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Kommentar: „Kosten der Demenz - für den Morbi-RSA zu niedrig"

Kommentar von Günther Sauerbrey, Vice President Merz Pharmaceuticals GmbH. Er ist seit 1975 bei Merz Pharma, 1978-2001 Leitung Marketing und Vertrieb Pharma Deutschland; seit 2001 Bereichsleiter Health Care Relations; 2001 Gründung des Zukunftsforum Demenz; 1996 - 2005 Mitglied im Vorstand bzw. stellvertretender Vorsitzender des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie (BPI). Veröffentlichungen zur Schnittstellenproblematik von gesetzlicher Kranken- und Pflegeversicherung und zu den Defiziten in der geriatrischen Versorgung.

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Erstveröffentlichungsdatum: 24.02.2012

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> Es ist schon bemerkenswert, wie geräuschlos kürzlich die Entscheidung des Bundesversicherungsamtes aufgenommen wurde, die Demenz aus dem Kreis der Morbiditätsgruppen des erweiterten Risikostrukturausgleichs zum 1. Januar 2013 wieder herauszunehmen - ganz im Gegensatz zu der Phase der Vorbereitung des Gesundheitsfonds; im Jahre 2008 hatte der wissenschaftliche Beirat beim Bundesversicherungsamt empfohlen, die Demenz zusammen mit anderen Volkskrankheiten nicht in den Morbi-RSA aufzunehmen.
Damals gab es einen medialen Aufschrei; das Bundesversicherungsamt folgte nach durchgeführter Anhörung anderen Sachverständigen und bezog alle Erkrankungen mit Disease-Management-Programmen (DMP) sowie darüber hinaus die Depression, die Demenz sowie die Hypertonie in die zuweisungsbegründenden Erkrankungen ein. Darauf trat der wissenschaftliche Beirat beim Bundesversicherungsamt am 28. März 2008 zurück.
Es stellt sich die Frage: Was hat sich eigentlich zwischen 2008 und 2012 geändert?
Die Erkrankung war damals wie heute „chronisch“ und vom Verlauf her „schwerwiegend“.
Sicherlich lag auch 2008 das durchschnittliche Ausgabenvolumen eines Alzheimerkranken nicht 50% über den Leistungsausgaben aller Versicherten, wie es § 31 der Risikostrukturausgleichsverordnung (RSAV) vorschreibt, denn die GKV-Ausgaben bei Demenz waren in den letzten Jahren recht überschaubar: die Diagnosekosten halten sich in Grenzen, psychometrische Testverfahren sind vergleichsweise kostengünstige Diagnostika, und die Bildgebung findet zur differentialdiagnostischen Abklärung nur in 13,5% der Fälle statt.
Der Versorgungsanteil mit Antidementiva liegt bei ca. 20%, und der generische Wettbewerb unter den Antidementiva beginnt erst.
Offensichtlich werden solche jährlichen Anpassungen der Fondssteuerung weitgehend als gegeben hingenommen, weil diese recht abstrakt und wenig verständlich sind.
Die Grundlage des Gesundheitsfonds und seine Zielsetzung sind hingegen durchaus nachvollziehbar.
Grundlagen des weiterentwickelten
Risikostrukturausgleichs
Zeitgleich mit der Vereinheitlichung des Beitragssatzes aller gesetzlichen Krankenkassen und mit der Etablierung des Gesundheitsfonds zum 1. Januar 2009 wurde der Risikostrukturausgleich weiterentwickelt, damit bei den Mittelzuweisungen aus dem Fonds an die Krankenkassen deren jeweilige Risiko- und Ausgabenstruktur sichergestellt ist. Damit sollten vor allem morbiditätsbedingte Wettbewerbsverzerrungen unter den Krankenkassen weitgehend vermieden werden.
So hatte der erweiterte Risikostrukturausgleich primär das Ziel, dass Menschen mit bestimmten Erkrankungen nicht von den Kassen „herausselektiert“ werden können.
