Prävention der Frauengesundheit durch strukturierte präkonzeptionelle Beratung – Ärztliche Managed Prevention
Seit der Einführung der Mutterschaftsvorsorge im Jahr 1961 als standardisierte, flächendeckende und frei verfügbare Maßnahme der Präventivmedizin ist die perinatale Mortalität um den Faktor 10, die mütterliche um ein Vielfaches mehr gesunken. Zu beobachten ist jedoch eine Zunahme der perinatalen und mütterlichen Morbidität sowie der Sectiorate. Es stellt sich die Frage, inwiefern die Schwangerschaftsergebnisse nicht auch von der gesundheitlichen Verfassung der Frau außerhalb der Schwangerschaft beeinflusst werden. Auf diesem Hintergrund ist auch die Zunahme von Fertilitätsstörungen zu untersuchen sowie die beiden Haupt-Todesursachen der Frau, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Karzinome.
>> Der prä- und interkonzeptionelle Gesundheitszustand ist eine wichtige Determinante von Fertilität (Fähigkeit zur Fortpflanzung) und Fekundität (Anzahl erfolgreicher Schwangerschaften pro Frau), aber auch von Schwangerschaftsverläufen und ihrem „Outcome“ [1]. Das betrifft sowohl die unmittelbare perinatale und mütterliche Morbidität und Mortalität als auch die langfristige Gesundheit von Mutter und Kind, denn die Schwangerschaft ist für beide eine sensible und prägende Phase. Mit Preconception Counseling (PCC) sollen individuelle Lebensstil-, Verhaltens-, medizinische und soziale Risiken für die Gesundheit einer Frau oder den Erfolg einer Schwangerschaft erkannt und behoben werden, rechtzeitig vor einer (weiteren) Schwangerschaft. Das Konzept setzt auf primäre Prävention und Intervention, Gesundheitsschutz und -förderung [2].
Im Folgenden werden epidemiologische Daten und medizinische Hintergründe der einzelnen Parameter der reproduktiven Gesundheit dargestellt sowie pathogenetische Mechanismen, protektive Faktoren und mögliche Maßnahmen der aktiven Prävention und Intervention beleuchtet.
Kinderwunsch, Fertilität und ihre Grenzen
Laut Familienreport 2014 des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend wünschen sich mehr als 80 Prozent der 20- bis 39-jährigen eigene Kinder. Allerdings gab in der Studie „frauen leben 3“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) nur ca. ein Fünftel aller Frauen mit Kinderwunsch an, diesen „recht bald“ realisieren zu wollen, bei der Mehrzahl der Frauen hatte der Kinderwunsch perspektivischen Charakter. 17 % aller Frauen waren mindestens einmal im Leben ungewollt schwanger, zu einem großen Teil trotz Anwendung oraler hormonaler Kontrazeptiva oder Verhütung mittels Kondom. Eine umfangreiche Repräsentativbefragung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung aus dem Jahr 2011 zeigte, dass vor einer frauenärztlichen Beratung 26 % unsicher waren hinsichtlich der für sie geeigneten Verhütungsmethode, nach der Beratung nur noch 5 % [3].
Gleichzeitig ist ein Anstieg ungewollter Kinderlosigkeit aufgrund von Fertilitätsstörungen zu verzeichnen [4]. Die Fertilität ist abhängig vom Lebensalter mit der optimalen Fruchtbarkeit der Frau in ihren 20er Jahren, was laut Umfragen in der Bevölkerung wenig bekannt ist [2]. Die Konzeptionsrate innerhalb eines Jahres sinkt mit dem Alter der Frau, der Bedarf für reproduktionsmedizinische Maßnahmen nimmt altersabhängig zu. Gleichzeitig sinken die Erfolgsraten, während die Inzidenz von Mehrlingsschwangerschaften steigt und die Gesundheitsrisiken für Mutter und Kind zunehmen [5]. Laut Statistischem Bundesamt (Destatis) war im Jahr 2014 der Anteil der Mehrlingskinder an allen Neugeborenen so hoch wie nie zuvor.
