In Amerika ist Wahlkampf. Fasziniert verfolgt Deutschland den Auseinandersetzungen der Kandidaten. Dabei spielt auch die Reform des amerikanischen Gesundheitswesens eine große Rolle. Die unterschiedlichen Programme der Kandidaten sind hier jedoch kaum bekannt. Und auch in Deutschland sind die politischen Parteien bereits im Wahlkampf, in dem die Gesundheitsreform ein entscheidendes Thema sein wird. Auf Einladung von „Monitor Versorgungsforschung“ (MVF) führten Dr. Mark B. McClellan, Leiter des Engelberg Centers for Healthcare Reform der Brookings Institution in Washington (vgl. MVF 2/2008) und einer der einflussreichsten amerikanischen Gesundheitsexperten überhaupt, sowie Professor Dr. Reinhard Busse, Leiter des Fachgebietes Management im Gesundheitswesen der Technischen Universität Berlin, ein Expertengespräch über die Weiterentwicklung des amerikanischen und deutschen Gesundheitssystems und den Beitrag der Versorgungsforschung dazu. Die Gesprächsleitung hatte Prof. Dr. Reinhold Roski, der Herausgeber von „Monitor Versorgungsforschung“ (MVF).
>> Herr Busse, die Koalitionsregierung unter Bundeskanzlerin Merkel arbeitet weiter an der Gesundheitsreform. Dabei steht meist die Finanzierung im Vordergrund. Glauben Sie, dass die Reformen die angestrebten Kostenreduktionseffekte haben werden?
Busse: Wie Sie wissen, sind die meisten Punkte, die zurzeit in den Medien diskutiert werden, bereits im Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-WSG) enthalten, das seit April 2007 gültig ist. Allerdings sind wichtige Details der Reform und ihre Implementierung offen gelassen worden; hier muss noch eine Einigung gefunden werden.
Die noch offenen Punkte beziehen sich hauptsächlich auf die Finanzierung des Systems, insbesondere darauf, wie der Gesundheitsfonds gefüllt wird, der die Finanzierung der gesetzlichen Krankenkassen ab 2009 organisiert, wie das Geld auf die Krankenkassen verteilt wird (über den neuen morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich) und was die Kassen tun können – oder tun müssen –, wenn die zugeteilten Mittel nicht ausreichen. Eine dritte, verwandte Frage, die nicht direkt gesetzlich geregelt ist, ist, ob Ärzte in der ambulanten Versorgung mehr Honorar erhalten sollten. Ende August haben wir die streitigen Honorarverhandlungen zwischen Ärzten und Krankenkassen erlebt. Kostenreduktionen sehe ich eher nicht.
Herr McClellan, in Deutschland ist besonders eine Statistik über das amerikanische Gesundheitssystem bekannt: Mehr als 45 Millionen Amerikaner haben keine Krankenversicherung. Im aktuellen Wahlkampf spielt diese Frage eine besonders große Rolle. Welche Chancen sehen Sie, dass unter einer neuen Regierung der Versicherungsschutz wesentlich ausgedehnt wird?
McClellan: Im Programm beider Präsidentschaftskandidaten spielt die Schließung der Lücken im Krankenversicherungsschutz eine große Rolle, da sie u.a. auch die Gesamteffektivität der Gesundheitsversorgung in Amerika einschränken. Die vorgeschlagenen Ansätze enthalten verschiedene Kombinationen von öffentlichen und privaten Strategien – von Steuerkrediten und mehr Kostentransparenz bis zur Schaffung neuer Einkaufsverbünde und direkter Zuschüsse.
Man sieht jedoch immer deutlicher, dass der Versicherungsschutz nur dann erfolgreich ausgedehnt werden kann, wenn diese Ausdehnung mit Reformen zur Senkung der Gesamtkosten und der Erhöhung der Qualität der Gesundheitsversorgung kombiniert wird.
