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Kommentar: Bejubelt, belächelt, begraben, am Auferstehen?

Gibt man das Stichwort „Integrierte Versorgung“ bei Google ein, erhält man 470 000 Treffer – der Begriff „Regelversorgung“ führt zu 443 000 Ergebnissen. Diese Zahlenrelation spiegelt zwar gut die gesundheitspolitischen Diskussionen der letzten Jahre wieder. Sie ist jedoch weit von einem Abbild der Versorgungslandschaft entfernt. 14 Jahre nach Einführung der IV führt sie nach wie vor ein Nischendasein im deutschen Gesundheitssystem. Nur 0,7 bis 0,8 Prozent der Gesundheitsausgaben flossen in den letzten Jahren in die integrierte Versorgung. Zudem ist die Anzahl der IV-Verträge seit Jahren stag­nierend. Damit bleibt ein erhebliches Potenzial für ein besseres und effizienteres Gesundheitssystem unerschlossen.

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Erstveröffentlichungsdatum: 07.04.2014

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Bejubelt, belächelt, begraben, am Auferstehen?

Gibt man das Stichwort „Integrierte Versorgung“ bei Google ein, erhält man 470 000 Treffer – der Begriff „Regelversorgung“ führt zu 443 000 Ergebnissen. Diese Zahlenrelation spiegelt zwar gut die
gesundheitspolitischen Diskussionen der letzten Jahre wieder. Sie ist jedoch weit von einem Abbild der Versorgungslandschaft entfernt. 14 Jahre nach Einführung der IV führt sie nach wie vor ein Nischendasein
im deutschen Gesundheitssystem. Nur 0,7 bis 0,8 Prozent der Gesundheitsausgaben flossen in den letzten Jahren in die integrierte Versorgung. Zudem ist die Anzahl der IV-Verträge seit Jahren stagnierend.
Damit bleibt ein erhebliches Potenzial für ein besseres und effizienteres Gesundheitssystem unerschlossen. Die Herausforderung an unser Gesundheitssystem liegt nicht im Bereich der Spitzenmedizin bei hochkomplexen Eingriffen, sondern vielmehr im Umgang mit dem Massenphänomen chronische Erkrankungen und Multimorbidität. Drei von vier im Gesundheitssystem ausgegebene Euro entfallen mittlerweile auf Leistungen für chronisch Erkrankte (SVR 2001). Deren Relevanz ist in den letzten zwei Jahrzehnten erheblich gestiegen: Betrug beispielsweise die Diabetes-Prävalenz Ende der 80er Jahre ca. vier bis fünf Prozent in der Bevölkerung, so verdoppelte
sich dieser Wert bis zum Jahr 2009 auf 9,7 Prozent (Deutsche Diabetes-Hilfe 2013). Zudem bleibt es oft nicht bei einer Erkrankung: Diabetiker haben ein zwei- bis vierfach erhöhtes kardiovaskuläres Erkrankungsrisiko,
ein doppelt so hohes Depressionsrisiko wie ein Nicht-Diabetiker und 40 bis 50 Prozent entwickeln ein Nierenleiden (Deutsche Diabetes-Hilfe 2012, 2013). Gerade bei den Älteren ist Multimorbidität  der „Regelfall“: Drei von vier Personen über 75 Jahren leiden unter mehr als einer Krankheit (RKI 2012). Gerade durch diese altersbedingte Morbidität wird die Belastung des Gesundheitssystems in den nächsten Jahren noch deutlich steigen: Bevölkerungsprognosen gehen davon aus, dass sich der Anteil der über 80-Jährigen an der Bevölkerung bis 2040 verdoppelt (BiB 2013).

