Multi-disziplinärer Blick auf soziale gegenseitige Selbsthilfe und politische Selbsthilfeorganisation von Menschen mit chronischen und seltenen Erkrankungen
Selbsthilfe im Gesundheitswesen ist nicht individuelle Eigenhilfe, sondern selbstorganisierte Hilfe auf Gegenseitigkeit von Menschen, die die relevanten Merkmale und von diesen Merkmalen massgeblich geprägte Lebenslagen teilen und insofern, genossenschaftswissenschaftlich ausgedrückt, Deckung des Bedarfs der MitgliederInnen auf Gegenseitigkeitsbasis besorgen. Sie ist selbstorganisierte, aber soziale, das heißt hier: gemeinschaftliche Sorgepraxis. Dies gilt vor allem auf der Mikroebene der sozialen Gruppenaktivitäten. Besonderheiten von seltenen Erkrankungen (Achse 2010: 26) sind gleich noch zu berücksichtigen. Professionalisierungen und Formalisierungen beginnen im Zuge der Verbandsbildung auf Meso- und Makroebene (vgl. www.achse-online.de; www.namse.de, und paneuropäisch www.eurodis.org). Dies wiederum wird gleich noch vor allem in politikwissenschaftlicher Sicht interessieren.
> Das deutsche Gesundheitswesen muss als sehr fragmentiert eingeschätzt werden. Eine Fülle von Schnittstellenmanagementproblemen kennzeichnet das intra- wie auch inter-sektorale Leistungsgeschehen (Schulz-Nieswandt 2010). Selbst innerhalb von Institutionen (wie im Krankenhaus: Zerubavel 1979) funktionieren die Ablaufprozesse nicht optimiert. Insgesamt liegen auch tiefgreifende Blockaden im inter-professionellen Miteinander vor. Vor allem angesichts komplexer Lebenslagen von Menschen (gleichzeitiges Vorliegen von chronischen Erkrankungen, Polymorbidität, Hilfe- und Pflegebedürftigkeiten, Formen der Behinderungen, psycho-soziale Begleitbedarfe etc.) wird die Fragmentierung lebensweltlich oftmals in dramatischer Weise für die menschliche Existenz spürbar. In der dauerhaften Bewältigung der Aufgabe des Umgangs der Menschen (und deren sozialen Netze) mit chronischen Erkrankungen kommt das professionelle System, auch infolge einer Verkürzung des medizinischen Leistungsgeschehens um die sozialen und seelischen Dimensionen und Aspekte der Krankheitserlebens des homo patiens und der Lebensführung mit den Erkrankungen (Uexküll 2008; Zwierlein 2007) , an seine Grenzen. Hier hat die Gesundheitsselbsthilfe systematisch ihre versorgungs- und damit insgesamt gesundheits- und sozialpolitisch nicht mehr wegzudenkende Funktionalität gefunden. Sie ist Glied in der Versorgungskette, aber auch Akteur in unter- oder fehlentwickelten Versorgungsteilräumen (Prävention, Rehabilitation, Patientenedukation etc.) geworden. Daraus erwachsen auch Ambivalenzen (etwa in der Förderpraxis im Krankensozialversicherungswesen).
Stellt man aber diesen gesellschaftlichen Nutzen zur Seite, so ist aus personaler Sicht die erhebliche Bedeutung der sozialen Selbsthilfe mit Blick auf die Kompetenzentwicklung des homo patiens zu betonen. Selbsthilfeaktivitäten als soziales Prozessgeschehen ermöglichen Persönlichkeitswachstum und Reifung der menschlichen Person gerade auch angesichts dieser existenziellen Herausforderungen im Lebenslauf (Brandtstädter 2011).
