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Es gibt keine rechtliche Verpflichtung zur Versorgungsforschung durch das AMNOG. Dennoch wird Versorgungsforschung auch in Zeiten des AMNOG immer wichtiger. Dies wird vor allem angesichts der Diskussion um Nutzenbewertungen im Bereich des sogenannten Bestandsmarktes deutlich. Der Begriff Bestandsmarkt beschreibt Wirkstoffe, die vor 2011 zugelassen wurden und noch Unterlagenschutz genießen. Dieser Beitrag zeigt anhand der einzelnen rechtlichen Regelungen des AMNOG mögliche Anknüpfungspunkte für die Versorgungsforschung auf.

Die Bundesregierung hat den Stellenwert der Versorgungsforschung für die Gesundheitsversorgung in den vergangenen drei Jahren erkannt und die immer noch eher wissenschaftlich geprägte Forschungsdisziplin der Versorgungsforschung in die gesundheitspolitische Diskussion gebracht: Im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und FDP vom Oktober 2009 gab es einen eigenen Abschnitt zum Thema Versorgungsforschung, der mit dem Statement endet, „wir [werden] die Versorgungsforschung systematisch ausbauen.“ Im März 2010 unterstrich der damalige Bundesgesundheitsminister Dr. Philipp Rösler dies im Titelinterview mit „Monitor Versorgungsforschung“ (2/2010) mit der Aussage: „Versorgungsforschung ist für mich ein ganz wichtiges Thema. Gerade deshalb taucht der Begriff […] gleich zweimal im Koalitionsvertrag auf – einmal im BMBF- und einmal im BMG-Teil“.

Das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz
(AMNOG) ist seit dem 1. Januar 2011 in Kraft. Seitdem sind Pharmaunternehmen dazu verpflichtet, bei Marktneueinführung den Zusatznutzen ihrer Arzneimittel gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie nachzuweisen. Hierzu ist ein sog. Nutzen-Dossier vorzulegen (§ 35a SGB V). Nur bei vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) anerkanntem Nachweis eines Zusatznutzens kommt es im Anschluss zwischen GKV-Spitzenverband und dem pharmazeutischen Unternehmen zu Vereinbarungsgesprächen über einen Erstattungsbetrag (§ 130b SGB V). Sollte dabei keine Einigung erfolgen, wird ein Schiedsspruch erforderlich, und ein Erstattungsbetrag wird auf Basis europäischer Vergleichspreise festgelegt. Für Arzneimittel ohne nachgewiesenen Zusatznutzen wird das Arzneimittel einer Festbetragsgruppe zugeführt resp. die Erstattungshöhe begrenzt auf den Preis vergleichbarer Medikamente. Abweichend oder ergänzend zu dem skizzierten Verfahrensweg sind Verträge (nach § 130c SGB V) zwischen Krankenkassen und pharmazeutischen Herstellern möglich. Auch Kosten-Nutzen-Bewertungen durch das IQWiG (nach § 35b SGB V) haben bei diesem neu aufgesetzten Verfahrensweg den Charakter einer optionalen und nachgelagerten „Kann“-Klausel.
Der Fokus bei der Umsetzung der neuen gesetzlichen Regelungen liegt zurzeit noch auf den neuen Wirkstoffen, die nach dem 01.01.2011 auf den Markt gebracht wurden bzw. noch gebracht werden. Hierbei wird an die potenzielle Unterstützungsleistung der Versorgungsforschung häufig nicht gedacht. Schließlich gibt es vor Markteintritt keine Versorgungsforschungsdaten – mit Ausnahme vielleicht von internationalen Daten, bei denen aber das Problem der eingeschränkten Übertragbarkeit der Ergebnisse auf die deutsche Versorgungsrealität besteht. Dennoch gibt es zahlreiche Schnittstellen und Ansatzpunkte zur Nutzung von Versorgungsforschung im Kontext des AMNOG, die nachfolgend dargestellt werden.
Ansatzpunkte Vergleichstherapie und Bestandsmarkt
Während zu neuen Arzneimitteln keine Befunde der Versorgungsforschung vorliegen können, existieren solche Daten sowie ggf. auch Versorgungsforschungsstudien zu den sog. „zweckmäßigen Vergleichstherapien“. Zudem wird das Thema Nutzenbewertung vermutlich noch in diesem Jahr auch für den Bestandsmarkt relevant. Damit sind Wirkstoffe angesprochen, die bereits vor 2011 auf dem Markt waren und noch Unterlagenschutz genießen. Auch zu diesen Wirkstoffen liegen bereits Daten aus der Alltagsversorgung vor.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wo es Ansatzpunkte für den Einsatz der Versorgungsforschung gibt. Dies soll nachfolgend entlang der vier Paragraphen 35a, 130b, 130c und 35b SGB V, die im Mittelpunkt der neu geregelten Preisfestsetzung stehen, herausgearbeitet werden.