Die USA geben heute bereits etwa 2,2 Billionen Dollar für die Gesundheitsversorgung aus, das sind mehr als 7.000 Dollar pro Person und 16 % des Bruttoinlandsprodukts. Angesichts des aktuellen Budgetdefizits, langfristiger Finanzprognosen für die Programme Medicare und Medicaid sowie einer möglichen wirtschaftlichen Rezession ist es unwahrscheinlich, das neue Finanzquellen gefunden werden, um eine wesentliche Ausweitung des Versicherungsschutzes durch höhere Abgaben zu finanzieren. Folgerichtig muss also ein Plan zur Ausweitung des Versicherungsschutzes mit einer Reform der Versorgung kombiniert werden. Die Kosten der Versorgung stehen darum auf der Agenda beider Präsidentschaftskandidaten ganz oben.
Herr McClellan, die Ausdehnung des Versicherungsschutzes wird kostspielig werden. Und das amerikanische Gesundheitssystem ist bereits das teuerste der Welt. Welche Möglichkeiten gibt es, die Krankenversicherung auszudehnen und gleichzeitig Kostenerhöhungen zu beschränken sowie die Versorgungsqualität zu erhöhen?
McClellan: Hauptansatzpunkt der aktuellen Diskussion in den USA ist das traditionelle Vergütungssystem „pay per service“, das das Gesundheitssystem dominiert. Dieses System wird als Mitursache von unnötiger Überinanspruchnahme teurer Leistungen und unkoordinierten, ineffizienten Behandlungen gesehen. Zurzeit werden neue Modelle entwickelt, um das Bezahlsystem für Leistungserbringer in ein Vergütungssystem auf der Basis von Ergebnissen oder Behandlungsepisoden umzustrukturieren. Im Idealfall führen die neuen Formen der Vergütung dazu, dass Ärzte und andere Leistungserbringer in der Lage sind, die Qualität zu erhöhen und gleichzeitig Kosten zu senken, ohne dass sie dabei einen Netto-Einkommensverlust erleiden oder der Zugang zu Behandlungen negativ beeinflusst wird.
Teilschritte in diese Richtung, die zurzeit in Pilotprojekten eingesetzt werden, lassen Leistungserbringer an den Ersparnissen teilhaben. In der Medicare Physician Group Practice Demonstration erhalten Polikliniken (medical groups) die Möglichkeit, bis zu 80 % der Ersparnisse (über einer Mindestersparnis) zu behalten, wenn Kostentrends unterboten werden und wenn sie Outcomes und Behandlungsprozesse verbessern. In den ersten zwei Jahren haben vier der zehn teilnehmenden Polikliniken Kostentrends um mehr als 2 % unterschritten und gleichzeitig die Qualität deutlich verbessert. Wir versuchen nun, dieses Modell auf eine größere Anzahl von Leistungserbringern auszudehnen.
Ähnliche Wege müssten ebenfalls von privaten Kostenträgern und den Bundesstaaten eingeschlagen werden. Wir sollten dazu Reformen auf Bundesebene mit bestehenden Aktivitäten auf der Ebene der Einzelstaaten verbinden, die sich sowohl auf öffentliche Finanzierung als auch stärkeren Wettbewerb stützen. Beginnend mit Massachusetts haben verschiedene Staaten angefangen, Einkaufsverbünde und Versicherungspools zu bilden, in denen im Wettbewerb stehende private Krankenversicherungen staatlich überwacht werden. Solche Initiativen könnten bezahlbare Versicherungsangebote für diejenigen anbieten, die keinen arbeitgeberbasierten Versicherungszugang haben, beziehungsweise für kleine Arbeitgeber, denen die Kosten zu hoch sind. Allerdings betone ich, dass diese Bemühungen mit komplementären Reformen verbunden werden müssen, z.B. Änderungen im Vergütungssystem der Leistungserbringer, um die tatsächliche Versorgung zu verbessern.
