Die DAK – Unternehmen Leben, die seit 2003 – zuerst im Vorstand – dann seit 2005 als Vorsitzender des DAK-Vorstandes von Prof. Dr. h.c. Herbert Rebscher geleitet wird, und die BKK Gesundheit haben vor mehr als einem Jahr fusioniert und firmieren seitdem unter dem Namen DAK-Gesundheit. Das neue Unternehmen ist mit seinen 6,6 Millionen Mitgliedern die drittgrößte deutsche Krankenkasse, die Rebscher als Vorstandsvorsitzender führt. Rebscher studierte als Offizier an der Universität der Bundeswehr Wirtschafts- und Organisationswissenschaften mit dem Schwerpunkt Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie Gesundheitsökonomie sowie dem Schwerpunkt Medizinische Ethik. Seit August 2005 ist er zudem als Honorarprofessor für Gesundheitspolitik und Gesundheitsökonomie an der Universität Bayreuth tätig.
> Sehr geehrter Herr Prof. Rebscher, kurz vor der Bundestagswahl existieren Überschüsse im Gesundheitsfonds und bei den Krankenkassen in Milliarden-Höhe. Hat sich das neue Finanzierungskonzept - Gesundheitsfonds, Einheitsbeitragssatz und Prämien - demnach bewährt?
Richtig ist: Wir haben Ende 2012 diese Überschüsse in Höhe von rund 13 Milliarden im Gesundheitsfonds und rund 15 Milliarden bei den Krankenkassen. Dabei sollten wir immer bedenken, dass dabei rund 10 Milliarden Euro durch gesetzliche Rücklagen gebunden sind. Richtig ist aber auch, dass diese Überschüsse mit der Systematik des neuen Finanzierungskonzepts nichts zu tun haben und schon gar nicht in einer nachhaltigeren Gestaltung unserer Versorgungsstrukturen begründet sind. Die Überschüsse waren und sind schlicht und einfach der politischen Angst geschuldet, dass die Widersprüche und Fehler des gefundenen Finanzierungskonzepts so richtig sichtbar werden und damit politisch Widerstände erzeugt hätten.
Erinnern wir uns: Nach der Bundestagswahl 2009, mit angstvollem Blick auf die Finanz- und Bankenkrise und in einer angespannten finanziellen Situation der gesamten GKV mussten einige Kassen - unter anderen auch die DAK - Zusatzbeiträge erheben ...
... was wie erwartet zur Abwanderung preisreagibler, junger, gesunder Menschen führte und die Finanzprobleme des Gesamtsystems weiter verschärfte. Die Politik reagierte, um einen Flächenbrand vorzubeugen, mit einem nie dagewesenen Finanzpaket, nämlich erstens einer drastischen Beitragserhöhung um rund 6 Milliarden Euro (0,6 Beitragspunkte), zweitens mit einem um 2 Milliarden Euro erhöhten Bundeszuschuss und drittens mit einem Sparpaket von rund 3 Milliarden Euro speziell im Arzneimittelmarkt. Damit konnte übertüncht werden, dass sonst das gesamte System in Zusatzprämien und einen hochkomplexen und teuren Sozialausgleich abgeglitten wäre.
Diese Finanzspritze von 11 Milliarden entsprach damit exakt der geschätzten Defizitprognose für das Jahr 2011.
Exakt. Zum Glück und durch durchaus kluge finanzpolitische Maßnahmen konnte die Krise von Deutschland weitgehend abgewendet werden, so dass diese 11 Milliarden in 2010, 2011 und 2012 zum Aufbau der jetzt vorhandenen Überschüsse beitragen konnten. Damit hat sich aber keine Finanzsystematik bewährt, vielmehr hat eine außerhalb dieser Systematik liegende Rettungsaktion die Probleme des Systems kurzfristig zugedeckt.
Sie kritisieren vor allem das dahinterliegende Konzept. Was sind Ihrer Meinung nach die Hauptprobleme dieser Art der Finanzierung?