§ 35a: Nutzen-Dossier
Im Nutzendossier sind vor allem Aussagen zu folgenden Punkten zu treffen (vgl. § 35a SGB V: Bewertung des Nutzens von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen):
1. Zugelassene Anwendungsgebiete
2. Medizinischer Nutzen
3. Medizinischer Zusatznutzen im Verhältnis zur zweckmäßigen Vergleichstherapie
4. Anzahl Patienten, für die ein therapeutisch bedeutsamer Zusatznutzen besteht
5. Kosten der Therapie für die gesetzliche Krankenversicherung
6. Anforderung an eine qualitätsgesicherte Anwendung
Da zur zweckmäßigen Vergleichstherapie bereits Versorgungsdaten vorliegen, ist dies ein geeigneter Ansatzpunkt zur Nutzung von Routinedaten. Zum einen kann eine verordnungsdatenbasierte Schwächenanalyse der Vergleichstherapie (Punkt 3) vorgenommen werden. Dies ist sinnvoll, insofern das neue Arzneimittel diese Schwächen (voraussichtlich) nicht aufweist. Zum anderen können die Verordnungsdaten der Vergleichstherapie herangezogen werden, um die Anzahl der Patienten und die Jahrestherapiekosten (Punkt 4+5) besser abzuschätzen. Bei Betrachtung des Bestandsmarktes kann die „Realdaten“-Perspektive zudem für den zu bewertenden Wirkstoff selbst eingenommen werden.
Ansatzpunkte für solche sekundärdatenbasierten Analyseansätze können z. B. sein:
• Patientenprofile für Hinweise, bei welchen Patientengruppen der höchste Zusatznutzen zu erwarten ist
• Compliance resp. Dauer der Therapietreue für erste Anhaltspunkte zur Verträglichkeit der Therapie
• Komedikationen für einen Einblick in das verstärkte Auftreten weiterer Krankheitsbilder
• Therapiekosten für den Vergleich der Kosten für Haupt- und Nebenmedikationen bei unterschiedlichen Therapieansätzen*

Die Forderung, Versorgungsforschung verstärkt bei Kosten-Nutzen-Bewertungen einzusetzen, wurde bereits 2007 gestellt, also lange vor den ersten AMNOG-Entwürfen. Dies erfolgte z. B. in den „10 Hannoveraner Thesen zum Beitrag der Versorgungsforschung zur Kosten-Nutzen-Bewertung von Arzneimitteln“ vom 05.06.2007, die mehrere Wissenschaftler - u.a. Prof. Neubauer (Institut für Gesundheitsökonomik München), Prof. Schwartz (Medizinische Hochschule Hannover), Prof. Scriba (LMU München) und Prof. Augustin (Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf) - gemeinsam aufgestellt haben.

§ 130b: Preisverhandlungen
Im Rahmen der Preisverhandlungen nach § 130b, also der „Vereinbarungen zwischen dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen und den pharmazeutischen Unternehmern über Erstattungsbeträge für Arzneimittel“, werden unterschiedliche Aspekte eine Rolle spielen:
• das Ergebnis der Nutzenbewertung resp. das Ausmaß des Zusatznutzens (erheblich, beträchtlich, gering)
• die Jahrestherapiekosten der zweckmäßigen Vergleichstherapie bzw. im Falle unterschiedlicher Indikationen der zweckmäßigen Vergleichstherapien
• der aktuelle Produktpreis, der mit Zulassung weiterhin frei vom Unternehmer festlegbar ist
• Informationen zu den gesamten Therapie-
kosten der unterschiedlichen Therapieansätze, also beispielsweise auch die Kosten der zu erwartenden Begleittherapien, Therapien gegen die Nebenwirkungen, möglicher Umstellungstherapien, Krankenhauseinweisungen etc.
Einen Anknüpfungspunkt für Versorgungsforschung bilden die realen Therapiekosten. Solche Therapiekostenvergleiche können auf Basis von Versorgungsforschungsstudien erstellt werden. Während diese Informationen für den neuen Wirkstoff ggf. nur sehr eingeschränkt erhoben werden können, sind solche Studien für die Vergleichstherapien machbar. Solche Studien bieten auch Anhaltspunkte für die Kosten des neuen Therapieansatzes, die auf Basis des bewerteten Zusatznutzens zu erwarten sind. Im Falle der Bewertung von Wirkstoffen aus dem Bestandsmarkt können diese Informationen für beide/alle Therapieansätze im Vorfeld erhoben werden.
Versorgungsforschungsstudien können somit zur Argumentation bei den Preisverhandlungen (Erstattungsbetragsvereinbarungen) eingesetzt werden -– sowohl seitens des pharmazeutischen Unternehmers als auch seitens des Spitzenverbands. Hierbei werden die Erfahrungen aus den ersten jetzt anstehenden Vereinbarungsgesprächen zeigen, inwieweit nur Informationen herangezogen werden, die bereits in den Dossiers erwähnt wurden, oder ob weitere Informationen zur Argumentation Akzeptanz finden.

