Der Gesundheitspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Jens Spahn, hat im Dezember letzten Jahres 14 Vorschläge für eine Reform der medizinischen Versorgung in Deutschland vorgelegt. Das Papier beruht auf einer Klausurtagung der Arbeitsgemeinschaft Gesundheit der CDU im März 2010 im westfälischen Gronau und auf einem Papier der CSU unter Federführung von Johannes Singhammer und Max Straubinger. Damit wurde die Diskussion um die Eckpunkte der Regierungskoalition für das GKV-Versorgungsgesetz (GKV-VG) eröffnet.
>> Im Januar 2011 erschien aus der Reihe WISO-Diskurs der Friedrich-Ebert-Stiftung eine Studie unter Federführung von Prof. Gerd Glaeske mit dem Titel: „Patientenorientierung in der medizinischen Versorgung - Vorschläge zur notwendigen Weiterentwicklung und Umgestaltung unseres Gesundheitswesens.“
Beide Publikationen gehen somit davon aus,
• dass die medizinische Versorgung weiter verbessert werden muss,
• dass dabei das Angebot der Leistungen vom Bedarf des Patienten her gestaltet werden sollte
• und es werden dazu aus der sektoralen Sicht des jeweiligen politischen Lagers Vorschläge gemacht, die teils in gleiche und teils in unterschiedliche Richtungen gehen.
Das CDU-Papier geht davon aus, dass es stark von subjektiven Erwägungen abhänge, was im Gesundheitswesen als bedarfsgerecht anzusehen sei. Es geht in diesem Zusammenhang auf die regional stark unterschiedliche Ärztedichte insbesondere im hausärztlichen Versorgungsbereich ein.
Zur Lösung des Problems wird ein Abbau von Überversorgung und Fehlsteuerung sowie die Einführung einer kleinräumigeren Bedarfsplanung angesehen. Die Kooperation von niedergelassenen Ärzten und Krankenhäusern soll verbessert werden, die Struktur der medizinischen Versorgungszentren unter Stärkung des ärztlichen Einflusses weiterentwickelt werden, der Arztberuf soll durch Erleichterung der Wirtschaftlichkeitskontrolle bei der Arzneiverordnung und durch Abbau der Mengenrabatte bei der Vergütung attraktiver gemacht werden. Zur Förderung des Nachwuchses werden umfangreiche Änderungen im Studium und Weiterbildung vorgeschlagen, die unter anderem Vorteile für jene Ärztinnen und Ärzte versprechen, die sich später auf dem Land niederlassen.
Der Einfluss der Hausärzte soll in den Kassenärztlichen Vereinigungen durch ein eigenständiges Vorschlagsrecht für die Wahl eines hausärztlichen Vorstandsmitglieds gestärkt werden.
Die Wettbewerbsförderung im Gesundheitswesen durch eine eigene Rechtsgrundlage für Selektivverträge, wie sie von der Großen Koalition in der letzten Legislaturperiode eingeführt wurde, soll überprüft werden und wird in der Tendenz durch die CDU wesentlich kritischer gesehen als das zu Zeiten der Großen Koalition der Fall war.
Der im Titel des 14-Punkte-Papiers versprochene Ansatz, das System vom Bedarf des Patienten herzugestalten, findet seinen Niederschlag in der Absicht, Wartezeiten auf Facharzttermine zu verkürzen. Dies sollen die Krankenkassen und die Kassenärztliche Vereinigungen sicherstellen. Von den Krankenhäusern wird verlangt, dass „die immer noch vorhandenen 4-Bett-Zimmer für gesetzlich Krankenversicherte in Krankenhäusern der Vergangenheit angehören.“
Es soll nicht bestritten werden, dass viele Patientinnen und Patienten eine solche Entwicklung begrüßen würden. Aber sind Zieldeklamationen von Seiten der Politik an die Adresse der Leistungserbringer schon „politische Gestaltung vom Bedarf des Patienten“? Es handelt sich hier wohl eher um opportunistische Versprechungen und positive Zukunftsszenarien an die Adresse der Wählerinnen und Wähler.