Staatsrechtliche Betrachtung der
sozialen Selbsthilfe
Der sozialen Selbsthilfe ist also im Laufe der letzten vier Dekaden in Deutschland in versorgungspolitischer Hinsicht eine systematische Rolle zugewachsen. Die Formen der öffentlichen infrastrukturellen Anschub-Politik im Rahmen der Engagamentpolitik im Kontext des Mehr-Ebenen-Systems der föderalen Politikverflechtung ebenso wie die dauerhafte öffentlich-rechtliche Förderfinanzierung vor allem (nicht nur) durch das SGB V (§ 20c SGB V) verweisen auf eine Einfügung in die deutschrechtliche Tradition der Delegation öffentlicher Aufgaben an private oder, wie hier, „freie“ Träger der Leistungserstellung. Die Gebilde sind in der Regel nicht im rechtlichen Sinne Genossenschaften, sondern, wenn überhaupt, dann in vereinsrechtlicher Art organisiert. Entweder bleiben a) die im soziologischen Sinne genossenschaftsartigen sozialen Gebilde als mitgliederorientierte Fördergemeinschaften (Hebung bzw. Förderung der Lebenslagen der Mitglieder der Bedarfsdeckungsgemeinschaften auf Gegenseitigkeitsbasis: Schulz-Nieswandt 2011b) politisch autonom, oder b) sie fordern öffentliche Infrastrukturleistungen ein, um nachhaltig im Interesse der Mitglieder, aber auch im Interesse der Gesellschaft tätig zu sein, weil und insoweit die Lebenslagen, die hier gefördert werden, sozial- und gesellschaftspolitisch, hier gesundheitspolitisch von öffentlicher Bedeutung sind. Insofern liegen Gemeinwohleffekte vor, die in dem ökonomischen, aber auch rechtsphilosophischen Diskurs als positive Externalitäten bezeichnet werden (können).
Insgesamt betrachtet, so kann konstatiert werden, ist die etablierte Selbsthilfebewegung dort, wo sie sich nicht quasi-„anarchistisch“ (also staatskritisch) aus dem Reziprozitätszusammenhang des politischen Systems und den daraus resultierenden rechtlichen Regulierungsregimen (etwa dem sozialrechtlichen Qualitätsmanagement) heraushält, zu einem Instrument der staatlichen und öffentlich-rechtlichen Gewährleistungsstaatlichkeit geworden ist. Diese Staatlichkeitsform entspricht auch den Trends im Europäischen Verfassungsvertragsverbund: Staatliche Gewährleistungspflicht wird im „Europäischen Sozialmodell“ kombiniert mit Marktöffnung, Wettbewerbssteuerung und Privatisierung der Aufgabenerledigung (Schulz-Nieswandt 2011a). Dazu gehört auch die Praxis von Public Private Partnerships, wobei unter Privaten hier auch die Non Profit Organisationen zählen können.
Diese Praxis der Aufgaben(erledigungs)delegation gilt auch auf der Meso- und Makroebene: als Delegation öffentlicher Aufgaben in die Erledigungspraxis der Verbände auf Landes- und Bundesebene. Hier steht etwa die Mitwirkung der BAG SH im Gemeinsamen Bundesausschuss als untergesetzliche Normierungsinstanz im Selbstverwaltungsgeschehen des Wirkbereiches des SGB V im Mittelpunkt der Betrachtung (zu weiteren Arenen der BAG SH vgl. in Achse 2010: 134 f.). Damit wird die Selbsthilfebewegung vor allem mit Blick auf die Prozesse des Agenda-Settings einerseits und der Aufgabenerledigung andererseits zum Akteur innerhalb des komplexen, über mehrere Ebenen verteilten Governancegeschehens im politischen System (Arena). Darauf ist gleich nochmals in politikwissenschaftlicher Hinsicht zurückzukommen (vgl. auch Engelhardt 2011). Hierbei wird man allerdings die Problematik ambivalenter einschätzen müssen als es der Fall ist, wenn vereinfacht auf die zivilgesellschaftlich neue Konsumentenmacht gesetzt wird (wie bei Crouch 2011: 203 ff.; vgl. auch feldspezifisch Koch 2010).