Sowohl Fertilität als auch Fekundität werden aber auch beeinflusst von der Lebensführung. Eine Akkumulation negativer Lifestyle-Faktoren wie Rauchen, Alkohol und Adipositas reduziert neben anderen Faktoren wie psychosozialer Belastung die Konzeptionswahrscheinlichkeit innerhalb eines Jahres von ca. 80% auf ca. 40%, verlängert signifikant die Zeit bis zum Eintritt der Schwangerschaft und erhöht die Wahrscheinlichkeit für Subfekundität [6]. Die Adipositas reduziert die Fertilität dabei durch ovulatorische Dysfunktion, die sich mit zunehmender Ausprägung und Dauer des Übergewichts verschlechtert. Wissenslücken zum Thema Fertilität und Reproduktion können, insbesondere in Zusammenhang mit psychischen Aspekten wie Depressivität, ein Grund für risikoreiches Verhalten sein [4]. Eine depressive Symptomatik besteht bei 8,1% der Erwachsenen, wobei Frauen mit 10,2% häufiger betroffen sind als Männer (6,1 %; Gender-Effekt). Bei beiden Geschlechtern ist die Prävalenz bei 18- bis 29-Jährigen am höchsten (Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1) [7].
Weitere Einflussfaktoren auf die Fertilität sind sexuell übertragbare Krankheiten wie Infektionen durch HPV. Die Teilnahmerate der Zielgruppe der 14- bis 17jährigen Mädchen an der HPV-Impfung liegt laut KiGGS-Studie (Kinder- und Jugendgesundheits-Survey) nur bei 40 %.
Schwangerschaftsassoziierte Risiken für die
Kindergesundheit
Auch in Zeiten modernster reproduktionsmedizinischer Techniken findet die pränatale Entwicklung des Menschen im Körper einer Frau statt, dessen intrauterine Umgebungsbedingungen prägende Effekte auf den Embryo und Feten ausüben. Die Hauptaspekte der schwangerschaftsassoziierten Gefährdung der kindlichen Gesundheit sind Frühgeburtlichkeit, kongenitale Fehlbildungen und kindliches Übergewicht. Die Zahl der Frühgeburten steigt trotz zunehmender diagnostischer und therapeutischer Möglichkeiten weltweit an, auch in den Industrienationen. In Deutschland liegt die Frühgeburtenrate bei 9 %, was im europäischen Vergleich zu den höchsten Raten zählt [8]. Die Frühgeburtlichkeit ist einerseits für 70 % der neonatalen Todesfälle verantwortlich und andererseits mit einem hohen Risiko für bleibende neurologische Schäden assoziiert. Trotz der niedrigen Prävalenz von 2 – 4 % verursachen kongenitale Fehlbildungen 30 % der perinatalen Morbidität [9]. Sie sind die häufigste Todesursache im Kindesalter und Hauptursache für Behinderungen mit lebenslanger Beeinträchtigung. Bei der Entstehung spielen modifizierbare externe Faktoren eine ebenso große Rolle wie genetische Faktoren. Durch Einwirkung von Noxen zu einem bestimmten sensiblen Zeitpunkt der Organogenese werden teratogenetische Prozesse induziert, was teilweise durch einfache Maßnahmen verhindert werden könnte. Zum Beispiel wäre mindestens jeder zweite der ca. 1000 jährlichen Fälle von Neuralrohrdefekten durch die präkonzeptionell begonnene (!) Folsäure-Prophylaxe vermeidbar [10]. Es gibt immer mehr Hinweise darauf, dass auch die Disposition zu Adipositas und weiteren nichtübertragbaren Krankheiten bereits intrauterin entsteht, durch eine Art von funktioneller Teratogenese [11;12]. Im Jahr 2007 waren in Deutschland 15 % der Kinder und Jugendlichen von 3 – 17 Jahren übergewichtig, mehr als ein Drittel von ihnen (6,3%) litt an Adipositas [13]. Tab. 1 gibt einen Überblick über eine Reihe von vermeidbaren Ursachen, die zwei Kategorien zugeordnet werden können: Störungen, die durch aktive Prophylaxemaßnahmen zum Teil vollständig vermieden werden können, sowie Faktoren, die grundsätzlich einer Intervention zugänglich sind. Eine ausführliche Darstellung des Themas findet sich an anderer Stelle [14].