Im Januar 2011 hat der gesundheitspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Prof. Dr. Karl Lauterbach, eine analoge Aktion gestartet. Er will Ärzte, die ihre Patienten über Gebühr lange auf einen Termin warten lassen, mit einem Strafgeld belegen. Dabei hat er offensichtlich übersehen, dass es in der berufsrechtlichen Aufsicht der Ärztekammern über die Ärzte solche Strafgelder längst gibt, beispielsweise dann, wenn Gutachten zu spät abgegeben werden oder wenn Verstöße gegen die Berufsordnung mit Strafgeldern belegt werden. Letzteres ist prinzipiell auch dann möglich, wenn die Wartezeiten berufsunwürdig gestaltet werden.
Politische Aktionen, die vorgeben, vom Bedarf des Patienten auszugehen, sollten letzteren zunächst definieren. Und wenn schon erkannt ist - und das ist im CDU-Papier der Fall - dass objektiv messbare Bedarfe und subjektive Bedürfnisse sorgfältig unterschieden werden müssen, dann könnte man über die politischen Konsequenzen sprechen, ohne dass es zu Missverständnissen kommt.
Die Glaeske-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung baut auf die Mitarbeit des Autors im Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen in den Jahren 2003 bis 2009 auf. Mitglieder des Sachverständigenrates waren in dieser Zeit: M. Haubitz, A. Kuhlmey, F. M. Gerlach, M. Schrappe, R. Rosenbrock und E. Wille.
Die Studie enthält selektiv eine Vielzahl von analytischem Material, welches von dem genannten Autorenkreis (der in der Studie auch zitiert wird) erarbeitet worden ist und zwar zu den demografischen Veränderungen, zu den alters- und geschlechtsspezifischen Ausgabenprofilen in der GKV, zum Versorgungsbedarf von Kindern und Jugendlichen und der Krankheitsentwicklung in diesem Altersabschnitt, zur Entwicklung der chronischen Erkrankungen, zu altersspezifischen Veränderungen und ihrem Einfluss auf die Pharmako-Therapie, zur Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln etc. Der zukünftige Versorgungsbedarf lässt sich durch Darstellung von Über-, Unter- und Fehlversorgungstatbeständen auf der Grundlage solcher Zahlenwerke ganz ohne Zweifel besser bestimmen. Aber ist dadurch bereits das Ziel einer Patientenorientierung in der medizinischen Versorgung erreicht?
Übernimmt sich die Politik?
Die Frage stellt sich, ob sich die Politik nicht sogar übernimmt, wenn sie Patientenorientierung für sich in Anspruch nimmt? Natürlich: Die Politik kann bei der Gestaltung von Gesundheitssystemen immer eine Vielzahl von Zielen ins Auge fassen. Sie kann den Zugang der Patienten zum System verbessern, für Kontinuität, Komprehensivität, Wirtschaftlichkeit, Bezahlbarkeit, Qualität und Transparenz der Versorgung die Grundlage schaffen. Sie kann Solidarität, das Subsidiaritätsprinzip, Bürger- und Patientenbeteiligung sowie Verbraucherschutz und Autonomie ins Auge fassen. Sie kann eine evidenzbasierte Medizin anstreben und den Wettbewerb fördern.
Doch Patientenorientierung hat (wie es das CDU-Papier im Übrigen zutreffend feststellt) eine starke subjektive Komponente und die ist politisch kaum beeinflussbar. Hier kann die Politik allenfalls Schutzräume für die Beziehung zwischen Pflegebefohlenen und Pflegekräften, Patienten und Ärzten etc. schaffen, in denen sich diese Beziehungen mit ihrem subjektiven Anteil entfalten können. Für die Qualität der Versorgung und für deren Effektivität und Wirtschaftlichkeit ist die Entfaltungsmöglichkeit dieser subjektiven Komponente in einer Versorgungsbeziehung allerdings ebenso wichtig, wie es anerkanntermaßen die objektiven Aspekte der evidenzbasierten Medizin sind.