Die Folge für die betroffenen Patienten ist ein endloser Irrweg durch das Gesundheitssystem. So suchen knapp 30 Prozent der Versicherten vier oder mehr verschiedene ambulante Ärzte innerhalb eines Jahres auf. 10 Prozent der Versicherten werden im gleichen Zeitraum bei sechs oder mehr Ärzten vorstellig (BARMER GEK 2014). Hinzu kommen Krankenhausaufenthalte, Behandlung durch Heilberufe, wie Physio- oder Ergotherapeuten, und pflegerische Betreuung. Jeder Beteiligte übt seine Profession aus – ein ganzheitliches Bild des Patienten hat jedoch kaum einer. Die Verantwortung für die Vermeidung von Doppeluntersuchungen, den Abgleich der Diagnosestellung und die Koordination der therapeutischen Maßnahmen – die sowohl qualitätssteigernd als auch gleichzeitig kostensenkend wirken – liegt damit oft bei einer Person: beim hochbetagten, multimorbiden Patienten.

Nicht nur diese strukturellen Defizite erschweren die adäquate Behandlung von Patienten mit den gängigen Volkskrankheiten. Nachteilig wirkt sich auch aus, dass es kaum Anreize zur flächendeckenden und systematischen Umsetzung von Leitlinien und strukturierten Behandlungspfaden gibt. Die Vergütung erfolgt für jeden Versorgungsbereich anhand einer unterschiedlichen Logik. Zudem ist sie vor allem an die erbrachte Leistung (und damit das Volumen) gekoppelt statt an die Ergebnisqualität der Behandlung. Um diesen Verkrustungen entgegenzuwirken, hat der Gesetzgeber in den letzten 15 Jahren neue Handlungsspielräume für die Akteure geschaffen: Modellvorhaben, Strukturverträge, ambulante Behandlung im Krankenhaus, ambulante spezialfachärztliche Versorgung, Disease Management Programme und die Integrierte Versorgung. Dieser gesetzliche Rahmen wird von den Akteuren auch genutzt und hat an vielen Stellen zu Veränderungen und mehr Vielfalt im Gesundheitssystem geführt.