Herr McClellan, können Sie kurz die grundlegenden Positionen der beiden Präsidentschaftskandidaten für die Reform des Gesundheitssystems erläutern? Wo unterscheiden sie sich, wo gibt es ähnliche Sichtweisen?
McClellan: Beide Präsidentschaftskandidaten sind sich einig, dass das amerikanische Gesundheitssystem eine grundsätzliche Reform braucht. Allerdings würden die Vorstellungen von John McCain und Barack Obama unser Gesundheitssystem in unterschiedliche Richtungen entwickeln.
Senator McCains Pläne gehen weg vom gegenwärtigen arbeitgeberbasierten Krankenversicherungssystem und legen die Betonung auf Auswahlentscheidungen der einzelnen Verbraucher in einem individuellen Markt. Senator Obama will Möglichkeiten des Versicherungsschutzes durch öffentliche Zuschüsse erweitern und öffentliche Krankenversicherungen (health plans) unterstützen. Genauer gesagt, ist es das Ziel von Barack Obama, eine allgemeine Krankenversicherung für alle Amerikaner einzuführen, allerdings ohne allgemeine Versicherungspflicht. Er schlägt vor, dass alle Kinder eine Krankenversicherung haben müssen, und dass Arbeitgeber zu den Kosten der Krankenversicherung ihrer Angestellten beitragen müssen. Für Einzelpersonen und Familien ohne Versicherungsschutz würde die Bundesregierung finanzielle Hilfen anbieten, um sich bei privaten oder neu geplanten gesetzlichen Krankenversicherungen zu versichern.
Um die dadurch neu entstehenden Kosten zu decken, will Senator Obama die Effizienz der Versorgung erhöhen und die Gesamtkosten senken. Mittel dazu sind: verstärkte öffentliche Berichterstattung über die Ergebnisse der Leistungsanbieter, bessere Koordination von Behandlungen, Maßnahmen zum Ausgleich von Ungleichheiten, breiterer Einsatz von Informationstechnik und die Steigerung von Prävention und der Behandlung chronischer Krankheiten.
Die Pläne von Senator McCain konzentrieren sich zunächst auf eine allgemeine Kostendämpfung, um Versicherungsschutz bezahlbarer zu machen. Sein Plan eliminiert die gegenwärtige unbegrenzte Steuerabzugsfähigkeit für arbeitgeberbasierte Versicherungsprämien und ersetzt sie durch eine neue Obergrenze zusammen mit abzugsfähigen Steuerkrediten. Die gegenwärtig nach oben offene Steuerabzugsfähigkeit beläuft sich jährlich auf beinahe 250 Milliarden Dollar, und wird von vielen als regressive Steuerpolitik kritisiert (vor allem wohlhabende Familien mit besserem Versicherungsschutz in höheren Steuerklassen profitieren davon). Gleichzeitig unterstützt eine solche Steuerpolitik weniger effizienten Versicherungsschutz und untergräbt das Interesse von Verbrauchern, die Kosten der Versicherung möglichst niedrig zu halten. Da dieser Ansatz Verbraucher verstärkt auf den individuellen Versicherungsmarkt treibt, schlägt McCain Reformschritte vor, insbesondere für Patienten mit chronischen Krankheiten günstigen Versicherungsschutz zu schaffen. Seine Pläne schließen auch Vorschläge ein, die Versicherung beim Wechsel des Arbeitsplatzes und über Bundesstaatsgrenzen hinweg mitnehmen zu können, und würden einen garantierten Zugang (Guaranteed Access Plan – GAP) zu Krankenversicherungen auch für die Personen aufbauen, die sich bisher nicht versichern konnten.
