Versorgungsmanagement aus Marketing-Sicht: Beispiele für innovative Ansätze
Dr. Michael Sander / Prof. Dr. PH Viviane Scherenberg MPH
Dr. Michael Sander / Prof. Dr. PH Viviane Scherenberg MPH
Im Grunde könnten Krankenversicherungen äußerst spannende Marketing-Organisationen sein. Es gibt wohl kaum Unternehmen in anderen Branchen, die gemessen an der Anzahl der über 15.000 ICD ähnlich viele Produktmöglichkeiten grundsätzlich besitzen. Allerdings muss man dazu auch erst einmal die Perspektive des Versorgungsmanagements einnehmen, um diese Chancen überhaupt zu erkennen. Die Möglichkeit und Notwendigkeit hierfür zeigen der HRM HealthCare-Relationship-Management-Ansatz mit seiner Differenzierung in Kosten- und Kundenexzellenz sowie empirische Studien zur Krankenkasse der Zukunft auf. Um diese sich bietenden Chancen zu realisieren, spielt die Kommunikation eine zentrale Rolle. Am Beispiel von Bonusprogrammen wird aufgezeigt, wie sich die Welt des Versorgungsmanagements und der Kommunikationspolitik sinnvoll verknüpfen lässt. Selbst innovative technologische Lösungen lassen sich ideal mit dem Versorgungsmanagement und einer „Marketing-Denke“ verbinden – eigentlich machen sie dann sogar erst Sinn, weil sie wie z.B. mobile Terminbuchungsanwendungen nur auf diese Weise echten Nutzen stiften.
>> Der 1. Januar 2009 markierte einen Paradigma-Wechsel in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), denn mit der Umsetzung des Wettbewerbsstärkungsgesetzes begann das Zeitalter des Wettbewerbs unter einem einheitlichen Beitragssatz und den neuen Finanzierungsbedingungen des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs (mRSA). Die Konsequenz war eine enorme, auch kassenartenübergreifende Fusionswelle. Aber auch Fusionen, die zunächst erst einmal hohe Integrationsanforderungen an alle Beteiligten stellen, lösen das grundlegende strategische Problem nicht, wie sich eine Kasse unter den neuen Wettbewerbsbedingungen aufstellen sollte.
Kunden- und Kostenexzellenz:
Zentrale Herausforderungen der GKV
Es scheint bereits jetzt absehbar, dass eine zweite Welle zu erwarten ist, die das Marketing oder besser noch eine marketingorientierte Unternehmensführung in den Vordergrund rückt. Die Begründung für diese zweite Welle ist einfach: Damit eine Kasse unter den veränderten Wettbewerbs- und Finanzierungsbedingungen erfolgreich agieren kann, muss sie gleichzeitig die Herausforderungen von Kunden- und Kostenexzellenz bewältigen. Das bedeutet, dass eine Kasse ihr Kundenbeziehungsmanagement (Kundenexzellenz) nicht mehr länger nur auf die bisher „lohnende“ Zielgruppe der Gesunden konzentrieren darf. Sie muss zusätzlich auch ein Beziehungsmanagement zu den akut und chronisch Kranken aufbauen, da diese aus Gründen der Zuweisungen aus dem mRSA sehr attraktiv sein können. Die Logik des Deckungsbeitrags bedingt den Wettbewerb aller Kassen gegen die Durchschnittskosten in der Leistungserbringung und zwingt die Kassen verstärkt zum Aufbau eines Versorgungsmanagements. Die Lösung für dieses Dilemma ist ein übergreifender Ansatz bzw. ein Führungs- und Management-Konzept, das in den letzten Jahren entwickelt wurde: HealthCare Relationship Management (HRM).
Wie Abbildung 1 verdeutlicht, müssen die Herausforderungen der GKV ganzheitlich betrachtet werden. Daraus leiten sich dann direkt Anforderungen an den klassischen Marketing-Mix (product / price / placement / promotion) ab. Doch wo zeichnen sich konkret Innovationen in den beiden Bereichen von Kunden- und Kostenexzellenz vor dem Hintergrund der drei Kernzielgruppen (Gesunde, akut und chronisch Kranke) ab?
Versorgungsmanagement:
Fundus neuer Produkte
Das Ergebnis einer im Sommer 2009 durchgeführten repräsentativen Studie des Beratungsunternehmens Terra Consulting Partners GmbH (TCP) offenbart, dass moderne Behandlungsprogramme gepaart mit medizinischer Fachkompetenz zum Gesundbleiben und im Krankheitsfall das künftige Profil einer GKV aus Kundensicht entscheidend bestimmen.
Gemäß Abbildung 2 stehen dabei sogar 54% der Versicherten Premium-Angeboten, die mehr kosten dürfen, aufgeschlossen gegenüber. Diese Erkenntnisse sind Hinweise darauf, dass die Kassen ihren Leistungs- und Versorgungsbereich - aus der Perspektive von Marketing – auch als Forschungs- und Entwicklungseinheit bzw. als Produktionsbereich für Gesundheitsprodukte begreifen sollten. Dies eröffnet ein völlig neues Verständnis davon, wo und wie sich eine Kasse die Ideen für Produkte und ihre Vermarktung aus ihrem ureigensten Kompetenzfeld holen kann.
