Versorgung 2.0: Decision support „in Häppchenform“
Dr. Dierk Heimann / Florian Fuhrmann
Erstveröffentlichungsdatum: 01.04.2009
Zusätzliches
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Dr. Dierk Heimann / Florian Fuhrmann
Sie ist eine der zentralen Herausforderungen des Gesundheitssystems – die Volkskrankheit Diabetes mellitus Typ 2. Mit einer klar steigenden Tendenz und erheblichem Risikopotenzial für die Versicherten. Doch nicht die Diabetes-Erkrankung an sich schränkt das Leben der Betroffenen ein, erhöht die Sterblichkeit und bedingt einen massiven Ressourceneinsatz des Systems, sondern vielmehr die damit assoziierten Folgeerkrankungen wie Herzinfarkt, Schlaganfall oder auch dialysepflichtige Niereninsuffizienzen. Doch lassen sich diese Gesundheitsstörungen außerhalb von „Laborbedingungen“ effektiver abmildern bzw. verhindern als mit der derzeitigen Regel- oder auch DMP-Versorgung? Eine Frage, die Kostenträger, Ärzte und nicht zuletzt die Diabetiker gleichermaßen zu beantworten suchen.
Die Knappschaft Bahn See geht im Saarland derzeit den Weg eines innovativen Pilotprojektes. 52 Hausärzte, Augenärzte und Nephrologen aus einem der PROSPER-Netze sowie ein Krankenhaus nehmen daran teil und werden an eine gemeinsame, serverbasierte Patientenakte der CompuGROUP Holding AG angeschlossen. Das Besondere: Die Akte verfügt über einen hinterlegten medical pathway, der leitlinienbasiert dem Arzt individualisierte Hinweise geben kann, welcher Diagnose- oder Behandlungsschritt rund um eine Diabeteserkrankung indiziert ist. „Wir möchten damit herausfinden“, so Hans Adolf Müller, Leiter Gesundheitsmanagement der Knappschaft Bahn See, „ob wir mit dieser innovativen Form der Entscheidungsunterstützung unseren Versicherten noch besser helfen und die behandelnden Ärzte und Praxisteams noch gezielter unterstützen können“. Das Projekt wurde im vierten Quartal 2008 gestartet und es konnten bereits im März 2009 mehr als 1.000 Diabetes-Betroffene eingeschrieben werden.
Eine indikationsspezifische Netzakte als Basis
Um die Patienten bereichs- und sektorübergreifend ohne Zeit- oder Informationsverluste therapieren zu können, übermitteln die Arzt-Informations-Systeme (früher Praxis-EDV) der niedergelassenen Ärzte automatisch solche Daten pseudonymisiert an die Zentralakte, die mit der Indikation Diabetes mellitus, ihrer Behandlung oder den häufigsten Folgeerkrankungen zusammenhängen. Alle anderen Informationen verlassen aus Gründen der Datensparsamkeit die Praxis nicht. Dafür wurden so genannte Positivfilter entwickelt, die sowohl beim absendenden Arzt als auch der annehmenden Akte prüfen, ob die übermittelten Daten diesem eng gefassten Anspruch genügen oder nicht. Im Saarland hat man sich für solche PROSPER-Praxen entschieden, die das Arzt-Informations-System MEDISTAR der CompuGROUP Holding AG nutzen, um mit einem hoch verlässlichen Produkt die Praxistauglichkeit dieses Ansatzes prüfen zu können.
Algorithmus erkennt geeignete Versicherte automatisch
Sobald ein Patient die Praxis betritt – aus welchen Gründen auch immer – ermittelt das System automatisch, ob der Versicherte für den Einschluss in das Diabetes-Programm der Knappschaft Bahn See geeignet erscheint. Die notwendigen Informationen liefert die lokale Patientenakte der Praxis, die bspw. Diagnosen, verordnete Medikamente aber oft auch das Gewicht beinhaltet. Daraus lassen sich Rückschlüsse auf die Wahrscheinlichkeit für eine Diabetes-Erkrankung oder auch ein Metabolisches Syndrom als dessen Vorstufe ziehen. Erscheint der Patient geeignet, schlägt ihn das System dem Arzt zum Einschluss in das Versorgungsmanagement Diabetes vor und erstellt – nach Zustimmung von Arzt und Patient – automatisch alle notwendigen Unterlagen. Damit werden medizinische wie logistische Herausforderungen gleichermaßen von der Software abgebildet. Ebenfalls neu: Es sollen ausdrücklich auch Risikopatienten eingeschlossen werden, um den Effekt dieses Programms auf die Vermeidung einer Diabeteserkrankung prüfen zu können.