Schwangerschaftsassoziierte Risikofaktoren für die Frauengesundheit
Die Hauptursachen der mütterlichen Morbidität und Mortalität sind in Tab. 2 dargestellt. Die wichtigsten Risikofaktoren sind das Alter, das Rauchen und die Adipositas.
Mütterliches Alter
Laut Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes vom 03.09.2014 waren im Jahr 2012 fast die Hälfte der Gebärenden älter als 30 Jahre. 22 % aller Kinder, die 2012 in Deutschland geboren wurden, hatten eine Mutter, die zum Zeitpunkt der Geburt 35 Jahre oder älter war. Im Jahr 2014 waren Mütter der Erstgeborenen bei der Geburt im Schnitt 29,5 Jahre, beim zweiten Kind rund 32 Jahre alt. Eine besonders starke Zunahme der Geburtenhäufigkeit war bei Frauen zwischen 29 und 38 Jahren zu beobachten. Das Lebensalter ist der stärkste Prädiktor für numerische Chromosomenanomalien und ist assoziiert mit einem erhöhten Risiko für alle Ursachen der mütterlichen Morbidität und Mortalität [Übersicht bei 5].
Vermeidbare Ursachen für mütterliche Morbidität und Mortalität
Einige der auslösenden Faktoren können durch aktive Prävention bzw. primäre Intervention vermieden werden. Dazu gehört auch die Vermeidung reproduktionsmedizinischer Maßnahmen durch den Schutz der Fertilität (s.o.).
Neben den gesundheitlichen Risiken für das ungeborene und neugeborene Kind sind Virusinfektionen in der Schwangerschaft auch mit einem erhöhten Risiko für Aborte und Frühgeburten und besonderer Schwere der Erkrankung der Mutter verbunden. Seit 2003 ist eine signifikante Zunahme von Maserninfektionen vor allem bei der Bevölkerungsgruppe der jungen Erwachsenen über 20 Jahren zu verzeichnen, außerdem zeigen sich seit Jahren konstant hohe Inzidenzen bei den Null- und Einjährigen. Die Masernimpfung ist in der Schwangerschaft kontraindiziert, aber beide Altersgruppen wären über die Impfung der Frau im gebärfähigen Alter erreichbar. Dennoch wird im Nationalen Aktionsplan 2015 – 2020 zur Elimination der Masern in Deutschland die Frau im gebärfähigen Alter nicht als „Bevölkerungsgruppe mit besonderem Handlungsbedarf“ genannt. In Deutschland wird jährlich bei ca. 60.000 Frauen ein operativer Eingriff wegen zervikaler Präkanzerose durchgeführt, überwiegend vor und während der Familienplanungsphase. Da nach einer solchen Konisation lebenslang ein erhöhtes Frühgeburtsrisiko besteht, das sich nicht auf die erste postinterventionelle Entbindung beschränkt [15], sollte der primären Prävention durch die rechtzeitige HPV-Impfung ein hoher Stellenwert eingeräumt werden.
Ein weiterer vermeidbarer Risikofaktor ist das Rauchen, das mit einem erhöhten Risiko für Aborte, Extrauteringraviditäten, Frühgeburten und Totgeburten assoziiert ist und das Risiko für schwere Schwangerschaftskomplikationen wie Plazentalösung erhöht. Laut der „Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1)“ beträgt die Raucherquote bei Frauen 27 Prozent mit einem hohen Anteil vor allem bei jüngeren Erwachsenen.
Ein Drittel der Frauen beginnt die Schwangerschaft mit einem BMI > 25kg/m2. Adipositas ist die Hauptursache sowohl für fetale als auch für mütterliche Morbidität [16]. Sie ist ein Hochrisikofaktor für Gestationsdiabetes und hypertensive Schwangerschaftskomplikationen, die in Europa an erster Stelle der Müttersterblichkeit stehen [Übersicht bei 17]. Die durch Adipositas bedingte Zunahme der Sectiorate erhöht darüber hinaus das Risiko für Plazentationsstörungen, Uterusruptur und Resectio in einer Folgeschwangerschaft. Das Risiko für mütterliche und fetale Komplikationen steigt mit dem Grad des Übergewichts und der Adipositas [18]. Es kommt eine Kaskade von Folgeentwicklungen in Gang, die sich auf den langfristigen Gesundheitszustand der Frau, auf nachfolgende Schwangerschaften sowie die nächste Generation fortsetzt und sogar das Geburtsgewicht des Enkelkindes beeinflussen kann. In Abb. 1 sind die einzelnen Stufen dieser Kaskade als Prädiktoren für künftige Fehlentwicklung dargestellt.