Bis zum 31. Dezember 2008 beschränkte sich der Risikostrukturausgleich unter den Krankenkassen im Wesentlichen auf die Zahl der Mitglieder und der mitversicherten Familienangehörigen sowie auf Alter und Geschlecht der Versicherten. Zur Vermeidung einer Risikoselektion sieht § 268 Abs. 1 Ziff. 5 SGB V vor, dass bei der Bemessung der Morbiditätsgruppen 50 bis 80 Erkrankungen zu Grunde gelegt werden, die kostenintensiv, chronisch und schwerwiegend sein müssen. Darüber hinaus präzisiert die Rechtsverordnung über das Verfahren zum RSA, dass die Krankheiten „eng abgrenzbar“ sein sollen (§ 31 Abs. 1 RSAV). Ein wissenschaftlicher Beirat beim Bundesversicherungsamt, den das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) auf Vorschlag des Bundesversicherungsamtes und nach Anhörung der Spitzenverbände der Krankenkassen bestellt, erarbeitet und überarbeitet den Katalog der in den Risikostrukturausgleich einzubeziehenden Krankheiten (§ 31 Abs. 2 Satz 1 RSAV).
Aus der Perspektive der Alzheimer-Demenz sind mit Blick auf die morbiditätsbedingten Zuweisungen zwei Anlagen der Risikostrukturausgleichsverordnung von Bedeutung, deren nähere Betrachtung lohnend ist, weil erkennbar ist, dass damit zwar Geldströme gesteuert werden können, aber eine qualitätsorientierte Mittelzuweisung weit davon entfernt ist.
Man muss in die Details einsteigen, um die Steuerungsmethodik mit ihren jährlichen Anpassungen nachvollziehen zu können.
Die Krankheit als Aufgreifkriterium
am Beispiel der Alzheimer Demenz
Die Anlage 2 der RSAV enthält die diagnosespezifischen Aufgreifkriterien geordnet nach den 80 bestimmten Krankheiten. Der Demenz mit der Krankheitsziffer Nr. 32 werden vier Diagnosegruppen zugeordnet. Auffallend ist, dass nur bei der Diagnosegruppe mit der Ziffer 249 „Degenerative Hirnerkrankungen/Morbus Alzheimer“ Arzneimittelverordnungen als Aufgreifkriterium relevant sind, nicht hingegen bei der nicht näher bezeichneten Demenz (Ziffer 244), auch nicht bei der Demenz mit Delir (Ziffer 245) und ebenso nicht bei Demenz bei anderen Erkrankungen und bei hirnorganischem Psychosyndrom (Ziffer 248). Dies ist deshalb bedeutsam, weil in vielen Fällen entweder eine stationäre Aufnahme oder die verordneten Arzneimittel aus der vertragsärztlichen Versorgung zur Validierung der Diagnose herangezogen werden.
Diese Ausschließlichkeit - nur bei der Diagnose 249 sind verordnete Arzneimittel zur Validierung der Diagnose relevant, nicht hingegen bei allen anderen aufgeführten Demenzformen - ist insofern nachvollziehbar, als nur für die Diagnose Alzheimer international zugelassene und allgemein anerkannte Wirkstoffe zur Verfügung stehen: die Acetylcholinesterase-Hemmer und der NMDA-Rezeptorantagonist Memantine. Dies spiegelt sich auch in den konsentierten Demenz-Leitlinien, wie z. B. in der Diagnose- und Behandlungsleitlinie Demenz - herausgegeben von der DGPPN und der DGN - wider.
Die Anlage 3 der Rechtsverordnung (RSAV) enthält nur Diagnosegruppen, für die Arzneimittelverordnungen als Validierungskriterium genannt sind; und sie führt nur die Wirkstoffgruppen auf, für die Zuweisungen aus dem Fonds an die Krankenkasse berücksichtigungsfähig sind. Überraschend ist, dass für die Diagnosegruppe 249 „Degenerative Hirnerkrankung/Morbus Alzheimer“ insgesamt 24 Wirkstoffgruppen genannt sind. Irritierend ist nicht so sehr, dass bei der Zuordnung der Wirkstoffgruppen auch Begleitdiagnosen offensichtlich berücksichtigt werden wie Depression und verhaltensbedingte Auffälligkeiten wie Aggression, aber es sind auch Präparategruppen aufgeführt - wie z. B. die Nootropika oder die Thrombozyten-Aggregationshemmer -, die eine gewisse Bedeutung bei den vaskulär bedingten Demenzen einmal hatten, aber nicht anerkannt sind speziell bei den neurodegenerativen Demenzen vom Alzheimer-Typ.

