>> „Schein und Wirklichkeit“. Dies deutet bereits an, dass Wollen und Wirklichkeit der Patientenorientierung und Patientenbeteiligung möglicherweise nicht kongruent sind. Das zentrale Anliegen des Kongresses ist es, die Verbesserung der Versorgungsforschung durch Fokussierung auf die Verbesserung der Qualität und Implementierung von Qualitätssicherungsinstrumenten in allen relevanten Bereichen zu erreichen. Dabei soll, das geht aus dem Programm und aus den Abstracts hervor, die Orientierung am Patienten eine besondere Rolle spielen.
„Der Patient steht im Mittelpunkt, und dort steht er allen im Weg.“
Sie kennen alle diesen Spruch, der zwar – wie ein häufig erzählter Witz – einen langen Bart hat, aber im Grunde nichts von seiner Aussagekraft verloren hat. Zwar wird der Patient/die Patientin immer mitgedacht, aber er/sie verliert doch häufig im Zuge systemischer Zwänge, organisationaler Rationalitäten und ökonomischer Denkmuster an Bedeutung und stört deshalb, er steht im Weg.
Im Kongressprogramm werden die einzelnen Vorträge richtigerweise als „Sichtweisen“ von Institutionen und Organisationen eingestuft, was ja der, der Systemtheorie zugrunde liegenden Philosophie des Konstruktivismus entspricht: Es gibt nicht die eine Wahrheit, sondern Wahrheit ist relativ, sie hängt ab vom jeweiligen Betrachter, von dessen kulturellem und organisationalem Horizont und weiteren Umständen. Die mit jeder Organisation verbundene eigene Rationalität macht die Wahrheitsfindung besonders schwierig und führt bisweilen dazu, dass der Vertreter einer Organisation durchaus irrational in dem Sinne handeln kann, dass er zwar die Interessen (Sichtweisen) seiner Organisation vertritt, aber u.U. damit gegen seine individuellen Bedürfnisse als Patient agiert, der er ja auch ist.
Das als Einstieg zum m.E. schwierigen Thema Patientenorientierung.
Wann immer ich an Gremiensitzungen oder Veranstaltungen zum Thema Gesundheit und Gesundheitsversorgung teilgenommen habe, wurde das Thema Patientenorientierung groß geschrieben, ohne dass man sich vorher über die Parameter verständigt hatte.
Was heißt Patienten-Orientierung?
Im Grunde ist zunächst die Orientierung aller Teil- und Subsysteme des Gesundheitssystems an den tatsächlichen Bedarfen von Patienten gemeint. Doch wie sollen diese identifiziert werden? Und wie sollen die zur Verfügung stehenden Mittel verteilt werden? Wer entscheidet darüber, was eine gerechte Verteilung ist? Jahrelang galt die so genannte Vertragstheorie, deren exponierter Vertreter der amerikanische Philosoph John Rawls war, als wichtige Entscheidungsgrundlage. Gemäß der Vertragstheorie entscheiden relevante gesellschaftliche Gruppen gemeinsam, was denn eine gerechte Verteilung sei. Es war die amerikanische Soziologin und Philosophin Martha Nussbaum, die unlängst zu Recht kritisierte, dass wesentliche gesellschaftliche Gruppen, wie z.B. Frauen und Menschen mit Behinderungen und chronischen Krankheiten, keine Mitspracherechte bei diesen Entscheidungen hatten, weil andere für sie gedacht und entschieden haben. Das hatte logischerweise zur Folge,
• dass z.B. bestimmte frauenspezifische Symptome bei Erkrankungen häufig nicht erkannt wurden, weil die Medizin jahrelang eine Domäne der Männer war;
• dass Orthopäden die Gliedmaßen von contergangeschädigten Kindern verlängerten, ohne sie zu fragen, ob sie nicht lieber so leben wollten, wie sie geboren worden waren.
Das hat sich inzwischen verändert, nicht zuletzt deshalb, weil der Gedanke der Inklusion, die Idee einer Gesellschaft von allen für alle, viele gesundheitspolitische Diskussionen – fast wie ein Virus – infiziert hat.
Inzwischen ist in allen gesellschaftlichen Teilbereichen (nicht überall gleich intensiv) angekommen, dass, wie der kürzlich verstorbene ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker, formulierte, es normal ist, verschieden zu sein. Diese – eigentlich triviale – Erkenntnis der Vielfalt zieht sich wie ein roter Faden durch Diskussionen aller gesellschaftlichen Teilbereiche, natürlich auch des Teilbereichs Gesundheitsversorgung.