Das Problem ist der Einheitsbeitragssatz. Er verstaatlicht quasi die Einnahmeseite eines wettbewerblichen Krankenversicherungssystems und suggeriert gleiche Strukturen bei allen Kassen. Der Risikostrukturausgleich kann dieses Problem nicht auffangen, weil er politisch willkürlich nur auf ein Spektrum der Morbiditätsmessung reduziert ist und zudem technisch noch entwicklungsbedürftig ist - wie der wissenschaftliche Beirat beim BVA eindrucksvoll festgestellt hat - und in verschieden Facetten noch nachgebessert werden muss.
Das heißt für Sie?
Das bedeutet: Die Zuweisungen an die Kassen decken die realen Morbiditäten eben nicht ab, wie politisch suggeriert wird, und führen zu Verzerrungen, die nicht in Wirtschaftlichkeitsunterschieden sondern im konkreten Versorgungsbedarf der Kassen liegen. Dadurch wird weiterhin Risikoselektion ökonomisch honoriert und Versorgungsorientierung - also das, wozu die Sozialversicherung eigentlich da ist - ökonomisch diskriminiert. Deshalb und das hätte man vorher wissen können, führt diese Form der Finanzierung zu einer extremen Form der Vermeidungsstrategie von Zusatzprämien, zu weiteren subtilen Versuchen der Risiko-
selektion, was die Probleme bei der Versicherung älterer und chronisch kranker Menschen nach der Schließung zweier Krankenkassen ja eindrucksvoll bestätigt hat. Aber es führt ebenso zu einer Abkehr von einer Versorgungs- und auch Innovationsorientierung der Kassen. Es macht eben keinen Sinn, preisreagiblen jungen gesunden Menschen ohne Versorgungsbedarf eine Exit-Option bei 8 Euro Zusatzprämie zu geben, während die versorgungsintensiven, älteren multimorbiden behinderten Menschen selbstverständlich das gute Angebot einer versorgungsorientierten Kasse zu schätzen wissen und der Kasse treu bleiben. Das verschärft gerade das Problem und führt nicht zu ökonomisch sinnvollen wirtschaftlichen oder effizienten Verhalten, sondern geradeaus in Risikoselektion, um das eigene Überleben zu sichern.
Bleiben wir einen Moment noch bei den beschlossenen Maßnahmen. Der Finanzminister hat doch Recht mit seiner Aussage, dass es keiner schuldenfinanzierten Steuerzuschüsse zu einem Fonds mit reichlich Mitteln bedarf?
Es ist ja die Krux dieser Form von Steuerzuschüssen, dass sie finanzpolitisch als disponible Zuschüsse verstanden werden, was im Übrigen ja auch unseren Finanzverfassungsgrundsätzen entspricht. Dabei vergessen wir jedoch immer die Begründungs- und Entwicklungsgeschichte dieser Steuerzuschüsse. Sie sollten ja mal - und nur so sind die 14 Milliarden Euro Bundeszuschuss erklärbar - die Ausgaben für die beitragsfrei versicherten Kinder und alles, was sich um Mutterschaft, Entbindung und Betreuung dieser Kinder rankt, finanzieren. Stellen Sie sich vor, es würde in diesen Tagen nicht im Rahmen der Haushaltsberatungen, quasi nebenbei die Kürzung des Bundeszuschusses beschlossen, sondern es würde in den Headlines der Boulevardpresse stehen „Schäuble kürzt die Untersuchungen für Kinder und Jugendliche“ oder „Schäuble kürzt die Ausgaben für Mutterschaftsleistungen“. Es ginge ein Proteststurm durchs Land.
Demnach steckt politisches Kalkül hinter allem.
Das ist genau der Unterschied zwischen einer leistungsrechtlichen Verpflichtung des Staates zur Finanzierung konkreter Leistungen und einem abstrakten Zuschuss, der uns in einer nie dagewesenen Weise von den finanzpolitischen Entscheidungen abhängig macht und mit Blick auf die zukünftigen Haushaltsentwicklungen und die Schuldenbremse des Grundgesetztes nur neue Fragen provoziert. Verlässlichkeit und Finanzierungszusagen durch Steuerzuschüsse war und ist schon immer ein Gegensatz.
Für Innovationen im System wäre nach Ansicht vieler ein gezielter Mitteleinsatz notwendig, um etwa Studien zum Evidenznachweis zu finanzieren. Brauchen wir einen Innovationsfonds beim BVA?
