Status der medizinischen Versorgung rheumakranker Menschen in Deutschland
Prof. Dr. Erika Gromnica-Ihle / Ursula Faubel
Zur rheumatologischen Versorgung in Deutschland
Prof. Dr. Erika Gromnica-Ihle / Ursula Faubel
Zur rheumatologischen Versorgung in Deutschland
Ein Viertel der Bevölkerung leidet in Deutschland an Funktionseinschränkungen durch muskuloskelettale Erkrankungen. 10 Millionen sind dabei von klinisch manifesten, behandlungsbedürftigen chronischen Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparates betroffen. Chronische Rückenschmerzen und Knie- sowie Hüftarthrosen stehen bezüglich der Häufigkeit an der Spitze. Die prinzipiell lebensbedrohlichen entzündlich-rheumatischen Krankheitsbilder betreffen 1,5 Millionen, das sind 2 Prozent der Erwachsenenbevölkerung. Hinzu kommen etwa 15.000 rheumakranke Kinder. Die muskuloskelettalen Erkrankungen verursachen die meisten Arbeitsunfähigkeitstage. Sie sind der häufigste Grund für medizinische Rehabilitationmaßnahmen und die zweithäufigste Ursache vorzeitiger Berentung.
>> Die Rheumatologie hat in den letzten 20 Jahren eine stürmische Entwicklung genommen. Während zum Beispiel bei der Rheumatoiden Arthritis (RA) das Behandlungsziel noch vor wenigen Jahren die Verlangsamung der Gelenkzerstörung war, ist es heute realistisch, bei einem Teil der Kranken eine Remission oder zumindest eine niedrige Krankheitsaktivität zu erreichen. Die Erfolge der modernen rheumatologischen Pharmakotherapie der letzten Jahre in Deutschland zeigt die Auswertung der Kerndokumentation der Regionalen Kooperativen Rheumazentren. Der Krankheitsaktivitätsindex („Disease Activity Score“/DAS28) bei RA, ein zusammengesetzter Summenscore von 1 bis 10, in den definierte Gelenke (n = 28) bezüglich Schmerz und Schwellung, die Gesamtbeurteilung durch den Patienten und Entzündungsparameter eingehen, ist im Zeitraum von 1997 bis 2007 von 4,5 auf 3,4 zurückgegangen. Besonders der Anteil der Patienten mit niedriger Krankheitsaktivität (DAS28 <3,2) stieg in diesem Zeitraum signifikant von 23% auf 49% an (Ziegler et al. 2010). Entsprechend verbesserte sich der Krankenstand bei den RA-Patienten. Betrug 1997 die mittlere Dauer der Arbeitsunfähigkeit bei den erwerbstätigen RA-Patienten noch 71 Tage, so fiel diese bis 2007 auf 33 Tage ab. 1997 waren nur 47% der Männer und 37% der Frauen mit der Diagnose RA erwerbsfähig, 2007 betrug ihr Anteil 57% bzw. 46% (Ziegler et al. 2010).
Unstrittig ist dabei, dass eine rechtzeitige Diagnosestellung und Therapieeinleitung mit einer DMARD(„disease modifying antirheumatic drugs“)-Therapie die Gelenkzerstörung bei RA günstig beeinflusst und damit das weitere Schicksal der Betroffenen bestimmt. Die S3-Leitlinie „Management der frühen rheumatoiden Arthritis“ der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie e.V. empfiehlt eine Vorstellung beim Rheumatologen unter dem Verdacht auf eine RA dann, wenn Gelenkschwellungen in mehr als zwei Gelenken über sechs Wochen bestehen (Schneider et al. 2007).