Um die Gesamtkosten zu senken, verlässt sich McCain stark auf einige derselben Lösungen wie sein Kontrahent, nämlich öffentliche Qualitätsberichterstattung, Einsatz von Informationstechnologie und das bessere Management chronischer Krankheiten. Er verspricht sich eine Senkung der Gesundheitskosten vor allem durch die Reduktion von Ineffizienzen, die Stärkung des Wettbewerbs im Krankenversicherungsmarkt, die Betonung von Gesundheitsversorgungsoptionen, die sich an den einzelnen Verbraucher richten, und durch eine Reform der ärztlichen Haftpflicht. Dies unterstreicht meiner Meinung nach die Tatsache, dass die Notwendigkeit der Reform der Gesundheitsversorgung inzwischen von beiden politischen Parteien als unaufschiebbar angesehen wird.
Herr Busse, ein wesentliches Ziel der deutschen Gesundheitsreform war es, die Gesundheitskosten sowohl für Arbeitgeber als auch für Arbeitnehmer zu senken. Allerdings sind auch andere Systemänderungen (z.B. Disease Management, sektorübergreifende integrierte Versorgungssysteme) eingeführt worden oder sind geplant, die die Qualität der Versorgung erhöhen und gleichzeitig die Kosten senken sollen. Welche dieser Reformkomponenten scheinen effektiver zu sein und warum?
Natürlich versuchen Gesundheitspolitiker die Zielsetzungen der Kostendämpfung (vor allem von den späten 70er Jahren bis etwa 2000) und Qualitäts-/Effektivitäts-/Effizienzsteigerung, die seit den späten 90er Jahren oben auf der Agenda stehen, miteinander in Einklang zu bringen.
Meiner Meinung nach werden die Reformen zur Qualitätssteigerung nicht zu Kostenreduktionen führen. Ein paar Beispiele: 1. Erfolgreiche Nutzenbewertung von Arzneimitteln und Behandlungsmethoden, die wir vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) in Zusammenarbeit mit dem Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) erwarten, werden bei manchen Behandlungen und Arzneimitteln dafür sorgen, dass sie nicht mehr erstattet werden. Aber: Das wird auch dazu führen, dass andere effektivere Behandlungsmethoden in stärkerem Ausmaß genutzt werden. 2. Effektive Disease Management Programme (DMP) führen zu besserer Behandlung für Patienten, die sonst weniger effektiv behandelt würden. Im Ergebnis werden Arzneimittelkosten und Ärztehonorare steigen, was allerdings niedrigere Krankenhauskosten möglicherweise ausgleichen können.
Ob DMPs in Deutschland allerdings erfolgreich sind, können wir bislang kaum abschätzen, da ihre Evaluation lediglich „post intervention“ ohne Kontrollgruppe erfolgt. Die ersten Ergebnisse sind zwar vielversprechend, allerdings ist das Ausmaß des Effektes der Selektion schlecht abzuschätzen. Es gibt erste Publikationen mit methodologisch schwachen, aber vielversprechenden Ergebnissen zu Gunsten von DMPs. Entsprechende publizierte Daten zur integrierten Versorgung gibt es noch nicht. Überhaupt scheint mir das ein Hauptunterschied zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten zu sein: Wir haben einfach zu wenige Studien zur Versorgungsforschung.
Herr McClellan, Sie fordern eine Verbesserung der Leistungstransparenz des Gesundheitssystems, um besser in der Lage zu sein, Vergütungssysteme zu reformieren, die Qualitätsverbesserung der Leistungserbringer zu fördern und Versicherten und Patienten bei ihren Gesundheitsentscheidungen zu helfen. Was geschieht in den Vereinigten Staaten, um die Transparenz zu verbessern und wie effektiv sind diese Bemühungen?
McClellan: Leistungstransparenz ist entscheidend, um die Betonung von den Kosten auf den Nutzen des Gesundheitssystems zu verlagern. Transparenz ist die Grundlage, um unser Vergütungssystem von einem System, das „Menge“ und „Intensität“ der Behandlung belohnt, auf ein Vergütungssystem umzustellen, das Qualität und Nutzen honoriert. Darum müssen wir sowohl die Outputs und die Qualität messen als auch die Kosten, mit denen diese erzielt werden.