Also von Fonds sollten erst einmal alle die „Nase voll haben“. Richtig ist: Wir brauchen mehr Mittel für die Analyse dessen, was wir in unserer Versorgungswirklichkeit mit konkreten medizinischen Dienstleistungen, Produkten und Verfahren bewirken. Dabei sollten wir jedoch unterscheiden, wer in welchem Stadium der Entwicklung, Markteinführung und Verwendung für diesen Nachweis verantwortlich sein sollte.
Wie würde Ihr Finanzierungsmodell aussehen?
In einer zugegebenermaßen etwas groben Näherung könnte man eine solche Zuständigkeitsregelung etwa wie folgt definieren: Für die Frage der Wirksamkeit und Unbedenklichkeit, also den Nachweis der Evidenz, ist derjenige zuständig, der an der Vermarktung eines Produktes interessiert ist. Dies ist und bleibt eine Bringschuld der forschenden Industrie. Dies gilt sicher auch für die Beurteilung des Patientennutzens auf relevante patientenbezogene Endpunkte. Bei der Frage des mittel- und langfristigen Nutzens im Versorgungskontext unter Alltagsbedingungen hat sicher das gesamte System ein großes Interesse, diese Zusammenhänge durch gut angelegte Versorgungsforschungskonzepte zu evaluieren und zu begleiten. Und hier könnte ich mir tatsächlich eine andere Form der Finanzierung vorstellen, etwa durch einen „Versorgungsforschungs-Cent“ pro Rezept oder pro Krankenhausfall. Das hätte mehrere Vorteile. Es würde auch durch die Privatversicherung und durch die Beihilfe mitfinanziert, wodurch die Fehlverteilung bei ausschließlicher GKV-Finanzierung vermieden wäre. Das Ganze könnte im Gemeinsamen Bundesausschuss initiiert werden und - was das Studiendesign betrifft - dort auch wesentliche Erwartungen formuliert werden. Und schließlich hat auch die einzelne Krankenkasse, insbesondere bezüglich ihrer selektiven Vertragsoptionen und Versorgungsmodelle, ein großes Interesse daran, durch geeignete Evaluationen den Mehrwert zu erkennen, um ihr Vertragsportfolio und ihre unternehmenspolitischen Strategien daran zu orientieren.
Das Konzept der Nutzenbewertung und der evidenzbasierten Medizin, wie es vom IQWiG gehandhabt und vom G-BA exekutiert wird, steht in der Kritik. Wie gehen Sie damit um?
Zunächst einmal glaube ich, dass im IQWiG gute wissenschaftliche Arbeit geleistet wird und im G-BA verantwortliche versorgungspolitische Entscheidungen getroffen werden. Man sollte bei der Diskussion bitte genau unterscheiden, welche Funktion diese Institutionen haben, nämlich die Bewertung der Evidenz einer Maßnahme durch das IQWiG und die Diskussion um eine versorgungspolitische Entscheidung im G-BA. Wenn man dieses ein bisschen auseinander hält, relativiert sich schon einiges an der Kritik. Doch wie auch immer: Wir können von einer guten klinischen Evidenz bei der Frage der Verfügbarkeit von Leistungen im System nicht abgehen.
Dennoch steht die sicher berechtigte Kritik im Raum, dass man mit dem Instrument AMNOG in einer frühen Nutzenbewertung meist nicht das bewerten kann, was eigentlich notwendig wäre, nämlich wirklich patientenrelevante Endpunkte.
Darum bin ich froh über die neue Möglichkeit des G-BA, in Fällen, in denen es noch keine abschließende Evidenz gibt, jedoch im natio-nalen und internationalen Kontext sehr plausible - vielleicht auch noch vorläufige Erfahrungen - verfügbar sind, diese zu einem eigenständigen Evaluationskonzept zusammenzuführen und dieses auch einzuleiten. Ich könnte mir vorstellen, dass man so sehr viel mutiger als in der Vergangenheit und vor allem sehr viel schneller zu entsprechenden Beschlüssen kommen kann. Mit diesem Instrument könnte aber die Zeit wirklich überwunden werden, in der über Jahre hinweg der Evidenznachweis eingefordert, aber in den weltweiten Studien eben nicht geliefert werden konnte, so dass auch versorgungspolitisch dringende Fragen über Jahre nicht beantwortet werden konnten. Was wir allerdings dringend entwickeln müssen, ist eine Kultur der nachgehenden Versorgungsforschung, denn dort spielt sich das wahre Leben ab und dort werden auch die Fragen des Umgangs mit evidenzbasierten Leistungen im konkreten Versorgungsalltag, in den additiven und parallelen Interventionen, oft mehrerer Akteure, die Fragen der Zukunft sein. Hier müssen wir uns zukünftig stärker engagieren.