Unter- oder Übergewicht der Frau in der ersten Schwangerschaft erhöht das Risiko für Komplikationen in einer Folgeschwangerschaft auch bei unkomplizierter erster Schwangerschaft oder Normalgewicht in der zweiten Schwangerschaft [19]. Etwa die Hälfte der Frauen erkrankt nach einem Gestationsdiabetes innerhalb der folgenden zehn Jahre an einem Diabetes mellitus Typ 2. Frauen mit einem BMI > 30 kg/m2 in der Schwangerschaft haben im späteren Leben eine erhöhte Gesamtmortalität und ein signifikant erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse [20].
Schwangerschaftsunabhängige Auswirkungen
modifizierbarer
Lebensstilfaktoren
Seit Jahren sind in Deutschland Herz-/Kreislauferkrankungen die häufigste Todesursache bei beiden Geschlechtern, und es besteht ein enger Zusammenhang zur Adipositas und den assoziierten metabolischen und kardiovaskulären Veränderungen. An zweiter Stelle der Todesursachen stehen Krebserkrankungen. Die häufigste Krebserkrankung der Frau ist das Mammakarzinom, gefolgt von Darm- und Lungenkrebs. Tabakkonsum ist ein signifikanter Risikofaktor für das Bronchial- und Lungenkarzinom, das im Jahr 2014 das Sterbealter von betroffenen Frauen laut Statistischem Bundesamt um durchschnittlich 10,4 Jahre senkte. Die Adipositas ist ein signifikanter Risikofaktor sowohl für das (postmenopausale) Mammakarzinom als auch für das Kolonkarzinom [21]. Laut einer Pressemitteilung des Statistischen Bundesamts vom 05.11.2014 waren im Jahr 2013 40 %
der erwachsenen Frauen übergewichtig, 14 % waren adipös, was einem deutlichen Anstieg der Prävalenz in den vergangenen Jahren entspricht. Parallel dazu gibt es eine wachsende Zahl von Diabetikern (vorwiegend Typ 2), wobei betroffene Frauen häufiger als Männer einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erleiden [22] (Gender-Effekt). Eine Auswertung von Daten des NHANES (National Health and Nutrition Examination Survey) weist darauf hin, dass ein zu hohes Körpergewicht im Alter von 25 Jahren das Risiko für Adipositas Grad 3 (BMI > 40 kg/m2) und messbare Risikoindikatoren (Blutdruck, Laborparameter) nach dem 35. Geburtstag erhöht [23]. Dieser Effekt ist für Frauen deutlich stärker ausgeprägt als für Männer (Gender-Effekt).
Entwicklungsbezogene Krankheitsdisposition und transgenerationale Effekte
Das Beispiel der Adipogenese
Die Schwangerschaft hat eine Schlüsselfunktion für die Körpergewichtsentwicklung des Kindes [18], die in starkem Maß von der intrauterinen Versorgung mit Sauerstoff und Nährstoffen bestimmt wird. Ein hohes Geburtsgewicht prädisponiert für späteres Übergewicht [Review und Metaanalyse bei 24]. Im Rahmen der Ulmer Kinderstudie, bei der 1.000 Kinder von der Schwangerschaft bis zum achten Lebensjahr begleitet wurden, konnte belegt werden, dass der mütterliche BMI zu Beginn der Schwangerschaft mit dem kindlichen Gewicht im Grundschulalter korrelierte [25]. Außerdem zeigte sich eine klare Assoziation zwischen prägravidem mütterlichem Übergewicht und kindlichen Insulinkonzentrationen im Plasma, sowohl zum Zeitpunkt der Geburt als auch im Alter von acht Jahren. Dabei hatten Mädchen im Alter von 8 Jahren höhere Insulinkonzentrationen als Jungen (Gender-Effekt).