Wir haben in den letzten Jahren gute Fortschritte in Richtung besserer Transparenz gemacht, da Krankenkassen, Krankenhäuser, Leistungserbringer und andere Organisationen immer stärker von der Leistungsmessung erfasst werden. Seit mehr als 10 Jahren werden Krankenversicherungen nach einer Reihe von Kriterien gemessen – klinische Effektivität, Zugang und Erfahrungen/Zufriedenheit der Mitglieder und Patienten. Nach diesen Informationen wählen Arbeitgeber und Verbraucher die Krankenkassen aus. Die vorliegenden Daten zeigen obendrein, dass die Leistungen von Krankenkassen in all diesen Bereichen seit der Einführung von Transparenzmessungen signifikant gestiegen sind.
Krankenhausleistungen werden heute ebenfalls durch die amerikanische Bundesregierung, die Einzelstaaten und durch die Organisationen gemessen, die die Krankenhäuser akkreditieren. So werden zurzeit jährlich regelmäßig Leistungsresultate zu mehr als 30 Leistungsindikatoren pro Krankenhaus veröffentlicht (z.B. auf www.hospitalcompare.gov); sehr viel mehr Leistungsindikatoren und Benchmarks werden an Krankenhäuser innerhalb von vertraulichen Benchmarkinginitiativen weitergegeben. Auch hier konnten wir deutliche Leistungsverbesserungen verzeichnen, die durch Transparenz offengelegt werden konnten.
Wir beginnen ebenfalls damit, mit neuen Methoden die Qualität langfristiger Versorgungsdienstleistungen (z.B. Pflege, Altersheime) zu messen. Gleichzeitig machen wir bei der Messung der Leistungen von niedergelassenen Ärzten durch neue Methoden der Datensammlung und -aggregation entscheidende Fortschritte - sowohl im privaten als auch öffentlichen Sektor.
Um allerdings Versicherte und Patienten dazu zu bringen, ihre Entscheidungen nach diesen Leistungsindikatoren auszurichten, müssen wir dafür sorgen, dass die Informationen zuverlässig und verständlich sind und dass sie die Aspekte erfassen, die die Verbraucher am meisten interessieren. Wir haben bereits eine große Anzahl von verlässlichen Maßgrößen für Prozesse und Ergebnisse definiert. Aber wir müssen weiter an den Dingen arbeiten, die Verbrauchern besonders am Herzen liegen: Personenzentrierte Messungen, die Outcomes, Zufriedenheit und Kosten widerspiegeln, nicht nur bestimmte Behandlungsprozesse.
Herr McClellan, Sie arbeiten am Engelberg Center daran, zahlreiche regionale Initiativen zu koordinieren, die sich in ihren jeweiligen Regionen für größere Transparenz der Leistungsanbieter engagieren. Warum ist das wichtig?
Die Einbeziehung öffentlich-privater Partnerschaften (public-private partnerships) erhöht die Glaubwürdigkeit und Akzeptanz der Leistungsmessung und -berichterstattung enorm. Überall im Land arbeiten regionale Initiativen, die sich aus Patienten, Arbeitgebern, Ärzten und Krankenkassen zusammensetzen, um größere Leistungsanbieter-Transparenz in ihren jeweiligen Regionen zu erreichen. Das ist natürlich sehr viel besser, als Entscheidungen über Umfang und Art der Leistungsmessung nur einem einzelnen Interessenvertreter zu überlassen. Das Engelberg Center arbeitet, in Zusammenarbeit mit anderen Partnern, zurzeit daran, Prozesse und Methoden zu entwickeln, um diese regionalen Initiativen durch Einführung verbindlicher und effizienter Messmethoden und Heraushebung von „best practices“ in Bezug auf Qualitätsberichte und Vergütungsreformen auf Bundesebene besser zu koordinieren.
Herr Busse, die Verbesserung der Leistungstransparenz ist auch ein Ziel der Gesundheitsreform in Deutschland. Welche Rolle spielt die Transparenz bei uns und wie kritisch ist sie für die Reform des deutschen Gesundheitssystems?
