„Trendwende in der Diabetesversorgung?“
Prof. Dr. Dipl. Psych. Bernhard Kulzer
Der IQWiG-Bericht zum Nutzen der Blutzuckerselbstkontrolle und seine mögliche Folgen
Prof. Dr. Dipl. Psych. Bernhard Kulzer
Der IQWiG-Bericht zum Nutzen der Blutzuckerselbstkontrolle und seine mögliche Folgen
Als 1965 mit „Dextrosit“ der erste Teststreifen zur Blutzuckerselbstbestimmung vor seiner Markteinführung stand und zeitgleich die Firma Boehringer Mannheim in Deutschland den „Haemoglukotest“ entwickelte, warnten die meisten Ärzte drastisch vor einer Selbsttestung durch Menschen mit Diabetes und waren mehrheitlich strikt dagegen. Die Patienten dagegen waren jedoch von dieser neuen Möglichkeit, den Blutzuckerspiegel selbst bestimmen zu können, begeistert und trugen maßgeblich zu dem Erfolg der Blutzuckerselbstkontrollmethode bei. Auch heute – das zeigen verschiedene Umfragen eindeutig – sind die Patienten von der Sinnhaftigkeit und Bedeutsamkeit der Blutzuckermessung überzeugt. Diesmal sind es jedoch weniger die Ärzte, die die Blutzuckermessung in Frage stellen, sondern vielmehr Gesundheitspolitiker, da die Blutzuckerselbstmessung einen nicht zu unterschätzenden Kostenfaktor der Diabetestherapie darstellt.
>> Aktuell hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) auf der Basis eines in Auftrag gegebenen Berichts des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) einen Beschlussvorschlag zur Änderung der Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL) formuliert und ein entsprechendes Stellungnahmeverfahren eingeleitet. Hierin wird ein Verordnungsausschluss von Harn- und Blutzuckerteststreifen für Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2, die nicht mit Insulin behandelt werden, empfohlen. Mit einer Entscheidung hierzu ist noch dieses Jahr zu rechnen.
Dagegen protestieren gleichermaßen Patienten wie auch alle maßgeblichen diabetologischen Verbände. In einer gemeinsamen Stellungnahme werfen diabetesDE, die Deutsche Diabetes-Gesellschaft (DDG), der Verband der Diabetesberatungs- und Schulungsberufe in Deutschland e.V. (VDBD), die Deutsche Diabetes-Stiftung (DDS) und der Bundesverband Niedergelassener Diabetologen (BVND) dem IQWiG-Bericht schwere Mängel vor. Sie weisen zudem darauf hin, dass ein entsprechender Beschluss negative Konsequenzen für die Mehrzahl aller Diabetiker in Deutschland hätte, da Patienten, die nicht Insulin spritzen, mit ca. 4,7 Millionen Menschen in Deutschland die größte Gruppe aller Diabetiker bilden. Es sei zu erwarten, dass bei einem Verordnungsausschluss von Harn- und Blutzuckerteststreifen für nichtinsulinpflichtige Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 sich zugleich die gesundheitlichen Risiken für diese Patienten erhöhen. Dies betrifft vor allem Patienten, die mit Medikamenten des Typs der Sulfonylharnstoffe (Glibenclamid und Glimepirid) oder Gliniden behandelt werden, welche mit einem erhöhten Unterzuckerrisiko assoziiert sind. Bei einem Wegfall der Verordnungsfähigkeit von Blutzuckerteststreifen würde diesen Patienten die einzige Möglichkeit vorenthalten werden, einen möglichen niedrigen Blutzucker oder eine bestehende Unterzuckerung festzustellen. Von einem Wegfall der Verordnungsfähigkeit von Harn- und Blutzuckerteststreifen würden zudem primär ältere, chronisch kranke und meist auch multimorbide Menschen betroffen sein, die bereits durch Zuzahlungen für Medikamente und erhöhte gesundheitsbezogene Aufwendungen finanziell belastet sind. Es ist davon auszugehen, dass einkommensschwächere Personen nicht in der Lage sein werden, bei Kosten von aktuell ca. 0,60 bis 0,80 Euro pro Blutzuckertestung den Erwerb von Blutzuckerteststreifen bei einem Wegfall der Verordnungsfähigkeit selbst zu finanzieren.