Decision-Support unter wissenschaftlicher Begleitung
Das Ärzteteam der CompuGROUP Holding AG hat die Erarbeitung des implementierten medical pathways Diabetes mellitus Typ 2 durch ein renommiertes, externes Expertenteam begleiten lassen, das von Herrn Prof. Dr. Werner Scherbaum aus Düsseldorf geleitet wird. Darüber hinaus analysiert ein gewähltes Medizinergremium des PROSPER-Netzes die Besonderheiten der Region bzw. neue Erkenntnisse und empfiehlt die Umsetzung im Pfad.
Wissenschaftliche Transparenz als unverzichtbares Gut
Der CompuGROUP Holding AG ist dabei die uneingeschränkte Transparenz der hinterlegten medizinischen Algorithmen für die teilnehmenden Praxen besonders wichtig. So können die Ärzte jederzeit Einblick in das zugrunde liegende Medizinwissen, die verwendeten Quellen sowie Zielsetzungen nehmen und so die Qualitätssicherung aktiv mitgestalten und über neue und zu berücksichtigende Entwicklungen diskutieren. „Wir sind fest davon überzeugt, dass nur eine solche Transparenz dem hohen Anspruch der medizinischen Wissenschaft, der Verantwortung gegen-über den Patienten sowie der Akzeptanz bei den ärztlichen Anwendern gerecht wird“, so CompuGROUP Vorstand Jan Broer. „Für eine ‚black box‘ sind wir nicht zu haben. Der Arzt muss jederzeit die Möglichkeit haben, unsere Empfehlungen einer kritischen Würdigung anhand der Quellen unterziehen zu können.“
Einfache, dennoch individualisierte Zielwerte als effektive Benchmark
Um die Qualität der Behandlung in Echtzeit im Blick haben zu können, testet der Ansatz der Knappschaft Bahn See die qualitative Beurteilung anhand der Zielwerte HbA1c und Blutdruck (systolisch). Das Besondere: Beide Zielparameter werden nicht pauschal festgesetzt, sondern orientieren sich an der jeweils individuellen, gesundheitlichen Situation des Betroffenen. Handelt es sich bspw. um einen Diabetiker ohne weitere Risikofaktoren, ist ein systolischer Blutdruckwert von unter 135 mmHg ausreichend. Wird eine Nierenbeteiligung detektiert, wird dieser Bereich auf unter 120 mmHg abgesenkt. Gleiches gilt für den HbA1c, der sich ebenfalls an der Gesamtsituation ausrichtet. Gelingt es den behandelnden Ärzten diese Zielwerte zu erreichen oder den Patienten langsam und schonend in die gewünschte Richtung zu führen, wird ein finanzieller Bonus ausgeschüttet. Darüber hinaus werden zahlreiche weitere Werte (bspw. Kreatinin/GFR/diastolischer Blutdruck etc.) ebenfalls verarbeitet und mit Behandlungs- oder auch Überweisungsvorschlägen unterlegt.
Ein großer Vorteil der zentralen Akte der CompuGROUP Holding AG besteht darin, dass sich bspw. auch Überweisungen und deren Wahrnehmung durch den Versicherten exakt nachvollziehen lassen. Schlägt das System die jährlich empfohlene Überweisung zum Augenarzt vor, der Hausarzt führt diese aus und der Patient „kommt nicht an“, zeigt dies die Akte an und informiert den behandelnden Mediziner (in der Regel des Hausarzt) darüber. Damit lassen sich bisher schwer erkennbare Behandlungslücken zukünftig besser schließen
Ergebnisse im Herbst 2009
Knappschaft Bahn See und CompuGROUP Holding AG erwarten bereits im Herbst 2009 erste auswertbare Ergebnisse, um über eine Fortsetzung und flächendeckende Ausrollung dieses Ansatzes entscheiden zu können. Die bisherigen Erfahrungen sind dabei durchaus viel versprechend. Auch führt die CompuGROUP Holding AG solche Projekte der Integrierten Versorgung bereits seit mehreren Jahren mit unterschiedlichen Kostenträgern - beispielsweise der AOK Hessen - mit unterschiedlichen Indikationen und Zielsetzungen gemeinsam mit renommierten Experten durch. Die bisherigen Resultate zeigen das hohe Potenzial dieses softwarebasierten Versorgungsansatzes. <<
von: Dr. Dierk Heimann und Florian Fuhrmann