Busse: Dieser Aspekt wurde in der letzten Gesundheitsreform öffentlich nicht richtig wahrgenommen. Qualitätsverbesserung steht oben auf der politischen Agenda, um sowohl die Verstärkung des Wettbewerbs zwischen den Leistungsanbietern als auch eine Stärkung der Patientensouveränität zu erreichen. Der Ansatz der Bundesgeschäftsstelle Qualitätssicherung (BQS) zur Überwachung der gesetzlichen Qualitätssicherung in Krankenhäusern soll dabei der Stärkung des Wettbewerbs dienen, da die Krankenhäuser ihre Ergebnisse in Vergleich zu denen anderer Krankenhäuser setzen können. Diese Transparenz, auch wenn die Namen der anderen Krankenhäuser im Vergleich nicht genannt sind, hat die durchschnittlichen Ergebnisse zum Teil drastisch verbessert.
Der Gesetzgeber hat auch an die Patienten gedacht und eine Qualitätsberichterstattung der Krankenhäuser eingeführt. In der ersten Fassung dieser Qualitätsberichte enthielten sie allerdings viel zu wenige Informationen. Große Tageszeitungen wie der „Tagesspiegel“ in Berlin oder das Nachrichtenmagazin „Focus“ haben sich dies für große eigene Reports zunutze gemacht. Sie hatten damit großen Erfolg. Die Öffentlichkeit ist also durchaus interessiert, auch wenn nicht sicher ist, wie weit Patienten diese Information nutzen, wenn sie wirklich in die Situation kommen, ein Krankenhaus aufsuchen zu müssen. Inzwischen hat der Gemeinsame Bundesausschuss fast 30 BQS-Indikatoren festgelegt, die in den jährlichen Qualitätsberichten der Krankenhäuser enthalten sein müssen. Dieser Trend wird sicherlich noch sehr viel weiter gehen.
Herr Busse, Sie sind Experte für Gesundheitsreformen im internationalen Kontext. Was für Ähnlichkeiten und Unterschiede sehen Sie zwischen den Ideen der Gesundheitsreformen in Amerika und in Deutschland? Wie sieht es in anderen europäischen Ländern aus?
Busse: Das Problem des fehlenden Krankenversicherungsschutzes für einen größeren Teil der Bevölkerung und die Debatte zur Ausweitung der Krankenversicherung ist ein besonderes amerikanisches Phänomen. Dieses Problem beschäftigt die anderen europäischen Länder und Deutschland kaum. Die anderen Probleme der Agenda der Gesundheitsreform, die Verbesserung der Versorgung besonders für chronisch Kranke, die Messung und Belohnung von Qualität, der Einsatz von Informationstechnologie usw. sind sehr ähnlich. Die Ausgangspunkte sind jedoch verschieden. In Deutschland hatten wir ein relativ uniformes System mit Kollektivverträgen. Nur schrittweise erhalten Krankenversicherungen und Leistungsanbieter die Freiheit, mit verschiedenen Vertragsformen zu experimentieren – allerdings in sorgsame Regularien eingebettet, etwa durch den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich.
In den Vereinigten Staaten sind selektive Verträge und integrierte Versorgungsmodelle die Norm. Dort geht die Debatte in die Richtung, wie es möglich ist, auf der einen Seite Freiheit und Flexibilität zu erhalten, und auf der anderen Seite gleichzeitig innovative Regularien zu schaffen, die größere Gleichheit zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen erzeugen.
Herr Busse, Herr McClellan, Sie beide setzen sich für mehr evidenzbasierte Entscheidungen in der Gesundheitspolitik ein. Können Sie Beispiele nennen, wo Versorgungsforschung entscheidende Beiträge zur Gesundheitsreform geleistet hat, in Deutschland und in den Vereinigten Staaten?