Umstrittene Methodik
Mit dem Auftrag zur Bewertung der Harn- und Blutzuckertestung wurde im IQWiG eine diagnostische Maßnahme unter „Arzneimittelbewertungen“ und nicht durch das vom Titel her eigentlich zuständige Ressort für „Nichtmedikamentöse Verfahren“ bearbeitet. Auch die Beratung im G-BA erfolgte im Unterausschuss Arzneimittel. Allerdings ist von einem diagnostischen Verfahren wie der Blutzuckerselbstmessung im Gegensatz zu Arzneimitteln kein direkter Effekt auf die Blutzuckereinstellung zu erwarten. Für die Wirksamkeit der Blutzuckerselbstkontrolle (BZSK) ist entscheidend, welche Konsequenzen vom Patienten und vom Arzt aus den Ergebnissen der BZSK gezogen werden (z.B. Anpassung der Medikation, Ernährung, Bewegung, Steigerung der Behandlungsmotivation). Die Ergebnisse der Blutzuckerselbstmessung sind somit entscheidend von den Maßnahmen, die basierend auf den gemessenen Glukosewerten getroffen werden, abhängig. Ein positiver Effekt einer Blutzuckermessung bedarf daher einer vorherigen Schulung des Patienten, in der dieser die notwendigen Kenntnisse und Fertigkeiten zur Behandlung des Diabetes in seinem Alltag (beispielweise hinsichtlich Stress, Schichtdienst, Urlaub, Krankheit etc.) erhält. Zudem benötigt der Patient entsprechende Therapiealgorithmen, um auf das Ergebnis der Blutzuckermessung adäquat reagieren zu können.
Angesichts der Besonderheiten der Blutzuckerselbstmessung ist der methodische Ansatz des IQWiG sehr problematisch, die Blutzuckerselbstmessung isoliert – und nicht im Kontext von Schulungs- und Behandlungsprogrammen - zu betrachten. Im IQWiG-Bericht wird der Einfluss der BZSK auf die verschiedenen Zielparameter separat untersucht, es erfolgt keine gemeinsame Betrachtung von BZSK und Schulung. Stattdessen erfolgt die Betrachtung der BZSK unabhängig von der Schulungsintervention, was aufgrund des engen Zusammenhangs dieser komplexen Intervention unverständlich erscheint. In dem Bewertungsverfahren wurden daher strukturierte Schulungs- und Behandlungsprogramme, bei denen die Zuckerselbstmessung nur eine von mehreren Komponenten der Schulung darstellte, nicht in die Nutzenbewertung miteinbezogen.
Hinsichtlich der Bewertung der Blutzuckerselbstmessung bei Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2, die nicht mit Insulin behandelt werden, wurden vom IQWiG fünf randomisierte klinische Studien identifiziert. Eine Metaanalyse dieser Studien kam zu dem Ergebnis, dass nicht-insulinbehandelte Typ-2-Diabetiker mit BZSK eine statistisch signifikante Senkung ihres HbA1c-Wertes im Vergleich zu entsprechenden Typ-2-Diabetikern ohne BZSK (-0,23 %, 95 % CI: -0,34 % bis -0,12 %, p<0,001) aufweisen. In einer Analyse dieser 5 randomisierten Studien kamen die Verfasser der gemeinsamen Stellungnahme allerdings zu dem Schluss, dass nur in einer einzigen Studie tatsächlich vorab eine gründliche Schulung der Patienten erfolgte. Anders als im IQWiG-Bericht geschildert, waren die meisten Studien eben nicht daraufhin angelegt, die Patienten in die Lage zu versetzen, die Messergebnisse selbst zu interpretieren und geeignete Maßnahmen einzuleiten (Selbstmanagement). In der einzigen Studie, wo dies adäquat erfolgte, war der Effekt bezüglich der Stoffwechseleinstellung auch deutlich stärker (HbA1c: -0,46 %). Es liegt auf der Hand, dass nur ein geringer oder kein Effekt in Hinblick auf die Blutzuckereinstellung zu erwarten ist, wenn aus den BZSK keine Konsequenzen für die Behandlung gezogen werden. Der Effekt fällt umgekehrt jedoch umso deutlicher aus, wenn eine BZSK mit angemessenen Handlungsanweisungen für die Patienten einhergeht, wie sie die Ergebnisse der Selbstkontrolle nutzen können, um ihre Verhaltensweisen und ihren Lebensstil anzupassen. Da die Selbstkontrolle jedoch in Deutschland mittlerweile obligater Bestandteil der Schulung ist, kann auch davon ausgegangen werden, dass die im IQWiG-Bericht einbezogenen Studien keine Aussagekraft in Bezug auf die Schulungssituation in Deutschland haben und die klinische Realität nicht abbilden.