Dies gilt auch für den Wettbewerb, der immer auch subjektive Komponenten hat, die in den politischen Papieren nicht hinreichend zum Ausdruck kommen, ganz gleich, aus welchem politischen Lager diese nun stammen.
Die wichtigste Wettbewerbsebene im Gesundheitswesen findet innerhalb der Krankenkassen zwischen gesunden und kranken Versicherten, den so genannten Patienten selbst statt. Etwa 80 % der Ausgaben in der GKV werden für 20 % der Versicherten im Patientenstatus getätigt. Gesunde Versicherte verhalten sich aber anders als kranke. Sie wechseln bei höherem Zusatzbeitrag die Krankenkasse, wie es die DAK gerade im Jahr 2010 erlebt hat, als sie über eine halbe Million Versicherte verlor. Allgemein gilt eben: Kranke Versicherte wollen eine optimale Versorgung, gesunde Versicherte hingegen einen möglichst günstigen Beitrag.
Interessen gibt es nicht nur bei den Leistungserbringern, sondern auch auf der Seite der Versicherten. Eine Politik, die Patientenorientierung für sich in Anspruch nimmt, muss sich mit der Mehrheit der GKV-Versicherten und damit der Wähler auseinandersetzen und dabei die Frage klären, wieviel Geld der gesunden Versicherten für eine Verbesserung der Versorgung der Kranken und damit für Patientenorientierung ausgegeben werden darf.
Es sei in diesem Zusammenhang an die Feststellung von Herder-Dorneich erinnert (Phillip Herder-Dorneich: „Die Kostenexpansion und ihre Steuerung im Gesundheitswesen“, Deutscher Ärzteverlag Köln, 1976), der bereits 1976 feststellte, dass sich Patienten und Ärzte gleichermaßen in einer „Rationalitätenfalle“ befinden. Patienten, die einen hohen Krankenversicherungsbeitrag zahlen, verhalten sich im Sinne ihrer persönlichen Ökonomie unvernünftig, wenn sie hierfür keine Leistung in Anspruch nehmen. Verhalten sie sich aber in ihrem Sinne vernünftig und nehmen sie alles an Leistungen in Anspruch, was das System hergibt, dann schädigen sie das Kollektiv. Indem sie ihre eigenen Ansprüche rational und legitim verfolgen, stellen sie aus der Sicht der Gesellschaft nicht legitime oder sogar nicht legale Ansprüche und verstoßen dadurch gegen kollektive Interessen und moralische Ansprüche.
Das ökonomische Ziel der Gesellschaft ist darauf gerichtet, mit möglichst wenig Geld möglichst viele Gesundheitsleistungen der so genannten Leistungserbringer einzukaufen. Die persönliche Ökonomie des Arztes besteht demgegenüber darin, seinen Umsatz zu mehren, weil dies eine der Voraussetzungen nicht nur für optimale betriebswirtschaftliche, sondern auch medizinische Ergebnisse einer Praxis ist. Entweder kann er dann bei konstanten Kosten den Gewinn erhöhen oder trotz steigender Kosten Geräte besser auslasten und auf diese Weise den Gewinn maximieren.
Gesucht ist für die nächste und die wahrscheinlich dann auch noch weiter folgenden Gesundheitsreformen ein ressourcenschonendes Kontrollsystem, welches nicht nur die Gewinne der industriellen Leistungserbringer und der Pharmaindustrie im Auge hat. Da geschieht schon vieles. Der Wettbewerb zwischen zahlungsverpflichteten gesunden Versicherten, versorgungsbedürftigen Kranken, zwischen machtbewussten Politikern, die dem Volk Leistungen versprechen, die dann alle Steuerzahler und Beitragszahler in der Gesellschaft erarbeiten müssen, ist hingegen bisher kaum kontrolliert. Hier sollte sowohl die Versorgungsforschung als auch die politische Diskussion ansetzen. <<
von: Professor Dr. med. Klaus-Dieter Kossow