Wenn Sie die Versorgungsforschung betonen, wer soll sie leisten, wie soll sie finanziert werden?
Versorgungsforschung hat im Grunde immer der zu leisten, der ein konkretes Versorgungskonzept kontrahiert, entwickelt und die Prozesse gestaltet. Wer handelt, haftet auch für die Ergebnisse. Dieser alte ökonomische Grundsatz gilt auch hier. Die Veränderung von Versorgungsprozessen bedingt den Nachweis der Wirksamkeit im Alltag der Patientenversorgung und deshalb müssen wir die patientenrelevanten Endpunkte, die Zusammenarbeit der jeweiligen Akteure, die Abläufe und Prozesse der Versorgung immer kritisch hinterfragen. Und zum Finanzierungsvorschlag habe ich ja soeben die Idee des Versorgungsforschungs-Cents formuliert. Hier kann man sicher das eine oder andere Modell diskutieren; allerdings glaube ich auch mit Blick auf die Finanzierung des Krankenhausinstituts InEK, dass dies einen ganz sinnvollen Finanzierungsansatz darstellen könnte.
Die DAK-Gesundheit ist traditionell aktiv im Thema Versorgungsfor-
schung, wie machen Sie das eigentlich ganz praktisch?
Die DAK-Gesundheit ist eine klassische und typische Versorgerkasse. Sie hat eine ältere Klientel und sie hat eine versorgungsintensive Klientel. Deshalb ist die Beobachtung und Analyse dessen, was im Versorgungsalltag geschieht auch eine zentrale Funktion einer solchen Kasse. Wir haben deshalb auch Unterstützung in diesen auch methodisch nicht ganz einfachen Fragen geholt: durch einen kompetent besetzten Beirat für Fragen der Versorgungsforschung, der in einem Vorstandsreferat zur Versorgungsforschung und Gesundheitsökonomie koordiniert wird. All das, was wir im Versorgungsalltag verändern, zum Beispiel durch Integrierte Versorgungsverträge oder aber durch Zusammenarbeit mit Partnern oder eigenen Versuchen der Steuerung im Versorgungsmanagement, unterziehen wir einer kritischen Prüfung mit geeigneten methodischen Ansätzen der Versorgungsforschung. Wir wollen uns damit unterscheiden von vielen marketingorientierten Ansätzen im System, die nur auf Attraktivität für eine junge und gesunde Klientel schielen, aber die Versorgungsprobleme einer älter werdenden Gesellschaft nicht angemessen im Auge haben. Ganz praktisch gesagt: Wir wollen und werden nicht an der Preisfront punkten, aber wir wollen und werden an der Leistungs- und Qualitätsfront punkten. Solange jedenfalls, wie das Finanzierungskonzept der GKV dies zulässt.
Unterstützen Sie auch Projekte Dritter und wer entscheidet über die Mittelverwendung?
Wir sind engagiert in vielfältigen Projekten Dritter, die wir ebenfalls mit Unterstützung unseres Versorgungsforschungsbeirats kritisch bewerten, die Zusammenarbeit diskutieren und im Rahmen - auch der Zusammenarbeit mit dem Bundesversicherungsamt - beispielsweise die Bereitstellung von Daten in anonymisierter, pseudonymisierter Form prüfen. Es gibt Projekte, an denen wir uns auch finanziell beteiligen, aber viele Projekte unterstützen wir durch Bereitstellung entsprechender Prozessdaten der GKV. Über die Mittelverwendung muss jeweils im Kontext des gewählten Studiendesigns entschieden werden. Und dies ist dann meistens eine Kooperation vieler Beteiligter, wie es sich ja eben auch bei den größeren Projekten im System zeigt.
Taugen denn Kassendaten um komplexe Versorgungsfragen zu beurteilen?