So zählen die DMPs mittlerweile 6,5 Mio. eingeschriebene Patienten, die Krankenkassen haben eigene Vertragsabteilungen aufgebaut bzw. sich Einkaufsgemeinschaften angeschlossen und die Kooperationsformen
im ambulanten Sektor haben erheblich zugenommen: Mehr als 10 000 Ärzte sind bereits in medizinischen Versorgungszentren tätig; 30 000 Ärzte kooperieren im Rahmen von Ärztenetzen miteinander (KBV 2013; Agentur Deutscher Arztnetze). Mit Ausnahme der DMPs liegt ein zentrales Defizit vieler dieser Reformansätze in der meist nur geringen Versichertenabdeckung und der regionalen Begrenzung der Projekte. In den IV-Verträgen sind
durchschnittlich 300 Versicherte je Vertrag eingeschrieben (SVR 2012). Insbesondere die Verträge der bundesweit geöffneten Ersatzkassen mit durchschnittlich 249 Teilnehmern je Vertrag und der SVLFG mit durchschnittlich
118 Teilnehmern werfen die Frage auf, wie sich die entstehenden Transaktionskosten durch den Vertrag refinanzieren lassen. Auch eine nähere Betrachtung der inhaltlichen Gestaltung der IV-Verträge verdeutlicht, dass diese bisher sehr eng gefasst sind. Fast zwei Drittel der IV-Verträge sind auf einen Leistungsanlass oder ein Quartal beschränkt. Es gibt somit nur wenige Verträge, die einen umfassenden populationsorientierten Versorgungsansatz haben. Gerade für chronisch Erkrankte wäre jedoch ein langfristiges Versorgungsmanagement, das auf eine ganzheitliche Koordination und Überbrückung von Schnittstellen angelegt ist, am erfolgversprechendsten.
Somit zeigt sich: Auch über zehn Jahre nach Einführung der IVVerträge in Deutschland gibt es kaum Verträge, die großflächig mit einer relevanten Versichertenanzahl angelegt sind und eine umfassende, langfristige Veränderung des Versorgungsmanagements chronisch Kranker erzielen können. Die Ursachen für diese Mängel sind vielfältig. Ein zentraler Aspekt, der viele „große Ideen“ schrumpfen lassen hat, sind die hohen
Erwartungen an eine sehr schnelle Refinanzierung von Anfangsinvestitionen durch innovative Versorgungsmodelle. Diese Erwartungen sind insbesondere den eng gestrickten gesetzlichen Anforderungen an die
Wirtschaftlichkeit von Verträgen sowie der mangelnden Investitionsfreude der Krankenkassen vor dem Hintergrund drohender Zusatzbeiträge geschuldet. Sie widersprechen jedoch sowohl den Erfahrungen
aus anderen Industrien als auch der Organisationstheorie: Eine echte Versorgungsinnovation verändert im ersten Schritt zwangsläufig Routinen und führt somit zwingend erst einmal zu Friktionen und Mehraufwand. Ohne die Möglichkeit, eine solche „Durststrecke“ zu durchlaufen, haben Innovationen jedoch wenig Chancen auf Umsetzung. Ein weiteres Hindernis ist die hohe Komplexität, die mit der Konstruktion eines sektorenübergreifenden Versorgungsansatzes verbunden ist. Planungsmechanismen, regulatorische Vorschriften, Vergütungssysteme, berufsständische Vertretung, IT-Infrastruktur – hinsichtlich all dieser Aspekte gelten für jeden Versorgungssektor eigene Spielregeln. Damit steht man vor dem typischen, durch Pfadabhängigkeiten beschriebenen Dilemma: Mit jeder Entscheidung, die man einst getroffen hat, wurde die Trennung der Sektoren immer weiter
zementiert und der Aktionsspielraum entsprechend verringert. Ein IV-Vertrag erfordert somit ein Ausbrechen aus diesen eingetretenen Pfaden. Dieses Ausbrechen ist jedoch mit hohen Transaktionskosten verbunden
– und bedarf demzufolge starker Anreize für die beteiligten Akteure, gegen die gewohnte Routine aktiv zu werden. Aufgrund des mangelnden Handlungsdrucks auf die Akteure, sich durch eine stärkere Patientenorientierung zu
differenzieren, sowie eines starken Preiswettbewerbs zwischen den Krankenkassen fehlt es an den entsprechenden Anreizen. Möglicherweise kann der Innovationsfonds diese Pattsituation lockern. Bei richtiger Ausgestaltung
bietet er die Chance, Innovationen zu stimulieren und das Innovationsklima zu verbessern. Wir brauchen nicht zwingend mehr IV-Verträge im Gesundheitswesen – aber wir brauchen Investitionen in Verträge, die auf größere
Patientenkollektive, einen langfristigeren Zeitrahmen und ein sinnvolles Zusammenspiel der beteiligten Leistungserbringer auslegt sind. Dafür bedarf es der Anstrengung aller Akteure: Der Gesetzgeber muss einen größeren
regulatorischen Spielraum schaffen, die Kassen höhere Investitionsbereitschaft zeigen und die Leistungserbringer mehr Offenheit für Versorgungsinnovationen an den Tag legen.

Nicht zuletzt ist außerdem die „lautere“ Nachfrage der Patienten nach neuen Versorgungsmodellen gefordert, um den Systemwandel zu beschleunigen. Erst unter diesen Voraussetzungen wird es gelingen, die Versorgung von
Volkskrankheiten flächendeckend sektorenübergreifend und patientenorientiert weiterzuentwickeln.

Übrigens: Eine Suche nach „integrierter Versorgung“ in den Protokollen der Bundestagsdebatten der letzten acht Jahre führt zu 33 Treffern … #Neuland?

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Kommentar von:

Prof. Dr. Volker Amelung, Vorstandsvorsitzender des Bundesverbands Managed Care e.V. und Professor für Gesundheitssystemforschung an der Medizinischen Hochschule Hannover.

Dr. Susanne Ozegowski, Geschäftsführerin des Bundesverbands Managed Care e.V.