Busse: Zunächst müssen wir einsehen, dass Versorgungsforschung, Nutzenbewertung von Behandlungen usw. nur ein Input in den Prozess der Gesundheitspolitik sind. Als Versorgungsforscher sind wir davon manchmal enttäuscht. Wenn wir jedoch den Entscheidungsprozess im Gemeinsamen Bundesausschuss heute damit vergleichen, wie solche Entscheidungen vor 10 Jahren getroffen wurden, so gibt es einen deutlichen Fortschritt.
Neue Arzneimittel werden immer strenger geprüft, wie das Beispiel der Insulinanaloga zeigt. Wir haben viele Fortschritte in Richtung Evidenzbasierung für Entscheidungen der Gesundheitspolitik gemacht; es liegt allerdings noch ein langer Weg vor uns. Die Prüfung für medizinische Geräte ist z.B. noch nicht so streng wie bei Arzneimitteln. In Krankenhäusern werden alle Leistungen vergütet, es sei denn, sie sind explizit ausgeschlossen („Verbotsvorbehalt“), während Behandlungen im ambulanten Sektor positiv evaluiert sein müssen, bevor sie vergütet werden können („Genehmigungsvorbehalt“). Das ist ein deutliches Ungleichgewicht.
McClellan: Versorgungsforschung, Datensammlung und Evaluierung liefern seit vielen Jahren wesentliche Beiträge zur Entscheidungsfindung in der amerikanischen Gesundheitspolitik. Zum Beispiel hat die Bundesbehörde, die Gesundheitsleistungen für Senioren und finanziell Benachteiligte bezahlt (Centers for Medicare & Medicaid Services) eine Abteilung, die kritische Versorgungsforschungsprobleme erforscht, bevor Entscheidungen über Änderungen der Vergütungs- und Erstattungsrichtlinien erfolgen. Ähnlich hat die Agency for Healthcare Research and Quality (AHRQ) viele Versorgungsforschungsvorhaben finanziert, etwa die Entwicklung von Methoden zur Leistungsmessung oder Techniken, um die Patientensicherheit zu verbessern, die jetzt bundesweit verwendet werden.
Andere wichtige Forschungsvorhaben beschäftigten sich z.B. mit Qualitätsdefiziten und regionalen Unterschieden der Gesundheitsversorgung. Diese Forschungsergebnisse untermauern das Verlangen vieler Gesundheitspolitiker, z.B. Defizite in der Gesundheitsversorgung in Anbetracht des aktuellen medizinischen Wissensstands zu beseitigen. Das geschieht auf nationaler, Einzelstaats- und Marktebene. Forscher in den USA und anderen Ländern haben viele signifikante, vom aktuellen medizinischen Stand abweichende Variationen der Gesundheitsversorgung gefunden, sowohl in größeren als auch in kleineren geographischen Regionen. Zum Beispiel kann die Wahrscheinlichkeit für eine Frau, mit einer Hysterektomie behandelt zu werden, in einem County (Landkreis) doppelt so groß sein wie im benachbarten. Solche Unterschiede sollten sicherlich beseitigt werden. Diese Unterschiede werden nun schon seit fast drei Jahrzehnten nachgewiesen und werden trotzdem immer noch größer. Deshalb brauchen wir bessere Messgrößen für Qualität und Kosten. Und wir brauchen neue Wege der Organisation von Versorgung.
„Politik“ wird immer eine bedeutende Rolle bei Entscheidungen über die Gesundheitsversorgung spielen. Die Bereitschaft der Gesetzgeber und anderer Entscheidungsträger, ihre Entscheidungen zur Gesundheitsreform auf Daten und solide Evidenz zu gründen, hat jedoch in den letzten 20 Jahren deutlich zugenommen. Viele Politiker beider Parteien in den Vereinigten Staaten sehen die Notwendigkeit einer Gesundheitssystemreform und setzen sich für eine bessere Datenlage ein, um die Auswirkungen ihrer Entscheidungen besser abschätzen zu können.
Herr McClellan, Herr Busse, wir danken Ihnen für das Gespräch. <<