Unterstützung erfährt diese Position durch ein nach Erscheinen des IQWiG-Berichtes veröffentlichtes systematisches Review zur BZSK bei Typ-2-Diabetikern aus England, in dem die prinzipiellen Befunde des IQWiG bestätigt wurden. Gleichzeitig wurde aber festgestellt, dass bei einer Analyse der Studien, bei denen auch tatsächlich eine adäquate Blutzuckerselbstkontrollschulung durchgeführt wurde („enhanced education“), sich ein deutlich stärkerer Effekt des HbA1c-Wertes von -0,52 % ergab.
Umstrittene Interpretation
der Ergebnisse
Strittig ist neben der Auswahl der Studien vor allem auch die Interpretation des Befundes. Das IQWiG stuft die gefundene signifikante HbA1c-Absenkung (-0,23 %, 95 % CI: -0,34 % bis -0,12 %, p<0,001) als ein klinisch nicht relevantes Outcome ein, da das Konfidenzintervall die im IQWiG-Bericht zitierte Nichtunterlegenheitsgrenze von -0,4 % HbA1c-Absenkung entsprechend den FDA-Guidance nicht überschreite. Die Bewertung des statistisch signifikanten Effektes als klinisch nicht bedeutsam erfolgt aufgrund eines Non-Inferioritäts-Schwellenwertes zur Beurteilung von Äquivalenzstudien, welcher von der Arzneimittelzulassungsbehörde der Vereinigten Staaten (Draft Guidance for Industry der Food and Drug Administration, FDA) für die Beurteilung von Medikamenten – ausdrücklich jedoch nicht für diagnostische Maßnahmen - empfohlen wird.
Schon in der Anhörung wurde das IQWiG darauf hingewiesen, dass die im Bericht erwähnte Non-Inferioritäts-Schwelle einer HbA1c-Mindestdifferenz von 0,4 Prozentpunkten falsch zitiert wurde. In dem Bericht steht: „Typically, we accept a noninferiority margin of 0.3 or 0.4 HbA1c percentage units provided this is no greater than a suitably conservative estimate of the magnitude of the treatment effect of the active control in previous placebo-controlled trials“ (S. 23). In dem Endbericht wurde dies nicht erwähnt, ebenfalls nicht, dass dies bedeutsame Konsequenzen im Hinblick auf die Interpretation des gefundenen signifikanten Unterschiedes hat:
• Bei Zugrundelegung des im IQWiG-Bericht zitierten Schwellenwertes von 0,4 % liegt das Konfidenzintervall (95 % CI: -0,34 % bis -0,12 %) vollständig unter dieser Grenze. Dies würde bei einer Nichtunterlegenheitsstudie mit der Testintervention „keine Blutzuckermessung“ und der Kontrollintervention „Blutzuckermessung“ die Schlussfolgerung zulassen, dass die Testintervention der Kontrollintervention nicht unterlegen ist.
• Legt man dagegen den in der Draft Guidance for Industry der FDA empfohlene Schwellenwert von 0,3 % - 0,4 % zugrunde, schneidet das Konfidenzintervall (95 % CI: -0,34 % bis -0,12 %) der beobachteten HbA1c-Absenkung den unteren Wert der Nichtunterlegenheitsgrenze (0,3 %). Dies führt zu der Schlussfolgerung, dass – anders als im IQWiG-Bericht beschrieben – die Hypothese, dass Patienten, die nicht Blutzucker messen, keinen schlechteren HbA1c aufweisen, als Patienten, die ihren Blutzucker messen, nicht aufrecht erhalten werden kann.