Besonderheiten der Selbsthilfe von Menschen mit chronischen seltenen Erkrankungen als
Teilmenge der Selbsthilfebewegung insgesamt
Die Involvierung der Selbsthilfebewegung in das Versorgungsgeschehen einerseits, aber auch in das politische Geschehen andererseits ist dann nicht überraschend, wenn die gesundheitsökonomische Bedeutung beachtet wird. Den größten Teil (ca. 80%) der GKV-Ausgaben verursacht eine relative Minderheit (ca. 20 %) der Patienten (Versicherten) (Günster/Klose/Schmacke 2011; Günster/Klose/Schmacke 2011a). Hierbei stehen die chronisch Kranken im Vordergrund. Die Evidenz der Selbsthilfetätigkeiten unterstellt, ist die Förderung der sozialen Selbsthilfe offensichtlich ganz im Sinne der Kosten-Effektivität des Systems. Die Praxis der Selbsthilfeförderung liegt im Lichte der Alterungsprozesse der modernen Gesellschaft politisch deutlich im Selbstinteresse einer breiten Versichertenmehrheit und damit einer politisch relevanten Bevölkerungsgruppe.
Dennoch war die Akzeptanz der Involvierung von Selbsthilfeaktivitäten in das medizinisch dominierte Gesundheitswesen lange Zeit nicht selbstverständlich. Und auch heute wird die intensive Zusammenarbeitskultur mit der Selbsthilfe nicht von der Mehrzahl der niedergelassenen Ärzte tiefgreifend mitgetragen. Und auch das Krankenhaus steht (angesichts der Dringlichkeit, die Patientenpfade trans-sektoral und damit auch vor- wie nachstationär zu optimieren) ebenso mitten im Prozess der qualitätsorientierten Betrachtung mit Blick auf die Frage einer produktiven Zusammenarbeitskultur mit der sozialen Selbsthilfe.
Doch diese positiven Trends sind solche, die epidemiologisch breite Bevölkerungsteile betreffen. Wie sieht es mit chronischen seltenen (Eidt et al. 2009: 1 ff.) Erkrankungen aus? Besteht hier ein gleiches, auch gesundheitsökonomisch (Eidt-Koch 2009) motiviertes Interesse?
Dies ist sogleich noch politikwissenschaftlich, wohlfahrtsökonomisch und ethisch anzudiskutieren. Doch zunächst soll ein tiefergehender psychologischer Blick wirksam werden.
Strukturale Psychologie: Ein tiefbohrender Blick auf die kulturelle Praxis des Umgangs mit dem „Andersartigen“
Im Umgang mit dem Fremden, dem Anders-Sein schlechthin, kristallisiert sich in der kulturellen Praxis der Menschen oftmals ein binärer Code (eine Topologie: Gondek 1998: 213) des Innen-Außen-Denkens, der (die) angstgesteuert ist und auf Selbstschutz vor dem Unverstandenen „da draußen“ geeicht ist (Schulz-Nieswandt 2012): Es handelt sich um eine Form der Hygiene-Angst. Das Reine wird vom Unreinen getrennt (Douglas 1988). Das sitzt evolutionär sehr tief im Menschen (Oesterdiekhoff 2009): religionsgeschichtlich früh schon als Angst vor dem Dämonischen – so wie Pan im Formkreis des Dionysos eben jene Panik angesichts des Numinosen produziert hat (Schlesier/Schwarzmaier 2008). Diskurse und soziale Praktiken der Ausgrenzung und der sozialräumlichen Absonderung sind als Techniken der sozialen Regulierung kulturgeschichtlich und –vergleichend als weit verbreitet nachweisbar.
Seltene Erkrankungen, Behinderungen insgesamt, erfahren oftmals solche binär codierten kulturellen Praktiken der Abgrenzung. Angst, geboren aus Unverständnis, aber auch Ekel, geboren aus sozial nicht erlernten Balancen von Nähe und Distanz in den zwischenmenschlichen Begegnungen (Stierlin 1976: 62 f.), prägen nicht selten den kulturellen Umgang mit chronisch Kranken, pflegebedürftigen und/oder behinderten Menschen und, gerontophobisch mitunter auf das Alter insgesamt bezogen, charakterisieren den Umgang mit dem kulturell Fremden. Weit entfernt ist der Mensch von der psychoanalytisch rekonstruierbaren Erkenntnis, die Angst vor dem „ganz Anderen“ ist nur die verdrängte Angst vor uns selbst, vor dem eigenen tiefen Selbstpotenzial (Kristeva 2010).