Die intrauterine Exposition zu mütterlicher Adipositas und Gestationsdiabetes ist ein Risikofaktor für Adipositas im Kindes- und Erwachsenenalter; kindliches Übergewicht ist der Haupt-Risikofaktor für Adipositas im Erwachsenenalter [26]. Frauen mit hohem Geburtsgewicht haben im gebärfähigen Alter auch unabhängig von ihrem BMI ein größeres Risiko, ein LGA-Kind zu gebären (large for gestational age, [18]).
Ein ansteigender mütterlicher Blutdruck kann bereits bei Prähypertonie zu intrauteriner Mangelversorgung und zur Geburt von SGA-Kindern (small for gestational age) führen [27]. SGA-Kinder haben als Erwachsene ebenfalls ein konsistent erhöhtes Risiko für Adipositas und metabolische Dysfunktion [28]. Auch Frühgeburtlichkeit kann die Entstehung einer Insulinresistenz begünstigen [29].
Pathogenetische Mechanismen
Die Entwicklung von kindlichem Übergewicht und anderen Krankheitsdispositionen hängt in starkem Maße vom intrauterinen metabolischen Milieu ab. Sowohl intrauterine Mangelernährung als auch Überernährung, aber auch Rauchen [30] und psychische Faktoren wie Stress oder Depressivität führen zu Modifikationen des Epigenoms, die die Funktionsweise von Genen verändern und Auswirkungen haben auf die physiologische, strukturelle und metabolische Entwicklung sowie die des Immunsystems und des Verhaltens. Die besondere Sensibilität für diese Umgebungseinflüsse während bestimmter Entwicklungszeitfenster in der Schwangerschaft führt zu einer nachhaltigen, schützenden („Resilienz“, [31]) oder schädlichen Prägung physiologischer Mechanismen, die Auswirkungen bis weit ins spätere Leben haben.
Eine intrauterine Fehlprogrammierung begünstigt eine beschleunigte Zellalterung und beinhaltet ein pathogenes Potenzial im Hinblick auf die Entstehung von chronischen Krankheiten und die Karzinogenese. Die Wahrscheinlichkeit einer Krankheitsmanifestation ist umso höher, je stärker der präpathogene Zustand ausgeprägt ist und / oder je länger er besteht. Deshalb verschiebt sich bereits im Kindesalter das Krankheitsspektrum von akuten zu chronischen Erkrankungen [32]. Die Schwangerschaft ist ein Stressmodell sowohl für das kardiovaskuläre und metabolische System als auch für die Regulation immunologischer Prozesse, was bei bestehender Präpathologie zur Dekompensation, d.h. Krankheitsmanifestation führen kann [33]. Da eine Senkung des Alters der Gebärenden nicht realistisch erscheint, kommt der primären Prävention und Intervention eine entscheidende Bedeutung zu.
Protektive Faktoren
In einer prospektiven Kohortenstudie mit über 5.000 Erstgebärenden waren die Normalisierung des Gewichts, die Blutdrucksenkung oder der Verzicht auf Substanzmissbrauch im ersten Trimenon mit nachfolgenden gesunden Schwangerschaften assoziiert. Der dabei beobachtete Anstieg des Risikos für Komplikationen in Abhängigkeit vom Blutdruck auch innerhalb definierter Normgrenzen erklärt möglicherweise die zusätzliche Risikozunahme mit dem Lebensalter trotz „normaler“ RR-Werte [34].
Eine Teilauswertung der prospektiven Nurses‘ Health Study II konnte zeigen, dass ein gesunder Lebensstil (Nichtrauchen, 150 Minuten körperliche Aktivität pro Woche mittlerer bis starker Anstrengung, gesunde Ernährung, BMI < 25) mit einem signifikant reduzierten Risiko für Schwangerschaftsdiabetes einhergeht, das bei Beachtung aller vier Kriterien 83 % niedriger lag [35].