Das macht die Geschichte nicht einfacher, im Gegenteil: Die Anerkennung der Vielfalt bedeutet für die Patientenorientierung in der Gesundheitsversorgung eine große Herausforderung, ist damit doch ein noch differenzierterer Blick auf die vielen unterschiedlichen Bedürfnisse verschiedenener Bevölkerungsgruppen verbunden.
Deshalb hat der Grundsatz, nicht für den Patienten, sondern mit dem Patienten denken, zukünftig eine noch gößere Bedeutung. In diesem Sinne leistet das Denken und Entscheiden mit dem Patienten auch einen Beitrag zur Qualitätssicherung, nicht (nur) als ökonomische Kategorie, sondern unter dem Aspekt des Patientennutzens. Dass nebenbei noch ein ökonomischer Nutzen gegeben ist, weil langwierige und überflüssige Behandlungen wegfallen, zielgenauere Versorgung möglich ist, darf auch den Gesundheitsökonomen erfreuen.
Was heißt Patienten-Beteiligung?
Die direkte Beteiligung von gesellschaftlichen Gruppen – hier: Beteiligung von Patienten – an Gestaltungsprozessen ist ein z.Z. viel beobachtetes Phänomen in demokratischen Gesellschaften, in denen mündige Bürger mehr wollen, als alle vier oder fünf Jahre ihre Stimme bei Parlamentswahlen abzugeben.
Auch Patienten und deren Organisationen suchen zunehmend nach Wegen, auf direktem Wege das System der Gesundheitsversorgung mit zu gestalten. Der individuelle Patient will als mündiger Bürger anerkannt werden und geht davon aus, dass man ihm eine eigenverantwortliche Haltung bei der Bewältigung gesundheits- bzw. krankheitsbezogener Probleme zutraut. Das betrifft sowohl die individuelle Ebene im Arzt-Patienten-Verhältnis als auch die kollektive Ebene, auf der Vertreter von Patientenorganisationen die Interessen von Patienten vertreten.
Die Beteiligung, besser: die Partizipation relevanter gesellschaftlicher Gruppen bei gesellschaftlichen Entscheidungsprozesse wird gerne als Perspektivenwechsel apostrophiert. Gemeint ist hier der Wechsel von der mit Entmündigung verbundenen fürsorglichen aber fremdbestimmten Entscheidung hin zur selbestimmten oder partizipativen Entscheidung. Ob die gegenwärtige Praxis der Patientenbeteiligung tatsächlich das Etikett „Beteiligung“ bzw. „Partizipation“ verdient, lässt sich am Stufenmodell der Partizipation nach Arnstein gut verifizieren.
Untere Stufe
Auf der untersten Stufe des Modells geht es nur um Rituale und um Instrumentalisierung. D.h., dass Interessengruppen z.B. lediglich zu sich wiederholenden, feierlichen Anlässen eingeladen werden, ohne dass auch nur im geringsten von Partizipation gesprochen werden kann. Oder sie werden zu bestimmten Ereignissen und Anlässen eingeladen, die für den Einladenden von Wichtigkeit sind. Hier handelt es sich um Instrumentalisierung.
Mittlere Stufe
Die mittlere Stufe unterscheidet sich von der unteren vor allem dadurch, dass der Interessengruppe immerhin signalisiert wird, man brauche ihre Meinung und ihren Rat, ohne dass allerdings die Garantie gegeben wird, dass die erhaltenen Informationen auch tatsächlich in eine Entscheidung einfließen. Arnstein charakterisiert diese Stufe als eine Vorstufe zur Partizipation.
Dritte Stufe
Erst auf der dritten Stufe kann von Partizipation gesprochen werden, wenn die Möglichkeit der tatsächlichen Mitbestimmung zugelassen, ein Entscheidungsbereich diskutiert oder ein Vetorecht zugestanden wird.
Projiziert man das Arnsteinsche Modell z.B. auf die Patientenbeteiligung gemäß 140 f SGB V, so bleibt nur der Schluss: Wir befinden uns auf den Vorstufen der tatsächlichen Partizipation.