Vor dem Hintergrund solcher Diskurse und sozialen Praktiken der kulturellen Inszenierung (Früchtl/Zimmermann 2001; Willems 2009) sozialer Hygieneordnungen sind die erheblichen seelischen Hürden beachtenswert, die von den betroffenen Menschen überwunden werden müssen, um sich der Hilfesuche in Form der Gegenseitigkeitshilfe zu öffnen. Das eigene Selbst muss akzeptiert, angenommen und nach außen offen dargelegt werden. Die Gesellschaft selbst muss eine offene Gastfreundschaftskultur gegenüber dem Anderen/Anderartigen entwickeln und nicht das St. Florians-Prinzip praktizieren.
Die politische Karriere der Lebenslagen von
Menschen mit seltenen Erkrankungen
Hat sich der Mensch mit chronisch seltener Erkrankung selbst angenommen und sich der sozialen Mitwelt offen gestellt, so stellt sich sodann die Frage, ob und inwieweit sich die soziale Umwelt – im Nahbereich der lebensweltlichen sozialen Interaktionen (Mikroebene), im Alltag der Organisationen und Institutionen, etwa der Gesundheitsversorgung (Mesoebene) wie auch in der politischen Arena (Makroebene) und deren Outcomes (etwa Sozialgesetzgebung und entsprechend induzierter Wandel der Versorgungslandschaften, Regulierung des Arzneimittelsektors, Forschungspolitik) – gegenüber den Menschen mit seinen chronischen seltenen Erkrankungen öffnet.
Politikwissenschaftlich interessiert hierbei die Frage, ob seltene Erkrankungen überhaupt angemessen im politischen System repräsentiert werden. Aus der politikwissenschaftlichen Forschung ist der Befund der sozialen Ungleichheit in der Chance zur Organisation, Artikulation und konfliktfähigen Durchsetzung von Interessen bekannt. Hier liegen fundamentale Probleme im neo-pluralistischen System repräsentativer demokratischer Regime vor. Wann wird ein Befund zum Thema, eine Lebenslage zum sozialen Problem, das Thema als soziales Problem zum Gegenstand gestaltender Gesellschaftspolitik, insbesondere hier der Gesundheits- und Sozialpolitik?
In der Theorie kollektiven Handelns (Forschungstradition von Mancur Olson) dominiert die kollektivguttheoretische Interpretation, kleine Gruppen beuten große Gruppen aus (Hothan 2011). Dies setzt aber voraus, dass die Interessen der kleinen Gruppen auch in der Politik erfolgreich Einfluss nehmen können und die Politik sodann zu ihren eigenen Interessen strategisch prägen können (rent-seeking-Theorem). Was aber, wenn kleine Gruppen kein Gehör in der Öffentlichkeit und in der politischen Arena finden? Was, wenn es sich um ausgegrenzte oder marginalisierte soziale Gruppen handelt?
Viele Beispiele zeigen das: die langsame Öffnung zum Thema Demenz im Alter (nicht nur finanzwirtschaftlich, sondern bereits mit Blick auf die Validität des Pflegebedürftigkeitsbegriffs), die Unterversorgung in der Gerontopsychiatrie und –psychotherapie, die schleppende De-Institutionalisierung in der Hilfe für Menschen mit Behinderungen etc. Wo sich die Gesellschaft, wissenssoziologisch gesehen, bereits im kulturellen Vorfeld der Politik von Menschen mit besonderen Lebenslagen als Vorgang kollektiver Verdrängung abkehrt, greift auch die Politik, den gesellschaftlichen Diskursen und sozialen Praktiken nachgelagert, die Themen nicht angemessen auf. Olsons Theorem wird umgekehrt: Große Gruppen leben ohne Verständnis (ohne sozial erlernte Empathie: Baring 2011; Armstrong 2006) an den Problemlagen sozialer Minderheiten, die nicht angemessen in die sozialen Präferenzbildungen (soziale Wohlfahrtsfunktionen) Eingang finden, vorbei. Das politische System filtert demnach Themen aus, folgt dabei aber sensibel den kulturell vorgängigen Konstruktionen sozialer Wirklichkeit, die aus der alltäglichen kulturellen Praxis der Gesellschaft resultieren.