Möglichkeiten der Therapie
und Versorgungsrealität
In den Gruppen der Rheuma-Liga berichten die Betroffenen von langen Wartezeiten auf einen Termin beim Rheumatologen oder sogar über die telefonische Auskunft „Zur Zeit können keine neuen Patienten angenommen werden“. Auch die vielerorts etablierten „Frühsprechstunden“ entschärfen das Problem nicht grundsätzlich. Wenngleich ein echter Fortschritt in der Verkürzung des Zeitraums vom Beginn der Symptome bis zur Vorstellung beim Rheumatologen in den letzten Jahren erreicht wurde, kommt noch ein zu großer Teil der Kranken zu spät zum Facharzt und die DMARD-Therapie wird nicht rechtzeitig eingeleitet. Von den 2008 in der Kerndokumentation, einem Dokumentationssystem der Kooperativen Deutschen Rheumazentren unter Leitung der Abteilung Epidemiologie des Deutschen Rheuma-Forschungszentrum Berlin, erfassten Patienten mit RA haben 51% innerhalb der ersten drei Monate nach Beschwerdebeginn einen Rheumatologen aufgesucht. Von den Kranken mit gesicherter RA oder RA-Verdacht, die 2008 erstmals vom Rheumatologen gesehen wurden, hatten zwei Drittel nicht mehr als drei Monate Beschwerden. 1994 hatte noch mehr als ein Drittel der erstmalig vom Rheumatologen gesehenen Patienten eine Krankheitsdauer von mehr als einem Jahr (Zink et al. 2010).
Diese positive Situation, die durch die Rheumazentren widergespiegelt wird, betrifft jedoch nicht die allgemeine Situation in der Bevölkerung. Diese Daten geben ein zu günstiges Bild ab. Der Realität der medizinischen Versorgung aller Rheumatiker kommt eine Untersuchung, die - ebenfalls 2008 - von 198 ambulant tätigen Rheumatologen durchgeführt wurde, näher. Die Rheumatologen dokumentierten drei Monate lang bei allen erstmalig gesehenen Patienten Diagnose und Dauer der Beschwerden bis zur Vorstellung bei ihnen. Nur 21% der Kranken mit RA erreichten hier den Rheumatologen innerhalb von drei Monaten nach Beginn ihrer Krankheitssymptome (Westhoff et al. 2009). Hierbei bestand eine klare Korrelation zwischen der Wartezeit auf einem Termin beim Rheumatologen und dem Zeitpunkt der Erstvorstellung.
Wenngleich in Deutschland die meisten Patienten mit RA irgendwann einmal bei einem Rheumatologen vorstellig werden, so sind es nach den Erhebungen von Westhoff et al. (2009) in einer Bevölkerungsstichprobe nur 58% der Patienten mit gesicherter RA, die im ersten Jahr ihrer Erkrankung vorstellig werden.
Die in der Leitlinie „Management der frühen rheumatoiden Arthritis“ geforderte Vorstellung beim Rheumatologen, bei einer über sechs Wochen andauernden Schwellung von zwei und mehr Gelenken, ist in Deutschland derzeit nicht flächendeckend umgesetzt.
Die erwähnte Leitlinie empfiehlt unter Berücksichtigung einer gesicherten Studienlage (Smolen et al. 2010) die Einleitung einer DMARD-Therapie bei RA innerhalb von 12 Wochen nach Krankheitsbeginn. In Deutschland wird auch bereits durch die Vorbehandler, meist die Hausärzte der Patienten, eine DMARD-Therapie eingeleitet. Zink et al. (2010) geben an, dass 34% der Patienten, die 2008 bei Rheumatologen vorstellig wurden, bereits mit DMARDs oder Kortikosteroiden behandelt worden sind. Rheumatologen erreichen jedoch einen Versorgungsgrad mit DMARDs von 90%. Es liegt somit eine klare Unterversorgung der Patienten mit RA in Deutschland vor. Dieses wird auch im German RA-Population Survey (GRAPS) von Westhoff et al. (2009) sichtbar. 17% der RA-Patienten mit positivem Rheumafaktor erhielten noch niemals eine DMARD-Therapie. Bei den Rheumafaktor-negativen Patienten waren es sogar 33%. Somit kann geschlussfolgert werden, dass mindestens ein Drittel aller Patienten mit RA nicht rechtzeitig leitliniengerecht therapiert wird.
Es bestehen auch erhebliche Defizite bei den nicht-medikamentösen Therapien. In der Leitlinie wird für die RA eine koordinierte, problemorientierte, multidisziplinäre Behandlung einschließlich einer Patientenschulung gefordert. Nur 1,5% der RA-Kranken erhielten eine ambulante Patientenschulung. Eine Ergotherapie wurde nur bei 2,5% der Betroffenen verordnet. Nach Angaben der Rheumatologen, die sich an der Kerndokumentation beteiligten, wurden nur 16% der RA-Betroffenen mit Krankengymnastik versorgt (Zink et al. 2010).