Daneben stellt sich grundsätzlich die Frage, ob eine Non-Inferioritätstestung der Fragestellung angemessen ist. Da laut Bericht des IQWiG die Blutzuckerselbstmessung keine gut untersuchte, effektive Behandlungsmethode darstellt, macht eine Testung auf Superiorität mit der Hypothese, dass nicht-insulinbehandelte Typ-2-Diabetiker mit BZSK eine statistisch signifikante Senkung ihres HbA1c-Wertes im Vergleich zu entsprechenden Typ-2-Diabetikern ohne BZSK aufweisen, deutlich mehr Sinn. Alle fünf Studien, welche im IQWiG-Bericht Berücksichtigung fanden waren darüber hinaus von ihrem Design und ihrer Powerkalkulationen auf die Testung einer Superioritätshypothese angelegt, so dass die Heranziehung von Bewertungskriterien für Äquivalenzstudien hier nicht angemessen ist.
Die entscheidende Frage stellt sich daher, ob der gefundene, statistisch signifikante HbA1c Unterschied von 0,23 % eine klinische Relevanz aufweist: Und der ist durchaus vorhanden. Bezogen auf den ermittelten Unterschied von -0,23 % HbA1c der Metaanalyse durch das IQWiG würde dies entsprechend der etabliertesten Langzeitstudie beim Typ-2-Diabetes, der „United Kingdom Prospective Diabetes Study (UKPDS)“, bedeuten, dass durch eine BZSK das Risiko für alle diabetesbezogenen Endpunkte um 4,8 %, das der Mortalität im Zusammenhang mit Diabetes ebenfalls um 4,8 %, die Wahrscheinlichkeit für einen Myokardinfarkt um 3,2 % und für mikrovaskuläre Komplikationen um 8,5 % gesenkt werden kann.
Gesundheitliche Gefährdung durch Unterzuckerungen
Im IQWiG-Bericht wird zu Recht betont, dass sowohl schwere, als auch leichte Unterzuckerungen für die Nutzenbewertung der BZSK relevant sind. Dieser Wertung ist aufgrund neuer Daten zur Gefährdung von Typ-2-Diabetikern durch Unterzuckerungen, welche eine potenziell lebensbedrohliche Situation darstellt und gerade bei älteren Menschen mit einer deutlich erhöhten Mortalität assoziiert sind, uneingeschränkt zuzustimmen.
Allerdings kann der Schlussfolgerung des IQWiG, dass kein Zusatznutzen der BZSK in Hinblick auf Unterzuckerungen festgestellt werden kann, auf der Basis der eingeschlossenen Studien nicht zugestimmt werden. Nur drei der fünf ausgewählten randomisierten, prospektiven Studien, in der insgesamt nur 849 Patientenjahre überblickt wurden, konnten in Hinblick auf die Zahl schwerer Unterzuckerungen überhaupt untersucht werden. Mit einer einzigen protokollierten schweren Unterzuckerung liegt die Zahl aus dem IQWiG-Bericht deutlich unter der vergleichbarer anderer Studien. Für die Beurteilung eines gesundheitsschädigenden Risikos durch Unterzuckerungen ist dieser Beobachtungszeitraum jedoch viel zu kurz, um eine zuverlässige Beurteilung der BZSK im Hinblick auf schwere Hypoglykämien vornehmen zu können. Hierfür sind Studien mit größeren Stichproben und längeren Beobachtungszeiträumen notwendig. Leichte Unterzuckerungen konnten aus methodischen Gründen überhaupt nicht erfasst werden. Die Stichprobenzusammensetzung der im IQWiG-Bericht aufgeführten Studien repräsentieren zudem eher eine Gruppe von Typ-2-Diabetikern mit relativ geringem Unterzuckerungsrisiko. Daher können aufgrund dieser Daten keine Rückschlüsse auf die Relevanz der BZSK in Hinblick auf Unterzuckerungen für die Gesamtheit aller Typ-2-Diabetiker, die nicht mit Insulin behandelt werden, gezogen werden.