Differenzierte Diagnosen versus Arzneimittelmenü
Im Falle der Alzheimerschen Erkrankung wäre die spezifische Arzneimitteltherapie, ausschließlich mit Anti-Alzheimer-Präparaten, ein sinnvolles Validierungsinstrument, weil diese Wirkstoffgruppen ein enges Indikationsspektrum haben - nur differenziert hinsichtlich des Schweregrades der Erkrankung. Darüber hinaus sind Off-Label-Anwendungen nicht bekannt. Es gibt keine Indikationsbereiche, in denen diese Präparate außerhalb ihrer jeweils zugelassenen Indikationen eingesetzt werden könnten. Insofern ist im Falle der Diagnosegruppe 249 dieses Zuweisungskriterium grundsätzlich sinnvoll.
Es ist aber nicht nachvollziehbar, wenn einerseits die Diagnosegruppen nach Aufgreifkriterien tiefgehend differenziert werden - nach der jeweiligen Kausalität der Erkrankung -, dann aber ein undifferenziertes Arzneimittelspektrum gegenübersteht, das weit entfernt vom Standard einer qualitätsgesicherten und anerkannten Therapie ist.
Vergleicht man die Diagnose „Degenerative Hirnerkrankung/Morbus Alzheimer“ mit den berücksichtigungsfähigen Arzneimitteln derselben Diagnosegruppe, so ist folgende Überlegung naheliegend: Verordnet der Vertragsarzt u. a. ein in die Jahre gekommenes Nootropikum - eventuell mit Tagestherapiekosten von 35 Cent -, kodiert die Diagnose 249 und verordnet insgesamt 183 DDD, so bekommt die Krankenkasse im Jahre 2012 einen Zuschlag aus dem Fonds von 183 x 2,945387118577 Euro [HMG 047/Hierachisierte Morbiditätsgruppe], denn die jeweilige Krankenkasse erhält bei der richtig kodierten chronischen Erkrankung dann die Zuweisung aus dem Fonds, wenn von den berücksichtigungsfähigen Arzneimitteln mindestens 183 Tagesdosen verordnet bzw. damit behandelt wurden. Die Bedingung ist also nicht, dass einige wenige spezifische Arzneimittel kontinuierlich verordnet werden, entscheidend für die Zuweisung ist die erwähnte Mindestmenge aus dem jeweiligen Wirkstoffpool.
Letztlich ist die aufgezeigte Entwicklung, die sich möglicherweise auch bei anderen Krankheitsbildern darstellt, unbefriedigend. Der Morbi-RSA ist sicherlich geeignet, grobe Wettbewerbsverzerrungen aus Sicht der Risikostruktur zu beseitigen und angemessen Mittel vom Fonds an die Krankenkassen zu transferieren; die jetzige Struktur ist aber weit davon entfernt, eine qualitativ gesicherte Versorgung einigermaßen zu gewährleisten. Dafür gibt die Situation bei der Alzheimerschen Erkrankung ein gutes Beispiel.

Brüche im System provozieren Fehlsteuerungen
Die Herausnahme der Demenz aus dem erweiterten Risikostrukturausgleich offenbart zwei wesentliche Widersprüche:
• Die Demenz ist eine der häufigsten und schwerwiegendsten chronischen Erkrankungen des höheren Lebensalters, verbunden mit einer extremen Herausforderung für alle im Gesundheitssystem Betroffenen: für die pflegenden Angehörigen, für die vertragsärztliche Versorgung, für die ambulante und stationäre Pflege sowie für die stationäre Krankenhausbehandlung. Im Durchschnitt leben Menschen mit Demenz nach gestellter Diagnose bis zu ihrem Tod etwa 8 bis 10 Jahre.