Auch für Patienten mit Morbus Bechterew haben sich die Möglichleiten der Beeinflussung der Krankheitsaktivität deutlich verbessert. Eine Studie, die von der Patientenorganisation „Deutsche Vereinigung Morbus Bechterew“ initiiert wurde, ergab jedoch, dass es im Durchschnitt zehn Jahre dauert, bis diese Patienten überhaupt diagnostiziert werden (Zeidler, 2009). Dabei stehen heute sehr gute Therapieoptionen für Patienten mit M. Bechterew zur Verfügung.
Warum besteht in Deutschland ein Rheumatologenmangel?
Die Gründe für die zu geringe Anzahl in der Praxis tätiger Rheumatologen sind vielfältig. Fehlende rheumatologische Lehrstühle an den Universitäten sind eine Ursache. Somit sehen an einigen Universitäten die Medizinstudenten keinen oder viel zu wenig Kranke mit entzündlich-rheumatischen Krankheiten. Interesse am Fachgebiet Rheumatologie kann so nur schwer geweckt werden. Die Rheuma-Liga stellt jetzt den Universitäten geschulte Patienten als die „Patient Partners“ zur Verfügung. Ein diesbezüglicher Versuch an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, bei welchen die „Patient Partner“ als „Lehrende“ in das Ausbildungsprogramm Rheumatologie integriert wurden, verläuft gegenwärtig sehr erfolgreich.
Hinsichtlich fehlender rheumatologischer Lehrstühle lautet die Forderung der Rheuma-Liga im Aktionsplan: „Die Landesregierungen und Universitäten müssen dafür sorgen, dass die Rheumatologie an allen medizinischen Fakultäten in obligatorischen Blockpraktika und Vorlesungen in angemessenem Umfang gelehrt wird. An jeder medizinischen Fakultät muss die Rheumatologie zusätzlich als Wahlfach angeboten werden. Dabei müssen alle Bereiche der Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises gelehrt werden. Die rheumatologische Ausbildung muss Rheumatologen obliegen“.
Gravierende Mängel bestehen auch in der Weiterbildung zum Rheumatologen durch fehlende Ausbilder. Nach einer internen Erhebung der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie sind in Deutschland 253 Ärzte zur Weiterbildung des rheumatologischen Nachwuchses befugt. Von diesen kann aber ein Drittel derzeit keine neuen Fachärzte ausbilden, weil Arztstellen in den Kliniken abgebaut oder offene Stellen nicht besetzt werden können (Wollenhaupt 2010).
Eingeschränkt wird die Zahl der niedergelassenen Rheumatologen auch noch durch die Zulassungsbeschränkung. Die Bedarfsplanung erfolgt nach der Bedarfsplanungsricht-linie des Gemeinsamen Bundesausschusses. Diese schreibt vor, dass für die Arztgruppen Verhältniszahlen festgelegt werden, d.h. es wird ein Verhältnis von Einwohnern zu erforderlichen Ärzten festgelegt, die sogenannte arztgruppenspezifische Verhältniszahl (§ 8 Bedarfsplanungsrichtlinie). Dabei werden nach der Richtlinie alle fachärztlich tätigen Internisten in einer Gruppe geplant (§ 4 Bedarfsplanungsrichtlinie). Die Sollzahl der Ärzte wird dann mit der tatsächlichen Einwohner-Arzt-Relation abgeglichen. Wenn die Sollzahl um 10 % überschritten ist, wird in dem Planungsbezirk Überversorgung festgestellt und der Bezirk für die Zulassung weiterer Ärzte gesperrt.