Gegen-Diskurse und konkrete Arbeit an den alltäglich verbreiteten sozialen Mechanismen sind demnach notwendig, um die Präferenzbildungen des politischen Systems zu korrigieren und andere policy-Pfade zu induzieren.
Zur Ethik der Ressourcenverteilung
Nun steht die Politik angesichts der unauflösbaren Ökonomik der Knappheit immer vor dem Problem, Dringlichkeiten zu definieren und somit Prioritäten zu setzen. Das in der Wohlfahrtsökonomik verbreitete Pareto-Prinzip besagt nun, eine Wohlfahrtsveränderung sei dahingehend durch Aufteilung zusätzlicher Ressourcen (etwa resultierend aus dem Sozialproduktwachstum) zu verwirklichen, dass sich zumindest eine Person (oder eine soziale Gruppe) verbessert, ohne dass dadurch eine andere Person (oder soziale Gruppe) verschlechtert wird. Die Wohlfahrtsfunktionen der Personen/sozialen Gruppen sind also interdependent. Negative Externalitäten drücken sich dann in dieser Wohlfahrtsinterdependenz dergestalt aus, dass sich gerade eine Person/soziale Gruppe dadurch in der Wohlfahrtsposition verbessert, indem dadurch andere Personen/soziale Gruppen schlechter gestellt werden.
Es lässt sich sogar zeigen, dass dieses ökonomische Wohlfahrtskriterium analog zum Sittengesetz in der Tradition von Kant zu verstehen ist. Modern, psychologisch und soziologisch im Lichte empathiefundierter sozialer Interaktion reformuliert: Handele so, dass Du in die Maxime deines Handelns auch dann noch einwilligen kannst, wenn Du dich in die Rolle derer versetzt, die von deinem Handeln betroffen sind. Als „goldene Regel“ ist dieses Sittengesetz als normative Grammatik sozialen Miteinanders und der dialogischen Begegnung im zwischenmenschlichen Bereich seit der „Achsenzeit“ (Armstrong 2006) der hochkulturellen Weltreligionen universal verbreitet.
Eigentlich setzt das Pareto-Prinzip demnach Einstimmigkeit voraus. Zu hohe Transaktionskosten können es aber schwierig machen, Entscheidungsfindungsprozesse bis zur Einstimmigkeit zu treiben. Daher besteht das Optimierungsproblem darin, die Konsensfindungskosten und die Präferenzfrustrationskosten (der letztendlich in der Entscheidung nicht berücksichtigten/übergangenen Interessen) gemeinsam zu minimieren. Das Ergebnis bleibt immer (relativ) unvollkommen.
Das Pareto-Prinzip setzt sich von einer älteren utilitaristischen Tradition der Maximierung der sozialen Wohlfahrt ab, in der die individuellen Nutzen durch Addierung (also summativ) aggregiert worden sind. Ganz offensichtlich ist dies ethisch nicht haltbar: Jegliche Form massiver (bis zur Tötung gehender) negativer Externalitäten wäre legitim, wäre der quantifizierte Nutzen der Bessergestellten (und damit die aggregierte soziale Wohlfahrt) höher/größer als der Nutzenverlust der Schlechtergestellten.
Allerdings übergeht das Pareto-Prinzip das Fairness-Problem der wachsenden relativen Ungleichheit (Theorem der relativen Deprivation). Aus sozialpsychologischer Sicht (Fetchenhauer 2011: 441 ff.) verletzt die Besserstellung der ohnehin Bessergestellten bei Konstanz (nicht Absenkung!) des Wohlstandsniveaus der Schlechtgestellten das Gebot sozialer Fairness.
