Regionale Aspekte von Diagnose und orthopädischer Inanspruchnahme bei Rückenschmerzen
Dr. Dipl.-Geogr. Boris Kauhl / Prof. Dr. rer. nat. Jürgen Schweikart / Dipl.-Kffr. Andrea Keste / Jörg LL.B. König / Dipl.-Kffr. Marita Moskwyn
Rückenschmerzen gehören sowohl national als auch international zu den am häufigsten gestellten Diagnosen. Etwa 85% der Bevölkerung sind mindestens einmal in ihrem Leben von Rückenschmerzen betroffen (Schmidt et al. 2007). Unter den Versicherten der AOK, Barmer und der DAK sind Rückenschmerzen die Diagnose mit den meisten Arbeitsunfähigkeitstagen (WIdO 2011; Hrsg. 2010; Forschung 2011; Raspe 2012). Im Gesundheitssystem entstehen durch Rückenschmerzen beträchtliche Kosten, die auf etwa 49 Mrd. Euro pro Jahr beziffert werden (Kuntz et al. 2017; Wenig et al. 2009). Aufgrund der Häufigkeit von Rückenschmerzen sind sie in Deutschland die bedeutendste Ursache für verlorene Lebensjahre (Plass et al. 2014). Abhängig von der jeweiligen Datengrundlage geht man in Deutschland von einer Prävalenz von 32 – 49% aus (Raspe 2012). Die demographischen, sozioökonomischen und biologischen Einflussfaktoren von Rückenschmerzen sind mittlerweile gut erforscht. Sowohl nationale als auch internationale Studien konnten zeigen, dass Rückenschmerzen insgesamt betrachtet häufiger bei Frauen, älteren Personen und Bevölkerungsgruppen mit niedrigem sozioökonomischem Status auftreten (Kuntz et al. 2017). Ebenso sind regionale Unterschiede in der Operationshäufigkeit bei verschiedenen Indikationen wie Arthrose und Bandscheibenschäden mittlerweile gut untersucht. Im Ergebnis zeigt sich, dass in Regionen mit hoher Orthopädendichte eher konservativ behandelt wird, während in Regionen mit geringer Orthopädendichte tendenziell eher schneller operiert wird (Schäfer, Pritzkuleit, Hannemann et al. 2013; Schäfer, Pritzkuleit, Jeszenszky et al. 2013; Pollmanns, Wesermann, and Drösler 2018).
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Erstveröffentlichungsdatum: 08.10.2020
Abstrakt: Regionale Aspekte von Diagnose und orthopädischer Inanspruchnahme bei Rückenschmerzen
Rückenschmerzen gehören in Deutschland zu den häufigsten Diagnosen und stellen die häufigste Ursache für Arbeitsunfähigkeitstage dar. Zwar existieren Studien zur regionalen Verteilung operativer Maßnahmen bei muskuloskelettalen Erkrankungen und den jeweiligen Einflussfaktoren, über das regionalspezifische Diagnose- und Inanspruchnahmeverhalten orthopädischer Leistungen bei Rückenschmerzen ist bisher allerdings wenig bekannt. Unser Beitrag möchte diese Lücke schließen und die regionale Verteilung diagnostizierter Rückenschmerzen und der dazugehörigen orthopädischen Behandlungsquote auf kleinräumiger Ebene betrachten. Insgesamt werden Rückenschmerzen vor allem bei Frauen, älteren Versicherten, arbeitslosen Versicherten, Versicherten mit ausländischer Staatsbürgerschaft und Versicherten mit vorliegender Adipositas diagnostiziert. Die Ergebnisse der regionalisierten Regressionsmodelle zeigen auf, dass zwischen den Regionen erhebliche Unterschiede in der Stärke des Zusammenhangs zu den jeweiligen Einflussfaktoren bestehen. Zusätzlich bestätigen unsere Ergebnisse, dass in Regionen mit höherer Orthopädendichte, Orthopäden eher in Anspruch genommen werden. Unsere Analyse legt damit einen Grundstein, die orthopädische Versorgung für Rückenschmerzen noch genauer an die jeweiligen Risiko- und Nutzergruppen anzupassen. Gleichzeitig verdeutlicht diese Analyse den Nutzen regionalisierter Analyseverfahren für die Versorgungsforschung.
Abstract: Regional aspects of diagnosis and orthopedic healthcare utilization for back pain
Back pain belongs to the most frequent diagnosed conditions in Germany and is the leading cause of incapacity to work. Although studies for the regional distribution of surgeries for muscosceletal illnesses and their associated predictors exist, little is known about influencing factors for region-specific diagnosis and utilization of orthopedics for back pain. Our study aims to address this research gap and seeks to examine regional differences of diagnosed back pain and the associated utilization of orthopedics. Back pain is mainly diagnosed in females, older age groups, unemployed insurants, insurants with foreign citizenship and insurants with diagnosed adiposity. The results of our regionalized regression model point out that there are important regional variations in the strength of association of some predictors for diagnosis and utilization of orthopedics. Additionally, our results confirm that utilization of orthopedics strongly depend upon their regional availability. Our analysis thus provides a basis to further align the planning of orthopedics to the demand of the respective risk and user groups. Moreover, our analysis demonstrates the additional benefit of regionalized analysis for healthcare research.
Literatur
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