Mit Kassendaten oder Prozessdaten der GKV ist es wie mit allen anderen Daten auch. Sie taugen zunächst zu dem Zweck, zu dem sie erhoben werden. Dies ist bei klinischen Daten, Krankenhausdaten oder Daten der pharmazeutischen Industrie in irgendwelchen Forschungskontexten ja auch nicht anders. Das Geheimnis der Datennutzung ist die geschickte Kombination und Interpretation zusammengeführter Daten, die dann eine innere Plausibilität bezüglich Versorgungsprozessen und Abläufen sehr anschaulich darstellen können. Sie ergänzen insoweit klinische Daten oder Daten aus Studiendesigns guter klinischer Studien um die Wirkungen im Versorgungsprozess. Doch Daten der GKV können weiß Gott nicht alles erklären, aber in Kombination mit klinischen Daten, in Kombination mit klinischen Erfahrungen können sie sehr wohl eine neue Qualität der Transparenz für Versorgungsabläufe und Versorgungsprozesse bieten. Gerade in der Kombination verschiedener Daten, etwa von Krankenhausdiagnosen, Rehabilitationsverläufen, Heilmittel- und Hilfsmittelverordnungen, Arbeitsunfähigkeitsdaten, die an keiner anderen Stelle des Versorgungssystems vorliegen, kann man oft interessantere Rückschlüsse auf die Rationalität von Versorgungsabläufen ziehen als aus der isolierten und oft laborhaften Interpretation klinischer Studiendaten.
Was machen Sie eigentlich mit den Erkenntnissen solcher Untersuchungen?
Die Analyse des Versorgungsgeschehens ist für uns Grundlage für die Entwicklung weiterer Integrierter Versorgungsmodelle oder der Zusammenarbeit mit regionalen Akteuren und deren jeweiligen Infrastrukturen vor Ort. Sie bieten auch die Grundlage für die Entwicklung eigener Versorgungsmanagementansätze, um gerade chronisch Kranke und multimorbid Erkrankte im Geflecht unterschiedlicher Zuständigkeiten und Versorgungseinrichtungen gut und angemessen beraten zu können.
Verträge sollen ja zukünftige Strukturen und Prozesse verändern. Wo sehen Sie den derzeitigen Bedarf an Veränderung?
Bei diesem Thema sollten wir zunächst zwei zeitliche Dimensionen oder Fristigkeiten unterscheiden: Kurzfristig können wir sicher durch integrierte Versorgungsmodelle, erprobt in selektiven Verträgen, die Zusammenarbeit der Akteure optimieren und die Versorgung zu besserer Qualität, idealerweise auch zu höherer Effizienz führen. Mittel- und langfristig sollten wir unseren Fokus allerdings auf die Veränderung des Versorgungsbedarfs einer älter werdenden Bevölkerung konzentrieren. Dies wird zu einer Veränderung des medizinischen Angebots, insbesondere auch der Kooperation und Koordination von Medizin führen müssen. Der Versorgungsbedarf der Zukunft wird sich - nach allem was wir heute wissen - auf die Behandlung älterer, multimorbider und chronisch kranker Menschen richten müssen, aber auch auf die Frage der Versorgung im Wohnumfeld der Betroffenen und damit der Entwicklung entsprechender Angebotsstrukturen. Dabei geht es nicht nur um die Optimierung der Akutmedizin allein, sondern auch um die Verfügbarkeit niederschwelliger, betreuender und versorgender Angebote im Wohnumfeld. Der heutige medizinische Trend, gefördert auch durch unsere Honorierungssysteme und dem ökonomischen Druck im System - nämlich die zunehmende Spezialisierung - schafft zwar eine hohe technische Produktivität und Qualität in der einzelnen Verrichtung, produziert aber nicht automatisch die Ressource Koordination, Betreuung und Kooperation zu Gunsten einer ganzheitlichen Sicht auf den älteren, mehrfach erkrankten, behinderten oder chronisch kranken Menschen.
Dr. Rainer Hess, der ehemalige G-BA-Vorsitzende, forderte auf dem MVF-Kongress „Versorgung 2.0“ die DMP mehr auf Komorbiditäten auszurichten. Liegt er mit der Forderung richtig?