Eine Alternative wären Lösungen entsprechend der Rechtsphilosophie von John Rawls (Rawls 2011): Rawls-Lösungen sind immer Teilmengen der Pareto-Lösungen, aber nicht alle Pareto-Lösungen sind auch Rawls-Lösungen. Anders ausgedrückt: Rawls präferiert win-win-Situationen, in denen auch der Schlechtgestellte in den Sog des sozialen und/oder wirtschaftlichen Fortschritts kommt. Dies entspricht auch dem Denken der sozialen Marktwirtschaft des europäischen Verfassungsvertragsrechts (Schulz-Nieswandt 2011a).
Menschen mit chronischen seltenen Erkrankungen haben ein (deontologisch fundiertes) Grundrecht auf anteilige Berücksichtigung in der sozialen Präferenzbildung der Politik der sozialen Wohlfahrtsoptimierung.
Vor diesem rechtsphilosophischen Reflexionshintergrund lässt sich deduzieren, dass daher die Menschen in diesen Lebenslagen das Recht haben, in der Versorgungslandschaft des Gesundheitswesens angemessen Zugang zur evidenzgestützten Behandlung zu erfahren (Eidt et al. 2009: 29 ff.). Dies gilt für frühzeitige Diagnostik wie für die Therapiepläne. Der Weg muss in Richtung auf die Gewährleistung von Versorgungszentren für seltene Erkrankungen (Eidt et al. 2009: 101 ff.) gehen. Da es sich manchmal um numerisch wirklich extrem seltene Fälle handelt, wäre eine grenzüberschreitende europäische Planung sinnvoll.
Die Infrastrukturproblematik wird deutlich: Es besteht Optimierungsbedarf hinsichtlich der Verfügbarkeit, Erreichbarkeit und Zugänglichkeit solcher Einrichtungen im sozialen Raum. Internationalisierte zugängliche Informations- und Datenbänke sind notwendig und bestehende Angebote (Orphanet) weiterzuentwickeln (Eidt et al. 2009: 191 ff.).
Wissenschafts- und forschungs-
politische Aspekte
Ein Hauptdiskussionspunkt bleibt die Entscheidung über die Verwendung der Forschungsressourcen. Der Grenzertrag von Forschungsinvestionen in epidemiologisch als Volkskrankheiten bezeichnete Bedarfsfelder wird oftmals höher eingeschätzt als der in die Erforschung seltener Erkrankungen. Die Argumentation wird man hinterfragen müssen. Wissenschafts- und forschungsgeschichtlich sind es oftmals die Umweginvestitionen, die Erforschung nicht unmittelbar gesellschaftlich nutzvoller Fragen, die es ermöglicht haben, natürliche (etwa biologische) Mechanismen so zu entschlüsseln und zu verstehen, dass erhebliche Spill-over-Effekte auf andere Lebensbereiche möglich geworden sind. So hat die allgemeine Genom-Analyse des Menschen der 1990er Jahre heute neue Formen personalisierter Krebstherapie ermöglicht.
Sicherlich sind aber auch einige Fragen schwer auszubalancieren: Das Regulierungsregime der Arzneimittelzulassung ist ambivalent eingebettet in dem Spannungsbogen zwischen der Skylla der Gefahren zu schneller Zulassung einerseits und der Charybdis der angstfundiert überzogenen Über-Regulierung der Zulassungsprozeduren (Schwabe/Pfaff 2001).
Aspekte theologischer Anthropologie
Der menschlichen Existenz kommt in ihrer personalen Daseinsweise a priori Schutzbedürftigkeit zu, da der als homo patiens a priori gefährdet, verletzbar, kontingent ist. Da nun allen Menschen gleich das Leben „geschenkt“ ist (Albert 2010; Schulz-Nieswandt 2010: 538 ff.; Lintner 2006), resultiert aus dieser Ur-Gabe eine Ur-Schuld, die für alle Menschen politisch verbindlich ist: Person-Sein bzw. Person-Sein-Können im geschichtlichen Zeitstrom wird zur Frage der kollektiven Selbstverantwortung der Menschen. Person-Sein ist Telos der Geschichte (Glöckner 2004). Der Person kommt somit ein sakraler Charakter zu (vgl. auch Joas 2011, insb. 232 ff.).
