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Start der Umsetzung der KSV-Psych-Richtlinie

Sozialpsychiatrie in der ambulanten psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung

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Erstveröffentlichungsdatum: 02.04.2023

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Schon seit Beginn der ersten Dekade dieses Jahrhunderts fordern die internationalen Organisationen wie die Weltgesundheitsorganisation 2001 (1), die Europäische Konferenz der Gesundheitsminister (Helsinki 2005) (2) und wissenschaftliche Gremien wie der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (2009) (3) unisono, dass psychiatrische Versorgung multiprofessionell, patientenzentriert, lebensumfeldorientiert, sektorübergreifend, flexibel und koordiniert gestaltet und organisiert werden müsse. Mit der zum 4. Quartal 2022 gestarteten Versorgung gemäß der KSV-Psych-Richtlinie (KSV für Koordinierte Strukturierte Versorgung) in der vertragsärztlichen Versorgung ist in Deutschland jetzt ein großer Schritt zur Realisierung der vorgenannten Forderungen gemacht worden.

Nach langem Ringen hatte der G-BA (Gemeinsamer Bundesausschuss) im Dezember 2021 den vom Gesetzgeber 2019 neu ins SGB V aufgenommenen § 92 Absatz 6b zur berufsgruppenübergreifenden, koordinierten und strukturierten Versorgung insbesondere für schwer psychisch kranke Versicherte mit komplexem psychiatrischen oder psychotherapeutischen Behandlungsbedarf mit einer Richtlinie konkretisiert und im Weiteren auch mit Honoraren unterlegt. Zum 1.10.22 konnte die Richtlinie somit - lang erwartet – Einzug in die psychiatrische und psychotherapeutische Alltagspraxis halten. So konnten sich bereits im 4. Quartal 88 Patient:innen im Netz der PIBB (Psychiatrie Initiative Berlin Brandenburg), dem eine Vorreiterfunktion zukommt, in dieses neue Versorgungsmodell einschreiben.
Psychiater Dr. Michael Krebs, Geschäftsführer der PIBB, sagt hierzu: „Aufgrund langjähriger Vorarbeit wurde das Berliner PIBB-Netz bereits 2014 als Praxisnetz nach § 87b SGB V zertifiziert; daher konnten in relativ kurzer Zeit auch die formalen Voraussetzungen für den Start der ambulanten Komplexversorgung gemäß der KSV-RiLi im Netzverbund geschaffen werden.“ Seit 2006 konnte die PIBB mitsamt ihrer organisatorischen Basisorganisation, dem „Verein für Psychiatrie und seelische Gesundheit“, umfangreiche Versorgungserfahrung im Netzverbund gewinnen. Die enge Netzkooperation der Fachärzt:innen mit den anderen Leistungserbringern und die daraus resultierenden persönlichen Verbindungen in der multiprofessionellen und sektorübergreifenden Versorgung waren – so Michael Krebs – maßgeblich für den Start der KSV im 4. Quartal. So haben sich bereits 50 Berliner Nervenärzt:innen, Psychiater:innen, Psychotherapeut:innen, Ergotherapeut:innen, Soziotherapeut:innen und auch mehrere Berliner Kliniken vertraglich zur Mitwirkung an der Versorgung gemäß der KSV-Psych-Richtlinie im PIBB-Vertrag bereit erklärt.

Vorgeschichte
Die KSV-Psych-RiLi und das zugrunde liegende Gesetz stehen in der Traditionslinie des mit der Psychiatrie-Enquete von 1975 dramatisch begonnenen Reformprozesses der psychiatrischen Versorgung in Deutschland. Waren es in den ersten Jahrzehnten die Auflösung der Großkliniken, die Regionalisierung stationärer psychiatrischer Versorgung (an den Allgemeinkrankenhäusern) und der Aufbau alternativer teilstationärer Behandlungs-, Wohn- und Beschäftigungs-/Arbeitsstrukturen, so ist seit Ende der 90er Jahre sukzessiv auch im ambulanten und SGB-V-finanzierten ambulanten Versorgungssektor eine wesentliche qualitative und quantitative Neuorientierung in Gang gekommen. Ein besonderes Merkmal der Post-Psychiatrie-Ära war eine deutliche Veränderung im wissenschaftlichen Verständnis psychischer Erkrankungen von einer rein biologischen Sicht hin zu einem differenzierten bio-psycho-sozialen Krankheitsmodell. Allerdings stand hier mit dem Psychotherapeutengesetz (1999) zunächst die umfängliche Versorgung der Bevölkerung mit Psychotherapie und psycho-somatischer Medizin im Vordergrund; die etwa zeitgleich in das Leistungsangebot des SGB V aufgenommene Soziotherapie führte jedoch aufgrund einer anwendungsaversiven Richtlinie wie mangelnder Ressourcenbereitstellung seitens der Krankenkassen langjährig ein Schattendasein. Zudem führte die Unterfinanzierung der ambulanten Psychiatrie mit Leistungsbudgetierung und Medikamentenregressen bei den niedergelassenen Nervenärzt:innen, Psychiater:innen, Psychosomatiker:innen, Psychotherapeut:innen zu einer Versorgungs-
asymmetrie zugunsten der besser honorierten Psychotherapie oder auch der zunehmend technisch ausgerichteten Neurologie. Auf der Strecke blieb die Versorgung psychisch schwer Erkrankter mit komplexem Hilfebedarf, wie sie zum Beispiel nach stationärem Aufenthalt oder zu dessen Vermeidung erforderlich ist. Zur Geschichte der Psychiatriereform in Deutschland sei hingewiesen u. a. auf Reumschüssel-Wienert (4).