Im Zusammenhang mit DMP zeigt sich dieser zukünftige Bedarf schon heute und deshalb hat Rainer Hess recht, wenn unser Versorgungsfokus sich auf die Komorbiditäten und auf den Umgang mit chronischen Krankheiten richten muss. Das gesamte Konzept DMP war quasi die Entwicklungswerkstatt für die Fokussierung aller Beteiligten auf die Versorgungsprobleme von Patienten. Die Erfahrungen aus der Entwicklungswerkstatt DMP sollten wir für unser gesamtes Vertragshandeln und für die Versorgungskonzeption der Zukunft nutzen und erweitern.
Wie erkennen Sie eigentlich Patienten, für die eine Unterstützung des Versorgungsprozesses angezeigt ist?
Zunächst sollte in einem solchen Konzept der Entwicklung eines Versorgungsmanagements die Frage diskutiert werden, was tatsächlich managementbedürftige Erkrankungen und Indikationsstellungen sind. Wir sollten uns davor hüten zu glauben, dass wir das gesamte Krankheitsspektrum mit neuen organisatorischen Regeln der Zusammenarbeit überziehen müssen. Die Grundfrage bei dieser Entscheidung ist die sachverständige Beurteilung, aus welcher Information der Hinweis für eine längerfristige, komplexe, sektorüberschreitende und die Zusammenarbeit mehrerer Akteure einfordernde Krankheitsverläufe entstehen. Das kann dann die Information über ein akutmedizinisches Ereignis, zum Beispiel der Schlaganfall, sein. Das kann aber auch die sinnvolle Analyse und Clusterung vorhandener Informationen sein (beispielsweise beim Zusammenhang zwischen Diabetes und Herzinfarktrisiken). Das kann aber auch die systematische Durchdringung der Prozessdaten im Sinne eines Prädiktionsmodells sein, um frühzeitig Risiken zu erkennen, um die durch Prädiktoren angezeigte Wahrscheinlichkeit der Eskalation zu vermeiden oder zumindest frühzeitig in geeignete Versorgungsprozesse zu überführen. Allen Wegen sollten wir dabei offen gegenüberstehen.
Gibt es Beispiele, wie solche Versorgungsmanagementaktivitäten angelegt sein können und welche praktische Relevanz sie für Patienten haben können?
Das Konzept des Versorgungsmanagements wird seine Akzeptanz aus der Erfahrbarkeit des Patientennutzens gewinnen. Der Patient muss erkennen, dass die Akteure in diesem Versorgungskontext zusammenwirken, seine Problemstellung im Mittelpunkt des Sachverständigendiskurses steht, seine Bedürfnisse und Erwartungen angemessen respektiert werden und mit ihm gemeinsam die Entscheidungen gefällt werden. Einfache Beispiele sind wie so oft die besten Beispiele. Es gilt eben sicherzustellen, dass die Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln eines Schlaganfallpatienten nicht erst dann beginnt, wenn der Hausarzt den Reha-Entlassungbericht mit dem Hinweis auf beispielsweise logopädische Anschlussversorgung oder die Hilfsmittelausstattung erhält. Kluges Versorgungsmanagement antizipiert die Wahrscheinlichkeit dieser Verordnung, indem sie sich nach einigen Tagen im rehabilitativen Kontext die Information einholt, ob und welche Heil- und Hilfsmittelversorgungen angezeigt sind. Das ist alles wichtig, um die Koordination der Abläufe früh zu organisieren. Menschen, die eine solche Zusammenarbeit als Patient erleben, erkennen unmittelbar und nachhaltig den Nutzen von Versorgungsmanagement im System. Es geht hier immer darum, Abläufe zu beschleunigen, Antragsverfahren zu entbürokratisieren, geeignete Akteure zeitlich und inhaltlich in die Versorgungskette einzubinden und so einen gut organisierten Ablauf erfahrbar zu machen.
Wie messen Sie die Effekte? Unsere Evaluationsmethoden sind in der Mehrzahl noch auf einfache Ursachen-Wirkungszusammenhänge fokussiert.