Maßnahmen, Instrumente der
Patientenorientierung, und -beteiligung
§ 65 b SGB V
In § 65 b SGB V ist die Patientenberatung geregelt. Sie stellt eine wichtige Voraussetzung im Zuge des Empowerments von Patienten dar. Patienten, die auf Augenhöhe – soweit das möglich ist – mit einem Arzt oder einer Ärztin kommunizieren wollen, müssen sich informieren und aufklären lassen. Dafür sind mit dem § 65 b SGB V Beratungs- und Anlaufstellen für Patientinnen und Patienten geschaffen worden, bei denen man sich unabhängig informieren und beraten lassen kann. Leider sind die Selbsthilfeorganisationen nicht Teil der mittlerweile institutionalisierten Unabhängigen Patientenberatung (UPD), obwohl sie die Patientenorganisationen mit der größten Mitgliederbasis sind und über großes Wissen, chronische Krankheiten und Behinderung betreffend, verfügen.
§ 140 f SGB V
Die Patienbeteiligung wird in § 140 f SGB V geregelt. Vertreter von Patientenorganisationen sind auf der Bundesebene im G-BA, vertreten:
• auf der Landesebene,
• in den Landesausschüssen,
• den Zulassungs- und Berufungsausschüssen,
• im Lenkungsausschuss Qualitätssicherung und
• im Gemeinsamen Landesgremium 90 a SGB V.
Eine Beteiligung im Sinne des Stufenmodells der Partizipation nach Arnstein ist es nicht. Patientenvertreter haben in den genannten Gremien nur ein Mitberatungsrecht. In den Gremien auf der Landesebene ist die Meinung der Patientenvertreter noch weniger gefragt als auf der Bundesebene.
Patientenbeauftragte/r
Das Amt der/des Patientenbeauftragten des Bundes wurde 2004 geschaffen. Es stellt eine klare Verstärkung der Patienten dar. Insbesondere im Bereich der Informationsvermittlung und als Anlaufstelle für Beschwerden, die an anderer Stelle kein Gehör finden, ist das Amt des Patientenbeauftragten unverzichtbar geworden.
Patientenrechtegesetz
Das Anfang 2014 in Kraft getretene Patientenrechtegesetz stellt ebenfalls eine Stärkung der Seite der Patienten dar, obwohl die von den Patientenorganisationen gewünschte Beweislastumkehr im Falle von Behandlungsfehlern sich nicht so hat durchsetzen lassen, wie es deren Vorstellung war. Nur bei nachweislich „groben Fehlern“ greift die Beweislastumkehr. Aber hinsichtlich der Aufklärungs- und Dokumentationspflicht und der Festschreibung der Rechte gegenüber den Krankenkassen ist einiges erreicht worden.
Insgesamt bündelt das Patientenrechtegesetz aber „nur“ die größtenteils schon in anderen Gesetzen vorhandenen Patientenrechte.
Ebenen der Beteiligung
Bei den Ebenen der Beteiligung unterscheidet man:
• die Makroebene (Politik/kollektive Patienteninteressen),
• die Mesoebene (Institutionen und Organisationen des Gesund-heitswesen/s.o.) und
• die Mikroebene (Verhältnis Arzt-Patient/individuelle Patienteninteressen).
Sieht man sich die verschiedenen Ebenen der Patientenbeteiligungsmöglichkeiten an, so fällt auf, dass auf der Ebene der kollektiven Interessenvertretung in den letzten Jahren viel erreicht worden ist. Dennoch haben Patientenvertreter nur ein Mitberatungsrecht, werden aber trotzdem in der Öffentlichkeit für Entscheidungen im G-BA „verhaftet“ und verantwortlich gemacht.
Auf der individuellen Ebene, im Arzt-Patientenverhältnis, werden die ökonomischen Auswirkungen und Zwänge deutlich spür- und sichtbar. Es beginnt mit der Taktung der Patienten und Patientinnen bei Arztbesuchen, setzt sich in der Debatte über Rabattverträge fort und gipfelt in einem zunehmenden Vertrauensverlust im Verhältnis Arzt/ Patient.
Die im Zuge der Qualitätssicherung zunehmende Dokumentationspflicht und die damit verbundene Bürokratisierung sind Zeitkiller. Die damit einhergehende Zeitbindung hat zur Folge, dass Zeit für das Arzt-Patientengespräch fehlt.