Dass diese Erkrankung kostenintensiv ist, ist allgemein bekannt. Nur durch die künstliche Trennung von Gesetzlicher Kranken- und Gesetzlicher Pflegeversicherung wird der Eindruck vermittelt, dass die Demenz keine kostenintensive Erkrankung ist.
• Man kann diese Sachverhalte aber auch anders betrachten: Durch die Trennung der beiden Sozialversicherungssysteme hatten die Krankenkassen nie ein besonderes Interesse daran, das zur Verfügung stehende Instrumentarium der medizinischen Versorgung voll auszuschöpfen. Das Thema der selten bewilligten medizinischen bzw. geriatrischen Rehabilitation zieht sich seit einigen Jahren sogar durch die Sozialgesetzgebung, weil der Gesetzgeber initiativ wurde. Die geriatrische Rehabilitation wurde mit dem GKV-WSG zwar „geadelt“, in dem aus einer Ermessensleistung eine Pflichtleistung wurde, aber an der Quote der bewilligten Anträge hat sich seit dem nichts geändert. Implizit können Krankenkassen wesentlich mitsteuern, ob eine Erkrankung kostenintensiv ist oder nicht.

Die Motivation der Krankenkassen oder des MDK durch Bewilligungen bzw. der Gemeinsamen Selbstverwaltung durch Richtlinien, sich bei dementiellen Erkrankungen für eine medizinische Behandlungspflege, für ambulante psychiatrische Pflege oder für medizinische Rehabilitation einzusetzen, wird unter den Gegebenheiten nach dem 1. Januar 2013 noch geringer sein. Besonders ausgeprägt war diese noch nie. Zurecht hatte der Sachverständigenrat in seinem Gutachten bereits 2005 darauf hingewiesen, dass aus Sicht der Krankenkassen ein Interesse besteht, Ausgaben in die Pflegeversicherung zu verschieben, folglich besitzen die Krankenkassen nur dann ein Interesse an präventiven und rehabilitativen Maßnahmen, wenn sich deren Erfolge in der Krankenkasse und nicht als externe Effekte in der Pflegekasse niederschlagen. Wörtlich heißt es in dem Gutachten: „Die Krankenkassen handeln entsprechend ihrem Anreizsystem rational, wenn sie alle Kosten und Leistungen, die in den Grenzbereich zwischen Krankheit und Pflegebedürftigkeit fallen, in die Pflegeversicherung verschieben. Bei der Verlagerung von Leistungen in die Pflegeversicherung verletzen die Kassen allerdings die Interessen der Pflegebedürftigen, denen infolge der starren Budgetierung in der Pflegeversicherung nur noch ein reduziertes Leistungsvolumen verbleibt.“
(Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (2005), Koordination und Qualität im Gesundheitswesen, Deutscher Bundestag, Drucksache 15/5670, S. 225)
Vor diesem Hintergrund ist es problematisch, wenn Korrekturen an den zuweisungsfähigen Erkrankungen oder an dem Arzneimittelkatalog, der für die Validierung der jeweiligen Indikation relevant ist, ausschließlich zwischen dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen und dem Bundesversicherungsamt abgestimmt werden, abgesehen von einem Beirat, der im Benehmen von BVA und Spitzenverband Bund der Krankenkassen berufen wird.
In diesem Punkt sollte die Risikostrukturausgleichsverordnung (RSAV) dringend korrigiert werden. Bei der Abgrenzung schwerwiegender, chronischer und kostenintensiver Erkrankungen und deren Validierung durch Arzneimittelverordnungen sollten auch unabhängige Experten der Medizin und der Pharmazie mitwirken. Es geht schließlich um die klinische bzw. pharmazeutische Rationale, mit der Geldflüsse zwischen dem Gesundheitsfonds und den Krankenkassen begründet werden. <<