Da in fast allen Planungsbezirken Deutschlands nach dieser Definition Überversorgung an Internisten herrscht, sind alle Bezirke auch für die Zulassung von Rheumatologen gesperrt. Eine Zulassung ist nur über den sogenannten Sonderbedarf (§ 24b Bedarfsplanungsrichtlinie) möglich. Bei der Prüfung, ob ein Sonderbedarf vorliegt, werden von Kassenärztlichen Vereinigungen und Krankenkassen in den Zulassungsausschüssen die übrigen niedergelassenen Ärzte gefragt, ob sie einen zusätzlichen Bedarf für eine Neuzulassung sehen. Dieses Verfahren führt immer wieder dazu, dass Sonderzulassungen von Rheumatologen abgelehnt werden. Die Planung des Bedarfs an Fachärzten im Bereich der inneren Medizin ohne Berücksichtigung der Schwerpunkte und unterschiedlichen Facharztdisziplinen spiegelt bereits seit langem nicht mehr die Versorgungsrealität wieder.
Die Rheuma-Liga fordert daher, für die Rheumatologie eigene, von der Inneren Medizin unabhängige Bedarfszahlen festzulegen und die Bedarfsplanungsrichtlinie entsprechend zu verändern. Im Gemeinsamen Bundesausschuss werden derzeit Überlegungen zu einer Überarbeitung der Bedarfsplanungsrichtlinie angestellt, die auch die Definition der Arztgruppen betrifft (Hess, 2010).
Weiterhin ist der Status eines niedergelassenen Rheumatologen in Bezug auf die Honorarsituation wenig attraktiv, da es ein Defizit in der Vergütung der Leistungen der „sprechenden Medizin“ bei chronisch Kranken gibt.
Gravierende Mängel bei der Rehabilitation der Rheumatiker
Obwohl die Wirksamkeit der Rehabilitation für verschiedene entzündlich-rheumatische Erkrankungen gut belegt ist, Rehabilitationsindikatoren bei Patienten mit entzündlich-rheumatischen Krankheiten durch die Deutsche Gesellschaft für Rheumatologie definiert sind (Jäckel et al. 1996) und ein gesetzlich verankerter Rehabilitationsanspruch besteht, liegt eine Unterversorgung mit Rehabilitationsleistungen bei Rheumakranken vor. Zahlreiche Patienten erreichen das Rehabilitationssystem zu spät, zu selten oder gar nicht. Im Durchschnitt findet bei der RA die erste Rehabilitationsmaßnahme erst nach zweijähriger Krankheitsdauer statt (Bräuer und Mau, 2000). Zu diesem Zeitpunkt können bereits irreparable Gelenkschäden aufgetreten sein. Mindestens ein Drittel der von einer RA schwer Betroffenen erhalten während ihrer gesamten Krankheitsdauer keine Leistungen zur Rehabilitation. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Neuregelungen in den Rehabilitationsrichtlinien des Gemeinsamen Bundesausschuss haben dazu geführt, dass der Zugang zur Rehabilitation weiter erschwert worden ist. Es besteht auch eine erhöhte Ablehnungsquote bei Anträgen auf Rehabilitationsmaßnahmen vor allem durch die Krankenkassen, aber auch mangelnde Kenntnisse vieler Patienten und Ärzte über Angebote und Wirksamkeit der Rehabilitation sowie die Sorge vieler Rheumakranker, durch längeres Wegbleiben vom Arbeitsplatz durch die Rehabilitationsmaßnahme ihren Arbeitsplatz zu verlieren.
Bezüglich der beruflichen Rehabilitation verfügen die Berater häufig nicht über ausreichendes rheumatologisches Basiswissen, um hier eine bedarfsgerechte Vermittlung zu gewährleisten.
Bei den Anschlussheilbehandlungen kann das Rehabilitationsprogramm teilweise gar nicht optimal gestartet werden, weil die Patienten noch mit Wundheilungsstörungen und anderen Komplikationen in die Rehabilitationseinrichtung kommen.
Die Rheuma-Liga fordert daher im Aktionsplan: Gemeinsamer Bundesausschuss und die Träger der Rehabilitation müssen die Zugangswege zur Rehabilitation erleichtern. Die Rehabilitationsträger müssen das Wunsch- und Wahlrecht der Patienten im Hinblick auf die Rehabilitationsmaßnahmen verbindlich berücksichtigen und konsequenter umsetzen. Patientenschulungen müssen ein obligatorischer Bestandteil jeder Rehabilitationsmaßnahme sein. <<
Von: Prof. Dr. Erika Gromnica-Ihle
und Ursula Faubel