Mögliche Nebenwirkungen bei Wegfall der Erstattungsfähigkeit
In dem Bericht des IQWiG wird vor allem nicht thematisiert, dass sich ein mögliches Gefährdungs- und Schädigungspotenzial durch Hypoglykämien für Diabetespatienten auch dadurch ergeben könnte, wenn die bisherige Praxis, die BZSK für nichtinsulinpflichtige Typ-2-Diabetiker anzuwenden, zukünftig geändert würde. Bei einem völligen Wegfall der BZSK, welche die einzige Möglichkeit darstellt, eine drohende Unterzuckerung durch eine Bestimmung des Blutzuckers zu messen, können sich aufgrund von Unterzuckerungen gesundheitliche Probleme für eine größere Zahl von Typ-2-Diabetikern ergeben. Nach den Ergebnissen größerer Studien erleiden pro Jahr immerhin zwischen 0,6 % und 1,4 % aller Patienten mit einer oralen Diabetesmedikation eine schwere Unterzuckerung, deren Behandlung Fremdhilfe erforderte. Rechnet man diese Zahlen auf Deutschland hoch, so würde bei geschätzten insgesamt 3,5 Millionen Typ-2-Diabetikern mit einer oralen Diabetesmedikation zwischen 21.000 und 49.000 Menschen pro Jahr eine schwere Hypoglykämie erleiden. Berücksich-
tigt man nur die 1,5 Millionen Typ-2-Diabetikern mit einer insulinotropen oralen Diabetesmedikation, so betrifft dies immer noch zwischen 9.000 und 21.000 Menschen pro Jahr. Eine abschließende negative Nutzenbewertung der BZSK im Hinblick auf Hypoglykämien kann daher auf der Grundlage der im IQWiG Bericht verwendeten Studien nicht vorgenommen werden.
Bedeutung der BZSK für die
Teilnahme am Straßenverkehr
Die Teilnahme am Straßenverkehr und das Führen von Kraftfahrzeugen zu privaten oder beruflichen Zwecken ist vielfach eine wesentliche Voraussetzung für eine soziale Teilhabe - hierfür ist oft eine ausreichende Fahrtauglichkeit notwendig. Aufgrund gesetzlicher Vorgaben müssen Diabetespatienten vor Fahrtantritt sicherstellen, dass keine Einschränkung der Fahrtauglichkeit aufgrund einer nicht ausgeglichenen Stoffwechsellage oder aufgrund von Unter- bzw. Überzuckerungen besteht. Dies ist nur mit Hilfe einer Blutzuckermessung möglich. Für Diabetiker, die als LKW-Fahrer oder Busfahrer arbeiten (Führerscheinklassen C und D), besteht auch bei ausgeglichener Stoffwechsellage unter Diät oder oralen Antidiabetika die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen nur bei guter Stoffwechselführung ohne Unterzucker über drei Monate, was für diesen Zeitraum regelmäßige Blutzuckermessungen erfordert. Ein Verordnungsausschluss der BZSK würde für Patientengruppen, welche ein Kraftfahrzeug aus privaten oder beruflichen Gründen führen und auf welche die oben genannten Kriterien zutreffen, eine deutliche finanzielle Mehrbelastung nach sich ziehen. Falls diese Personen sich die private Bezahlung der Teststreifen nicht leisten können, so müssten sie entweder auf das Führen eines Kraftfahrzeuges verzichten oder die haftungsrechtlichen Risiken, falls es im Zusammenhang mit einer diabetischen Stoffwechselentgleisung zu einem Unfall kommen sollte, tragen.