Versorgungsforschung hat ihre zentrale Begründung in der Bewertung von Maßnahmen in Bezug auf patientenrelevante Endpunkte unter Alltagsbedingungen der jeweiligen Versorgung. Das eben skizzierte Konzept einer Beurteilung von Versorgungskonzepten mit mehr multimorbiden und chronischen Krankheitsverläufen bedarf einer Weiterentwicklung unserer Methodensettings hin zur Beurteilung komplexer Versorgungszusammenhänge. Gerade in dieser Zeitschrift wurden ja vielfältige Modelle vorgestellt, wie man dies anlegen kann. Wir innerhalb der DAK-Gesundheit haben unser gesamtes Konzept der analytischen Aufbereitung der Datenbestände im Data-Warehouse und unsere Methodenauswahl auf dieses Ziel der Beurteilung komplexer Versorgungszusammenhänge konzentriert. Wir führen daher seit Jahren die Evaluation unserer Integrierten Versorgungskonzepte, aber auch der Versorgungsmanagementansätze in einem entwickelten Modell zusammen.
Sie haben sich für das sogenannte Propensity-Score Matching entschieden, wie schon einmal in einem Fachbeitrag in MVF ausgeführt wurde.
Richtig. Wir dürfen hier nicht unterschätzen, welch hohe technische, methodische Vorbereitungen notwendig sind. Und, vor allem wie wir auch die entsprechende methodische Kompetenz in die Köpfe unserer Vertragsteams und unserer Versorgungsmanagementteams bekommen, um mit solchen Instrumenten dann auch kompetent umzugehen. Ich hoffe, dass die Versorgungsforschung hier noch weitere Hinweise für gute Versorgungsforschungsdesigns im Rahmen der Möglichkeiten von Krankenkassen und der beteiligten Akteure entwickelt. Unsere Erfahrungen in der Anwendung sind allerdings bisher rundum positiv und zeigen, dass es gute mathematisch statistische Verfahren gibt, um den „Goldstandard“ guter klinischer Studien - die Randomisierung - im Versorgungsalltag zu ersetzen und gerade bei der Beurteilung komplexer Interventionen angemessen homogene Vergleichskollektive zu definieren.
Wenn Sie sich nach der nächsten Bundestagswahl etwas wünschen könnten, was wären Ihre Hoffnungen?
Ich befürchte, auch nach der Bundestagswahl wird Gesundheitspolitik kein Wunschkonzert sein. Aber einige Fähigkeiten der Entwicklung eines Systems, das gleichzeitig produktiv, qualitativ und effizient sein soll, sollten wir entwickeln. Erstens: Die Innovationsfähigkeit des Systems. Diese ist abhängig von der Investitionsfähigkeit seiner Akteure. Dazu gehört zentral ein Finanzierungs- und Honorierungssystem, in dem die Innovationsperspektiven in ihrer zeitlichen Dimension mit den Inves-
tionsperspektiven harmonieren. Eine kurzfristige Preisreagibilität (etwa durch Zusatzprämien) zerstört diesen Zusammenhang und ist deshalb innovationsfeindlich.
Und zweitens und drittens?
Die Fähigkeit, Innovationen rechtzeitig zu bewerten und für das Versorgungssystem verfügbar zu machen, gehört dazu. Eine Kultur des Nachweises durch gute klinische Studien (Fokus Evidenz) und einer integrierten Versorgungsforschung mit Fokus auf patientenorientierte Outcomes/Nützlichkeit sind zwingende Bedingungen einer Innovationsstrategie. Und zum Dritten gehört ein verlässliches internes und externes Qualitätsmanagement dazu, das mit entwickelten Qualitätsindikatoren und Verfahren zur Risikoadjustierung zu einem vertrauenstiftenden und fairen Unterscheidungsmodell entwickelt wird.
Ein Wunsch zum Schluss?
Den wichtigsten: Eine experimentelle Kultur, die den jeweils aktuellen Versorgungszusammenhang kritisch hinterfragt und alternative Problemlösungsszenarien ermöglicht. Dies verbunden mit einer Evaluationskultur, die den neu gefundenen Versorgungszusammenhang beurteilbar und damit das System durch Benchmarks lernfähig macht.
Herr Prof. Rebscher, vielen Dank für das Gespräch. <<
Das Gespräch führten MVF-Herausgeber Prof. Dr. Reinhold Roski und MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier.
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