Angesichts dieser ontologischen Ausgangslage des Menschen ist sozialpolitisch die Inklusionslogik zwingend: Keine Personengruppe darf gesellschaftlich ausgeschlossen bleiben von der Politik der Befähigung (Sen 2011; Nussbaum 2011) und der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zum Zwecke der freien Entfaltung der Persönlichkeit (als relationale Autonomie im Sinne einer „Freiheit in Geborgenheit“) als Grundrecht.
Ausblick
Das skizzierte Thema der chronischen seltenen Erkrankungen ist auch zunehmend ein Handlungsfeld der EU geworden (Eidt et al. 2009: 133 f.). Dies gilt auch für die Förderung der Entwicklung von Medikamenten für seltene Erkrankungen (Eidt et al. 2009: 139). Die Novellierung der deutschen Arzneimittelgesetzgebung ist dementsprechend in der Kontroverse. So bleiben große Aufgaben für die politische Selbstorganisation der Menschen mit chronischen seltenen Erkrankungen bestehen. Mit der NAMSE (www.namse.de) ist ein erster organisatorischer Schritt zur Plattformbildung und zur Allianzbildung gegangen worden. Im Alltag spielt der konkrete, personalisierte Kontext der dialogischen Face-to-Face-Beziehung in den sozialen Selbsthilfegruppen eine bleibende fundamentale Rolle; angesichts des aus der Seltenheit resultierenden räumlichen Streu-Effekts spielt die europäische und internationale Vernetzung über das Internet eine zunehmend herausragende Bedeutung. <<
Die Bedeutung der sozialen Gesundheitsselbsthilfebewegung im Gesundheits- und Sozialwesen in Deutschland
Einige morphologische Überlegungen müssen vorangestellt werden. Ich betrachte die soziale Selbsthilfebewegung als Teil des Dritten Sektors in modernen, wohlfahrtsstaatlich überformten Marktgesellschaften. Im Rahmen einer differenzierten gebildesoziologischen Typologie zähle ich die verschiedenen Formen des bürgerschaftlichen Engagements zu diesem Dritten Sektor der Wohlfahrtsproduktion zwischen Staat, Markt und Familie/Verwandtschaft. Das bürgerschaftliche Engagement (Schulz-Nieswandt/Köstler 2011) nimmt wiederum verschiedene Gestaltformen an.
a) Das Engagement kann aa) selbstorganisiert sein und auch in dieser Weise autonom bleiben, es kann auch ab) fremdinitialisiert (Engagementpolitik von Bund, Länder, Kommunen) und in der Folge in formale Organisationen (etwa der freien Wohlfahrtspflege) und deren Tätigkeit eingebunden sein. In der Regel handelt es sich hierbei um Formen der freiwilligen Fremdhilfe (Hilfe für Dritte), die entsprechend auch Gegenstand der humanwissenschaftlichen Altruismusforschung (Klein 2010) ist.
Im vorliegendem Themenkreis interessiert aber ein anderer Typus der freiwilligen Hilfe:
b) die der selbstorganisierten Hilfe auf Gegenseitigkeitsbasis. Solche sozialen Gebilde der Reziprozitätsbeziehungen sind Gegenstand der kulturanthropologischen, lange in der Forschungstradition der Ethnologie (Melk-Koch 1989) verwurzelten Erforschung des Prinzips der Gabe und der Reziprozität (Gabe und Gegen-Gabe, Nehmen und Geben). Dies ist der Zugang, den ich (Schulz-Nieswandt/Köstler 2011; vgl. auch in Schulz-Nieswandt 2010: 538 ff.; Albert 2010) wähle und auf das Feld der sozialen (mutualen) Gesundheitsselbsthilfe(gruppen) und deren (politische) Selbstorganisationen übertrage (Forschungsüberblick in Schulz-Nieswandt, 2011; am Beispiel von gemeinschaftlichen Wohnformen im Alter vgl. Schulz-Nieswandt et al. 2012).