Insgesamt ist die Gesundheitsversorgung komplexer und damit für viele Patienten weniger durchschaubar geworden. Dazu haben in nicht unerheblichem Maße immer wieder neue Steuerungselemente der verschiedenen Gesundheitsreformen beigetragen, die alle zumindest den einen Effekt hatten, nämlich das Verhältnis Arzt-Patient zu stören und das Vertrauen in das Gesundheitsversorgungssystem zu erschüttern.
Was muss sich ändern?
Die kollektive Ebene
Analog zum Stufenmodell von Arnstein fordern Patientenorganisationen seit längerem die Ausdehnung der partizipativen Strukturen in allen gesundheitsrelevanten Bereichen.
Führt man sich die materielle Basis der Patientenvertretungen (Infrastruktur, Schulungen, Vermittlung von gesundheits- und krankheitsrelevantem Wissen) vor Augen, so erscheint eine Verbesserung dieser Basis dringend notwendig, wenn weiterhin vom Patienten als Partner die Rede sein soll.
Die individuelle Ebene
Auf der individuellen Ebene tun im Hinblick auf den Patienten Aufklärung und Empowerment-Schulungen Not, damit er seine Bedürfnisse und Wünsche auch tatsächlich artikulieren und vertreten kann. Ebenso wünschenswert ist die Verbesserung der Gesprächskultur Arzt-Patient, weil diese m.E. eine Schlüsselfunktion für eine adäquate Behandlung hat.
Systembezogene Veränderungen scheinen angebracht, vor allem im Hinblick darauf, dass viele Patienten immer wieder über zu geringe Zeit für das Gespräch mit dem Arzt/der Ärztin klagen. Ärztlicherseits wurde häufig kritisiert, dass das Gespräch mit dem Patienten sich „lohnen“ müsse, was im Rahmen der gegenwärtigen Vergütungspraxis nur begrenzt möglich sei.
Patientenorganisationen betonen die Bedeutung des Arzt-Patientengesprächs. Behandlungsfindung- und Entscheidung finden im Gespräch statt, Tranzparenz und Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen sind aber nur dann gegeben, wenn ausreichend Zeit für ein Gespräch zur Verfügung steht.
Die stationäre Ebene
Bei stationären Aufenthalten kommen auf Patienten große Heraus-forderungen zu. Insbesondere ältere, behinderte und chronisch kranke multimorbide Menschen werden durch die Pauschalvergütung mit einem System konfrontiert, das ihren Versorgungsbedarfen nicht gerecht wird.
Qualitätssicherung durch Patientenorientierung
Eine Qualitätsdefinition, die für sich beansprucht, patientenorientiert zu sein,
• geht von einer begrenzten Messbarkeit von Qualität aus,
• bezieht alle Strukturen der Versorgung ein,
• bezieht sich auf den individuellen Patienten wie auf die Bevölkerung und ist zielorientiert,
• anerkennt die Tatsache, dass Behandlungsergebnisse nicht sicher sind, sondern mit Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind,
• legt einen Abwägungsprozess von Nutzenwahrscheinlichkeit und Schadensrisiko nahe,
• betont die Notwendigkeit, die Präferenz des Patienten in die Behandlung einzubeziehen und
• betont die Orientierung am aktuellen Wissensstand im Sinne der evidenzbasierten Medizin.
Welche Parameter sollen gelten?
Ein wesentlicher Garant für Qualitätssicherung und Patientenorientierung ist der informierte Patient. D.h., alle Investitionen, die die Verbesserung der Informiertheit des Patienten zum Ziel haben, lohnen sich und sollten unterstützt werden.
Maßstab der Patientenorientierung müssen der Patientennutzen und nicht die Vergütung des Arztes/der Ärztin sein, wie auch Prof. Schrappe in seinem Vortrag deutlich gemacht hat.
Systembedingte Vorgaben als Qualitätsverhinderer
Auf der Ebene des Arzt-Patientenverhältnisses kann sich vor dem Hintergrund des derzeitigen Vergütungssystems keine Beziehungsqualität entwickeln.
Die Behandlung und Versorgung im Krankenhaus richtet sich zunehmend nach neuen Kategorien: Es wird nicht mehr allein der Bedarf des Patienten reflektiert, sondern der Bedarf wird immer im Abgleich mit dem Ressoourcenverbrauch und der Rentabilität der Diagnose gebracht. Das läuft auf eine Unterminierung ärztlicher Entscheidungskriterien durch betriebswirtschaftliches Denken hinaus. <<