Innovative Versorgungsmodelle seit 2006
Die perspektivisch relevante Gegenbewegung setzte dann ab 2005 ein: nach Maßgabe der Gesetzgebung zur „integrierten Versorgung“ (2005), später „speziellen fachärztlichen Versorgung“, wurden erstmals neuartige Versorgungsverträge abseits bisheriger Regelversorgung möglich. Deren Ziel war die verbesserte, berufs- und sektorenübergreifende Versorgung der Patient:innen mit einer schweren Erkrankung (severe mental illness, SMI); adressiert waren damit insbesondere schizophren, affektiv, auch hirnorganisch Erkrankte sowie Patient:innen mit schweren Angst-/Zwangs-/Persönlichkeitsstörungen. Die parallele Einführung der ambulanten häuslichen Krankenpflege (pHKP) in 2006 und die in der „Integrierten Versorgung“ besser honorierte und weniger indikationsrestriktive Soziotherapie machten nun erstmalig eine Ausrichtung der Behandlungen auf die besonders vulnerable Gruppe psychisch schwer Erkrankter möglich.
Durch diese Maßnahmen bot sich der wachsenden Anzahl der Fachärzt:innen ein differenzialtherapeutisches Angebot, das so wenige Jahrzehnte zuvor noch nicht vorstellbar war. Dem bio-psycho-sozialen Verursachungsmodell psychischer Erkrankung stand nun erstmals ein strukturiertes bio-psycho-soziales Behandlungskonzept gegenüber mit Vernetzung und Aufwertung originär medizinischer und sozialpsychiatrischer Behandlung wie der Berücksichtigung psychotherapeutischer Bedarfe schwer Erkrankter, das wesentlich durch den Einbezug des sozialen Umfeldes mit der Soziotherapie und der aufsuchenden häuslichen psychia-trischen Krankenpflege ergänzt wurde. Und mit der sich psychiatrisch spezialisierenden Ergotherapie kam auch ein weniger verbal-zentrierter, eher kreativ-handwerklicher und doch interaktionell- und ressourcenorientierter Behandlungsansatz zur Anwendung.
Diese Möglichkeiten standen je nach Region und vor allem Krankenkassenzugehörigkeit jedoch höchst unterschiedlich und nur begrenzten Personenkreisen zur Verfügung. Quantitativ umfangreiche Angebote gab es in Berlin, mit gewissen Abstrichen auch in Brandenburg, wo durch die PIBB dieses Angebot auch mit Unterstützung aus den Kliniken aufgebaut und organisiert wurde. Ähnliche Modelle wurden in Niedersachsen und anderen Regionen mit führender Beteiligung vor allem der AOKen, der DAK und der BKK realisiert. Eine andere Konzeption lag dem von der TKK in vielen Bundesländern praktizierten Modell zugrunde, bei dem psychosoziale Träger vorgeschaltet und weitgehend unabhängig von Kliniken und niedergelassenen Psychiater:innen die Versorgung resp. die Versorgungssteuerung übertragen wurde. Gefördert durch Mittel des Innovationsfonds schließlich wurde im Bereich der KV Nordrhein durch den „Netzverbund zur Verbesserung der neurologischen, psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung“ (NPPV) ein stark auf digitaler Vernetzung aufbauendes Versorgungsmodell erprobt.
Der neuen KSV-Psych-Richtlinie gehen somit umfangreiche Erfahrungen (positive wie negative) mit innovativen Versorgungsmodellen in den letzten 15 Jahren voraus, die auch in den Beratungen des G-BA (Gemeinsamer Bundesausschuss) zur KSV-Psych-RiLi reflektiert wurden. Die aus diesen Vorläufermodellen gewonnenen Erfahrungen wurden bei der Konzeptionierung der neuen vernetzten, „berufsgruppenübergreifenden, strukturierten und koordinierten Versorgung insbesondere für schwer psychisch kranke Versicherte mit komplexem psychiatrischen oder psychotherapeutischen Behandlungsbedarf“ berücksichtigt. Weiterführende Literatur und Übersichten hierzu finden sich unter (5) und (6).
Die Ziele der KSV-Psych-Richtlinie sind mit Bezug auf die seit Langem auf breiter Ebene fachlich erhobenen und eingangs genannten Forderungen nachfolgend zusammengefasst:
• Ressourcenfokussierung auf die Gruppe schwer psychisch Erkrankter (Severe mental illness-Population)
• Zeitnahe Diagnostik und Therapiemöglichkeit
• patientenindividuelle und differentialtherapeutische Behandlung
• Behandlung im Lebensumfeld
• Vermeidung und Verkürzung stationärer Aufenthalte
• Verbesserte Kooperation zwischen Kliniken und ambulantem Bereich
• Koordination der Versorgung und ggf. Überleitung in die Regelversorgung
• leitliniengerechte Behandlung
• Erstellung eines Gesamtbehandlungsplanes mit expliziter Berücksichtigung von Patienten-Präferenzen
• Behandlungsleitung durch Bezugsarzt/-ärztin/-therapeut:in
• Versorgungskoordination im Netzverbund
• Einbezug von Leistungserbringern außerhalb SGB V und Erleichterung der Kooperation

