der Marktbeteiligten (Arzneimittel-Hersteller, Krankenkassen, Apotheken, Ärzte und Patienten) einhergehen - gegen hier erzielbare Einsparpotenziale auf, verändert sich diese Bilanz (Abb. 4).
So wurden nach Angaben des BMG durch Rabattverträge im Jahr 2008 rund 310 Mio. Euro von den Krankenkassen eingespart. Dies entspricht weniger als einem Prozent der gesamten GKV-Arzneimittelausgaben. Dem steht alleine auf der Apothekenebene ein zusätzlicher Verwaltungsaufwand von ca. 650 Mio. Euro entgegen (Müller 2009). Die Apotheker reklamieren z.Z. erfolgreich die „Rückerstattung“ dieser Aufwendungen und schließen derzeit mit unterschiedlichen AOKen, zur Umsetzung deren Rabattverträge, entsprechende „Compliance-Vereinbarungen“ ab. Auf diese Weise steht den gewährten Rabatten nicht nur kalkulatorisch, sondern auch faktisch eine Buchungsposition gegenüber. Hinzu kommen eine Reihe weiterer sozialer Kosten des Rabattsystems, die z.T. schwer messbar bzw. bewertbar sind, aber zweifellos relevante Größenordnungen erreichen und daher bei einer „Kosten-Nutzen-Bewertung“ des Rabattsystems in Rechnung zu stellen sind (Abb. 4).
In Anbetracht eines jährlichen Ausgabenvolumens von rund 26 Mrd. Euro - und des hierin von Experten vermuteten Steuerungs- und Wirtschaftlichkeitspotenzials - dürften sich die Verfahrenskosten durch das vorgeschlagene System in Relation zu den - eben durch das neue System - erzielbaren Qualitäts- und Effizienzgewinnen als sehr lohnende Investition erweisen. Die Institutionen und Instrumentarien, die eine solche Idee in die Praxis umsetzen könnten, sind in Deutschland bereits vorhanden.
Machbarkeitsstudie belegt praktische Anwendbarkeit
Die praktische Anwendbarkeit und einfache Umsetzbarkeit des Modells im generikafähigen Marktsegment sowohl unter dem Aspekt eines vertretbaren Zeit- und Ressourcenaufwandes als auch mit Blick auf die inhaltlichen Konsequenzen wurde im Rahmen einer Machbarkeitsstudie unter der wissenschaftlichen Leitung von Herrn Professor Dr. Jürgen Wasem/Universität Duisburg-Essen in Kooperation mit der CAREM GmbH und Frau Prof. Dr. Dea Niebuhr, FH Fulda, belegt. <<