Stand der Gesundheitsreform in den USA
Bestandsaufnahme nach dem „stimulus package“
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Erstveröffentlichungsdatum: 01.08.2009
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Bestandsaufnahme nach dem „stimulus package“
Präsident Obama und die Demokraten wollen ein großes Gesetzespaket zur Reform des amerikanischen Gesundheitssystems noch im Herbst 2009 verabschieden. Kein Wunder, dass die Politiker handeln wollen: 46 Millionen US-Amerikaner sind nicht versichert und durch die anhaltende Kostenexplosion im Gesundheitswesen werden es täglich mehr; die Projektionen für die öffentlich finanzierten Gesundheitsleistungen für Rentner und sozial Schwache sagen in wenigen Jahren leere Kassen voraus; und die internationale Wettbewerbsfähigkeit der amerikanischen Arbeitgeber, die ihren Arbeitnehmern und deren Familien Versicherungsschutz bieten, steht durch die Kosteninflation unter enormem Druck. Obamas Berater – allen voran der Director des Office of Management & Budget Peter Orzag – weisen immer wieder darauf hin, dass die Kostenentwicklung im Gesundheitssystem die größte Gefahr für die Kreditwürdigkeit und die Wirtschaftskraft der USA ist.
>> Anders als Clinton will Obama nicht den Fehler machen, ein so immens komplexes Reformvorhaben im „Geheimen“ vorzubereiten, um es dann Kongress und Öffentlichkeit en bloc mit allen zu Anfang noch vorhandenen Schönheitsfehlern vorzustellen und so Angriffsflächen zu bieten. Dieses Vorgehen geriet Hillary Clinton und ihrem Mann 1993 zum Fiasko. Stattdessen überlässt Obama es bislang seinen Parteikollegen in Abgeordnetenhaus und Senat, die Details der Reform auszuarbeiten. Seine Vorgabe lautet lediglich: Alle Amerikaner sollen Versicherungsschutz genießen und die Reformen müssen ohne neue öffentliche Kredite finanzierbar sein.
Eines scheint dabei allen klar zu sein: Mehr Versicherte auf das teuerste Gesundheitssystem der Welt loszulassen, ohne gleichzeitig die Versorgung zu reformieren, macht die Problemlage nur schlimmer. Aus diesem Grunde wird an mehreren Fronten gleichzeitig gearbeitet: Ausweitung, Reform und Finanzierung des Versicherungsschutzes, Verbreitung und Nutzen von Health Information Technology, Installierung eines stärker ergebnisorientierten Vergütungssystems und viele andere verwandte Pläne.
Eine Reihe von großen Vorhaben ist bereits im Frühling im „stimulus package“ verabschiedet worden. 40 Milliarden US$ sind für Verbreitung und Nutzung von Interoperable Health Information Technology durch Ärzte und Krankenhäuser vorgesehen. Gleichzeitig sind 4 Milliarden US$ bereitgestellt worden, um Comparative Effectiveness Research fest zu etablieren. Das Department for Health and Human Services (Gesundheitsministerium) unter der neuen Ministerin Kathleen Sebelius hat die Aufgabe bekommen, diese grob definierten Vorgaben im einzelnen umzusetzen. Viele Details sind immer noch offen und werden erst in den nächsten Monaten bekannt gegeben.
Ein Beispiel für die Komplexität des Reformgesetzes und für die verschiedenen Zuständigkeiten ist: Im Kongress arbeiten fünf verschiedene Komitees an verschiedenen Gesetzesvorlagen: drei im Abgeordnetenhaus und zwei im Senat. Das Congressional Budget Office, das unabhängige Kostenschätzungen von Gesetzesvorhaben vorlegt, hat die erste Gesetzesvorlage des Health Education, Labor and Pension Commitee des Senats bewertet und einen Schock ausgelöst: In den nächsten 10 Jahren würde die Umsetzung 1,6 Billionen US$ kosten – 50 % mehr als von Obama vorgegeben.
Es wird erwartet, dass die Ende Juni vorgestellte gemeinsame Vorlage der drei Komitees des Abgeordnetenhauses die Kostengrenze ebenso klar verletzen wird. Das einflussreiche Senate Finance Commitee, in dessen Zuständigkeit die teuren öffentlich finanzierten Medicare- und Medicaid-Programme fallen, hat daraufhin seinen ebenfalls erwarteten Gesetzesentwurf lieber zurückgezogen und überarbeit ihn gründlich, um innerhalb der vom Präsidenten vorgegeben Kostengrenzen zu bleiben: 1 Billion US$ über 10 Jahre verteilt.
Obwohl sie den Gesetzentwurf auch allein durchbringen könnten, hoffen die Demokraten, die Gesundheitsreform nicht nur mit den eigenen Stimmen zu verabschieden. Darum wird ein partei-
übergreifender Kompromiss gesucht, um dieses enorme Paket auch einer skeptischen Öffentlichkeit besser verkaufen zu können. Im Moment droht Obama den Republikanern noch, das Paket bis zum Herbst auch ohne ihre Stimmen durchzubringen. Die beste Chance, einen Durchbruch zu erzielen, besteht zurzeit im Senate Finance Commitee. Dessen Vorsitzender, Senator Baucus und sein republikanischer Kollege Senator Grassley haben ein hervorragendes Arbeitsverhälthnis und gelten als Freunde und Pragmatiker, die die historische Möglichkeit erkennen, durch eine „weise“ Kompromissfindung grundlegende Veränderungen vornehmen zu können.
Der Präsident erwartet von allen Beteiligten Kosteneinsparungen – allein Zahlungen an Krankenhäuser und health plans (i.w.S. Krankenkassen) durch Medicare und Medicaid sollen um beinahe 400 Milliarden US$ zurückgefahren werden. Gleichzeitig sucht man nach weiteren Einnahmen, indem bislang steuerfrei angebotene Versicherungsleistungen mit Lohn- und Einkommenssteuer belastet werden sollen (u.a. um Versicherte sensibler für Kostenunterschiede zu machen und wirtschaftlich rationales Verhalten zu verstärken) und die Steuerabzugsfähighkeit von bestimmten Arten (z.B. Steuerabzugsgrenzen bei Spenden für gemeinnützige Zwecke) zu beschränken. Die Regierung kalkuliert offenbar ein, dass man allen Beteiligten finanziell weh tun muss, um die Finanzierbarkeit dieser Reformen zu erreichen, auch wenn vor allem Krankenhäuser, health plans und die Pharmaindustrie „bluten“ sollen.
Als Wegweiser für eine mögliche zukünftige Kompromisslösung mag der kürzlich erschienene Bericht des Bi-Partisan Policy Centers gelten*, der von prominenten Ex-Senatoren (Daschle, Mitchell, Dole und Baker) vorgelegt wurde und einen voll finanzierten Kompromissvorschlag vorlegt, der alle Vorgaben Obamas zu erfüllen scheint. Es werden sicherlich noch einige Wochen verstreichen bis ein derartiger Kompromiss auch im Kongress gefunden wird. Die Regierung hofft, vor den langen Ferien im August, über die wesentlichen Punkte einig zu sein. <<
von: Dr. Joachim Roski*