Abseits der im Vordergrund stehenden Modalitäten (Bezugs:ärztin/therapeut:in, koordinierte Behandlung im Netzverbund, weites differentialdiagnostisches Behandlungsspektrum, Klinik-Kooperation) seien zwei Detailregelungen jedoch als weitere bemerkenswerte Innovation hervorgehoben: Psychiatrische Patient:innen können jetzt ihren Willen für die Eventualitäten einer Krise oder eines Krankheitsrezidives vorab im Gesamtbehandlungsplan und damit maßgeblich bekunden; dies ist eine Patientenforderung seit vielen Jahrzehnten. Auch der Schritt zum Einbezug von Leistungserbringern anderer Rechtskreise (wie psychosoziale Träger oder Flüchtlingsberatungsstellen) in die Versorgungsorganisation ist als sehr wertvoll anzusehen und sollte sicher ausgebaut werden.
Auch für Bernhard Gibis von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) setzt die KSV-Psych-Richtlinie „neue Maßstäbe“, da das Zusammenwirken von mehreren Gesundheitsberufen, einem hohen Erfahrungsgrad und anspruchsvoller Kooperation in einem ärztlich oder psychotherapeutisch geleiteten Team bislang in der Zulassung und im EBM nicht abgebildet sei und darüber hinaus könnte „Die KSV-Psych-Richtlinie … eine Blaupause für andere Krankheiten werden“ (7).

Weitergehender Prozess und Zusammenfassung
Natürlich ist auch mit dem neuen SGB-V-Paragrafen 92 Absatz 6b und der KSV-Psych-Richtlinie die weitere Entwicklung der psychiatrischen Versorgung nicht abgeschlossen. Handwerkliche Nachjustierungen der Richtlinie wie die bremsende Begrenzung der Bezugsarzt-/Therapeuten-Tätigkeit auf sogenannte Vollstellen, die für ländliche Regionen kaum erfüllbare Vorgabe von mindestens 10 Fachärzt:innen oder Psychotherapeut:innen und auch verbesserungsbedürftige Regelungen für die Psychotherapeuten sollten zeitnah und vorab langzeitiger Evaluationen ermöglicht werden. Auf keinen Fall sollte sich das Negativbeispiel der Soziotherapie wiederholen, die nach bahnbrechender Aufnahme in das gesetzliche Leistungsangebot dann aufgrund hemmender Detailregelungen 15 Jahre nur ein Schattendasein führte. Die Weiterentwicklung hinsichtlich der intersektoralen Kooperation zwischen den Kliniken und dem wachsenden ambulanten Sektor und nicht zuletzt der Einbezug von Betroffenen (Peers) und Angehörigen in die Versorgungsstrukturen dürften noch weiter langen Atem erfordern.
Dessen ungeachtet: Die jetzige RiLi ist ein Durchbruch zu mehr Flexibilität, Vernetzung und Patientenorientiertheit; es ist der langerwartete Einzug der Sozialpsychiatrie in die psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung aller gesetzlich Versicherten in Deutschland. Nun kommt es darauf an, die RiLi als Chance zu begreifen und mit Leben zu erfüllen. Mit dem Berliner LV der DGSP, der BGSP, ist eine gemeinsame Infoveranstaltung zur breiteren Unterstützung der ambulanten Komplexbehandlung avisiert. <<
von:
Dr. med. Norbert Mönter
ORCID: 0009-0009-8348-9377

Hinweis:
Details zur ambulanten Komplexversorgung unter www.kbv.de/komplexversorgung
Korrespondenzadresse:
Dr. med. Norbert Mönter
Arzt für Neurologie und Psychiatrie,
Psychotherapie, Psychoanalyse
Schwendenerstr. 46,
14195 Berlin
E-Mail: dr.moenter@gzf-berlin.org