§ 130c: Ergänzende/ersetzende Mehrwertverträge
Die praktische Relevanz des Paragraphen § 130c zu Verträgen von Krankenkassen mit pharmazeutischen Unternehmern ist noch fraglich, da die vorangehenden Vereinbarungen zum Erstattungsbetrag das Verhandlungspotenzial bereits deutlich reduzieren dürften. Dennoch bietet dieses Instrumentarium gerade bei Aufkommen neuer Erkenntnisse innerhalb der Versorgung unter Alltagsbedingungen einen interessanten Ansatz, bei dem die Versorgungsforschung unter mehreren Aspekten eine Rolle spielen kann:
• bei der Auswahl geeigneter Vertragspartner
• zur Argumentationsunterstützung bei den Vertragsverhandlungen
• zur wissenschaftlichen Begleitung der Verträge
Nicht jede Indikation hat für jede Krankenkasse die gleiche Bedeutung. Somit kann ein pharmazeutischer Hersteller bei der Auswahl des potenziellen Vertragspartners das jeweilige Potenzial der Indikation anhand von Routinedaten berücksichtigen. Außerdem können Auswertungen der Realdaten beide Vertragsseiten bei den Verhandlungen unterstützen. Schließlich sollte mit Abschluss eines Mehrwertvertrages auch eine wissenschaftliche Begleitung vereinbart werden – nicht zuletzt zum Zwecke einer fairen Preisbildung.

§ 35b: Kosten-Nutzen-Bewertung
Die möglichen Unterstützungsleistungen von Nutzen-Bewertungen durch Versorgungsforschung wurden bereits unter § 35a SGB V („Nutzendossiers“) angesprochen. Nach einem Schiedsspruch können sowohl der Spitzenverband Bund als auch der Hersteller beim G-BA eine Kosten-Nutzen-Bewertung beantragen. Dies kann nach § 35b SGB V unter Berücksichtigung von Versorgungsstudien erfolgen. Noch ist allerdings nicht eindeutig geklärt, was unter Versorgungsstudien zu verstehen ist.
Auch ein Jahr nach Start des AMNOG ist keine Verfahrensordnung in Kraft. Damit ist die Ausgestaltung solcher Studien weiterhin fraglich. So bemängelt das Deutsche Netzwerk Versorgungsforschung das fehlende Wort „Forschung“ (vgl. Titelinterview mit Prof. Pfaff und Prof. Harder in MVF 06/2011: „Diskurs um das wichtige Wörtchen Forschung“). In einer Stellungnahme zur gesundheitspolitischen Diskussion um die Allokation knapper Ressourcen schreiben Pfaff et al.: „Angesichts der Komplexität von Versorgungsforschung und dem langen Weg, der bei der Etablierung von Versorgungsforschung in Deutschland bestritten wird, sollte man hier von Versorgungsforschungsstudien sprechen. Dies ist nicht als semantische Spielerei gedacht, sondern soll den ernsthaften Charakter und den hohen methodischen Anspruch betonen, der diesem Ansatz zugrunde liegt.“ (Pfaff et al.: Versorgungsforschung: unverzichtbar bei Allokationsentscheidungen – eine Stellungnahme). Auch der Deutsche Ethikrat hat in einer Stellungnahme darauf hingewiesen, dass sich der tatsächliche Nutzen eines Arzneimittels oft erst Jahre nach der Zulassung erweist und u. a. mit Hilfe von Versorgungsforschungsstudien überprüft und nachgewiesen werden sollte.

Fazit
Wie sich zeigt, eröffnet Versorgungsforschung im Kontext des AMNOG einige Chancen, auch wenn der Nutzen von Versorgungsforschung für alle Beteiligten wie Industrie, Kassen und nicht zuletzt die Patienten keineswegs garantiert ist. Je nach betrachtetem Paragraphen ergeben sich unterschiedliche Ansatzpunkte für einen sinnvollen Einsatz von Versorgungsforschung. Fest steht: Diejenigen, die nur streng nach „AMNOG-Pflichtenheft“ arbeiten, werden die sich bietenden Gelegenheiten ungenutzt vorüberziehen und andere an sich vorbeiziehen lassen. <<

von: Dr. André Kleinfeld
Christian Bensing*