Ein entscheidender protektiver Faktor ist die körperliche Aktivität. Frauen, die am meisten körperlich aktiv sind, weisen die geringste Prävalenz an Gestationsdiabetes auf. Regelmäßige moderate körperliche Akivität vor und in der Schwangerschaft führt zu geringerer Gewichtszunahme der Mutter und zu einem geringeren Geburtsgewicht des Kindes, schützt vor Gestationshypertonie [36] und reduziert die Inzidenz von postpartaler Gewichtsretention. Körperliche Aktivität trägt zur Gewichtskonstanz bzw. -abnahme bei und verbessert die Risikofaktoren für kardiovaskuläre Erkrankungen. Das gilt auch für übergewichtige Frauen, unabhängig davon, ob ein Gewichtsverlust eintritt. Die Kinder körperlich aktiver Frauen weisen ein deutlich niedrigeres Risiko für das postnatale Catch-up-Wachstum auf, das chronische Erkrankungen im späteren Leben begünstigt [18].
Die WHO empfiehlt für Personen im Alter von 18 – 64 Jahren 150 Minuten körperliche Bewegung pro Woche. Dadurch lässt sich das Risiko senken, an chronischen Krankheiten wie Diabetes, koronarer Herzerkrankung, Hypertonie sowie Brust- oder Darmkrebs zu erkranken, die mit weltweit fünf Millionen Todesfällen pro Jahr in Verbindung gebracht werden und Kosten von mehr als 60 Milliarden Euro pro Jahr verursachen [37]. Laut aktuellen Studien sowohl der Techniker Krankenkasse („Beweg Dich, Deutschland“) als auch der Deutschen Krankenversicherung (DKV) sind jedoch immer mehr Bundesbürger von der „Pandemie der körperlichen Inaktivität“ [37] betroffen.
Das Stillen reduziert ab einer Dauer von drei Monaten bei Frauen mit Zustand nach Gestationsdiabetes das Risiko, an einem Diabetes mellitus Typ 2 zu erkranken, um 40 Prozent. Dieser Schutzeffekt hält bis zu 15 Jahre an und basiert auf einer günstigen Beeinflussung krankheitsrelevanter Stoffwechselpfade [38].
Prä- und interkonzeptionelle Gesundheits-
optimierung durch qualifizierte individuelle
präkonzeptionelle Beratung
Ein Konzept zur präkonzeptionellen Gesundheitsoptimierung umfasst ein ganzes Repertoire präventiv wirksamer Maßnahmen rund um die reproduktive Gesundheit, die sich an den vielfältigen Einflussfaktoren auf den prä- und interkonzeptionellen Gesundheitszustand orientieren (Tab. 3). Preconception Counseling verfolgt die Ziele der Fertilitätsprotektion, der Reduktion schwangerschaftsassoziierter Gesundheitsrisiken für Mutter und Kind sowie der schwangerschaftsunabhängigen Förderung der Frauengesundheit und besteht aus den Bausteinen
• Aufklärung/Information zu (modifizierbaren) Einflussfaktoren auf die reproduktive Gesundheit, die Chance auf (spätere) gesunde Schwangerschaft und Kinder
• Evaluation des Gesundheitszustandes
• Ermittlung potentieller Risikofaktoren und präpathologischer Befunde
• gezielte, der individuellen Situation angepasste Beratung / Gesundheitserziehung
• Motivation zu aktiver Prävention und rechtzeitiger primärer Intervention.
Die Gründung einer Familie ist für die meisten jungen Menschen ein essentieller Teil der Lebensplanung, die Option auf ein eigenes Kind ist ein starker Motivationsfaktor. In einer prospektiv randomisierten Studie konnte gezeigt werden, dass Frauen nach PCC einen besseren Wissensstand über wesentliche Aspekte der reproduktiven Gesundheit aufwiesen und signifikant häufiger ihr Verhalten positiv veränderten. Auch die Rate ungünstiger Schwangerschaftsverläufe sank signifikant [39]. Eine chinesische Studie an 1.012 Migrantinnen zeigte positive Effekte von PCC bezüglich der Häufigkeit der Folsäure-Prophylaxe und Inanspruchnahme einer besseren pränatalen Versorgung [40]. Eine Interventionsstudie für Frauen in prä- und interkonzeptionellen Lebensphasen zeigte in der Interventionsgruppe eine höhere Wahrscheinlichkeit für die Einnahme eines folsäurehaltigen Multivitaminpräparats, für einen niedrigeren BMI und eine geringere Gewichtszunahme in einer folgenden Schwangerschaft [41].