Patientenrelevante Aspekte
Die BZSK ist eine entscheidende Voraussetzung für die Motivation, Schulung und Therapie des Patienten und den selbstverantwortlichen und selbstbestimmten Umgang mit dem Diabetes (Selbstmanagement oder Empowerment). Die einseitige Bewertung der Sinnhaftigkeit der BZSK in Hinblick auf die in dem Bericht erwähnten Zielgrößen verkennt, dass die BZSK gerade für nicht insulinpflichtige Typ-2-Diabetiker eine wichtige Voraussetzung für die Schaffung eines Risikobewusstseins, der Akzeptanz der Erkrankung, der Motivation zur Lebensstil-änderung wie auch eine wesentliche Unterstützung bei der Umsetzung und langfristigen Etablierung der Lebensstiländerung darstellt. Die BZSK stellt auch für nicht insulinpflichtige Typ-2-Diabetiker im Rahmen der Therapie eine wichtige Voraussetzung dar, die primär nicht spürbaren erhöhten Blutzuckerwerte über eine Messung rückgemeldet zu bekommen und somit eine Behandlungsmotivation zu entwickeln. Die von der Gesundheitspolitik zu Recht geforderte aktive Einbindung des Menschen mit Diabetes in seine Therapie („der mündige Patient“) würde durch einen Verordnungsausschluss der Blutzuckerselbstmessung konterkariert.
Verordnungsausschluss widerspricht allen nationalen und
internationalen Leitlinien
Übereinstimmend wird in allen nationalen wie internationalen Leitlinien zur Diabetesbehandlung die BZSK als ein integraler Bestandteil der Therapie des Typ 2 Diabetes betrachtet. Ein möglicher Verordnungsausschluss der BZSK für Typ-2-Diabetiker, die nicht Insulin spritzen, steht im Gegensatz zu allen medizinischen Leitlinien und den Empfehlungen führender Experten und Organisationen zu dieser Thematik und würde einen deutschen Sonderweg bedeuten. Damit würde mit einer solchen Entscheidung eine mögliche Erhöhung von gesundheitlichen Risiken für zumindest einen Teil der zahlenmäßig großen Gruppe von Typ-2-Diabetikern in Deutschland billigend in Kauf genommen, falls Personen nicht in der Lage sein sollten, die notwendigen Blutzuckerteststreifen aus eigenen Mitteln zu finanzieren.
Empfehlung der Fachverbände
Aufgrund der dargestellten Argumente besteht ein dringender Handlungsbedarf, die Beschlussvorlage des G-BA zu ändern und die Verordnungsfähigkeit der Blutzuckerselbstmessung auch für nicht mit Insulin behandelte Typ-2-Diabetiker zu erhalten. Voraussetzung für die Verordnung sollte eine Schulung des Patienten zum richtigen Umgang mit der Selbstkontrolle sein, damit ein Patient in der Lage ist, eine Blutzuckermessung sachgerecht durchzuführen, die Ergebnisse zu dokumentieren und entsprechend den Ergebnissen der Messung angemessen zu reagieren und das eigene Behandlungsverhalten anzupassen. Für die Gruppe der Typ-2-Diabetiker, die nicht Insulin spritzen, sollte mindestens eine Menge von 50 Blutzuckerteststreifen pro Quartal verordnungsfähig bleiben und für die folgende Gruppe von nichtinsulinpflichtigen Typ-2-Diabetikern bzw. in folgenden Situationen sollte die Verordnung von Blutzuckerteststreifen obligat sein:
• Bei Diagnose des Typ-2-Diabetes und als Bestandteil der strukturierten Diabetesschulung.
• Typ-2-Diabetiker, die Tabletten einnehmen, die eine Hypoglykämiegefahr beinhalten (z.B. Sulfonylharnstofftabletten, Glinide)
• Bei einer Therapieeskalation bzw. –deeskalation (z. B. zusätzliche Medikation, Überprüfen der Notwendigkeit einer Insulintherapie).
• Bei interkurrenten Erkrankungen, die ein Blutzuckermonitoring durch den Patienten erforderlich machen.
• Bei Situationen, die eine besondere Gefährdung bezüglich Unterzuckerungen bedeuten (z.B. besondere berufliche Situationen, die mit einem erhöhten Hypoglykämierisiko assoziiert sind). <<
PD Dr. Psych. Bernhard Kulzer