Trotz dieser ermutigenden Ergebnisse gibt es Hindernisse für die Umsetzung des Konzepts in der Praxis. Nur wenige Frauen suchen von sich aus präkonzeptionell ärztlichen Rat. Da pro Konsultation nur begrenzte Zeit zur Verfügung steht, kommt es zur Priorisierung anderer ärztlicher Maßnahmen, zumal die Beratung zu PCC besonders zeitaufwendig ist, aber nicht speziell vergütet wird. Außerdem gibt es bisher keine ausreichenden Informationsmaterialien und –möglichkeiten aus unabhängigen Quellen sowie kein standardisiertes Konzept [42].
Während Vorsorge-Untersuchungen Kinder und Jugendliche in kritischen Entwicklungsphasen begleiten (U1 bis J2) sowie Erwachsene bei der Prävention bzw. Früherkennung der wichtigsten „Volkskrankheiten“ (Gesundheitscheck ab 35 Jahren), klafft in der Zeit dazwischen eine Vorsorgelücke. In einer Lebensphase, die für die Frauengesundheit und die der nachfolgenden Generation(en) eine weichenstellende Bedeutung hat, fehlt in einer wichtigen Zielgruppe, die optimal durch das bereits beschlossene Einladungsprogramm zur Krebsfrüherkennungsuntersuchung erreicht werden könnte, eine präventionsorientierte Gesundheitsuntersuchung.
Disease Management-Programme (DMP), die vor zehn Jahren zur strukturierten Versorgung von Patienten mit chronischen Erkrankungen etabliert wurden, haben sich als erfolgreich erwiesen: die Patienten profitieren durch bessere Lebensqualität, weniger Komplikationen und eine höhere Gesundheitskompetenz, die Ärzte durch leistungsgerechte Honorierung und eine gewachsene Aufklärungskompetenz, beide durch eine verbesserte Kommunikation. Die Kostenträger werden nachweislich entlastet, u.a. durch Vermeidung stationärer Aufenthalte. Gleichzeitig können Aktualisierungen anhand von Leitlinien und neuen Forschungsergebnissen jederzeit in das bestehende Konzept aufgenommen werden, wie z.B. der am 21.06.2016 vom Gemeinsamen Bundesausschuss gerade beschlossene Zugang zu evaluierten Tabakentwöhnungsprogrammen für jeden rauchenden Teilnehmer am DMP COPD (chronisch-obstruktive Lungenerkrankung). DMP haben einen Paradigmenwechsel eingeleitet, weg von einer rein kurativen Zielsetzung hin zu präventiven Aspekten. In der Frauenheilkunde stellt die ärztliche Mutterschaftsvorsorge ein Managementprogramm dar, das mit der Fokussierung auf die Erkennung und Behandlung von Risiken ebenfalls präventiv ausgerichtet ist. In Anbetracht der immer längeren reproduktiven Zeitspanne und immer größerer prä- und interkonzeptioneller Zeiträume sowie der weitreichenden Bedeutung des präkonzeptionellen Gesundheitszustands für die Frau und ihre Nachkommen erscheint ein frei verfügbares, qualifiziertes ärztliches Gesundheitsmanagement nicht nur der Schwangerschaft, sondern der gesamten reproduktiven Lebensphase als Versorgungsstandard dringend geboten (Tab. 4). Gemäß dem Satz des Pythagoras von Samos „Die Gewohnheit macht dem Menschen die erworbene Weisheit zum Eigentum und gibt ihm Beständigkeit“ sollten von Anfang an gesunde Gewohnheiten gefördert und gesunde Entwicklungen gestärkt werden. Der Frau im reproduktiven Alter, die in Partnerschaft und Familie häufig die Funktion eines Gesundheitsguides übernimmt, kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Die vorhandene frauenärztliche Expertise sollte systematisch dazu genutzt werden, die Gesundheitskompetenz der Frau zu stärken. <<