Die in Abbildung 3 genannten Themen sind den Kassen fachlich bekannt. Das Marketing-Potenzial indes wird vielfach aber noch gar nicht erkannt und wird häufiger sogar mit dem Argument abgetan, „wir wollen doch keine Kasse für Hypertoniker, etc. werden“. Analog zur geforderten Entwicklung nach Spezialisierung und hohen Fallzahlen in der Krankenhausversorgung, kann es für Kassen aber sinnvoll sein, spezialisierte Kompetenz in Form von Versorgungsprodukten aufzubauen. Dies gilt insbesondere für Kassen, die ihre Chancen im Zugang zu (ehemaligen) Trägerunternehmen und bei bedeutsamen regionalen Arbeitgebern sehen. Insofern steckt allein in diesem Verständnis von Versorgung ein hohes Potenzial an Innovation.
Kommunikation: Die unterschätze Komponente
Bei der Umsetzung von Versorgungsmanagement kann auf bewährte Instrumente der Kommunikationspolitik (promotion) zurückgegriffen werden – allerdings in viel breiterem Umfang als zuvor. Bonusprogramme sind hierfür ein gutes Beispiel, da sie sowohl die enge Verknüpfung zwischen promotion und product, als auch zwischen Versorgungsmanagement und Kundenbeziehungsmanagement verdeutlichen. Zudem weisen Bonusprogramme laut Bevölkerungsmonitor der Bertelsmann Stiftung mit Abstand die höchsten Akzeptanzwerte aus Sicht der Versicherten auf und bergen damit enorme Potenziale, die weitgehend noch ungenutzt sind.
Diese ungenutzten Potenziale sind u.a. darin begründet, da bei der Mehrzahl der Instrumente funktionell betrachtet, gar nicht von Bonusprogrammen, sondern lediglich von Rabattmarkenprogrammen gesprochen werden kann. Bonusprogramme setzen voraus, dass alle Teilnehmer der jeweiligen Kasse bekannt sind. Abbildung 4 verdeut-licht, dass die GKVn derzeit schwerpunktmäßig (zu 88,1%, eher kleine GKVn) die historischen Vorläufer, d.h. die klassischen Stempel- und Rabattmarkenprogramme nutzen, während nur 11,9% (eher größere Kassen) echte Bonusprogramme einsetzen. Erstere sind v.a. dann der Fall, wenn sich Kommunikationsprozesse lediglich auf die Versendung von Bonusheften beschränken und damit das Programm im Marketing-Mix wegen der Rabattfunktion eher der Preispolitik zugeordnet werden kann. Solche Stempel- und Rabattmarkenprogramme, die nur Preis-
signale senden, üben auf das Versorgungsmanagement keine nachhaltige Wirkung aus. Echte Bonusprogramme können hingegen die Compliance und damit die Versorgungsqualität positiv beeinflussen.
Solche Stempel- und Rabattmarkenprogramme sind weder zeitgemäß, noch sind sie in der Lage nachhaltig die gewünschten Effekte im Bereich Kundenbindung oder Prävention zu erzielen. Zweifelsohne gehen von Boni unter dem Gesichtspunkt Preiswettbewerb wichtige Signalwirkungen aus.
Werden derartige Instrumente indes allein auf die Preispolitik beschränkt und nicht als Potenzial in der Kommunikationspolitik begriffen, verschenkt eine Kasse Wettbewerbsvorteile.
Denn zwischenzeitlich ist hinreichend bekannt (z.B. DIMDI-Bericht zur Steigerung der Teilnahmerate an Früherkennungsmaßnahmen), dass nicht die monetären Anreize, sondern vielmehr die Kommunikation (z.B. Reminder, telefonische Erinnerungen) dafür sorgen, dass Menschen ihr Verhalten ändern. Auf diese Weise können mit einem einfachen Marketing-Instrument versorgungsorientierte Ziele (z.B. Prävention) verwirklicht werden. Daraus folgt, dass Bonusprogramme umso werthaltiger werden, wenn sie sowohl einen echten Gesundheitsnutzen produzieren als auch die Versicherten durch einen guten Service emotional an die Kasse binden. Es ist stets diese persönliche Verbundenheit („Nicht-Wechseln-Wollen“), die im Vergleich zur Gebundenheit („Nicht-Wechseln-Können“), auf psychologischen Aspekten (z.B. durch persönliche Kontakte, vertrauensvolle und glaubwürdige Kundenbeziehung) basiert.
Wenn es einer Kasse also gelingt, ein Bonusprogramm sowohl mit den preis- als auch kommunikationspolitischen Elementen richtig auszugestalten, dann erzielt sie eine doppelte Wirkung. Zum einen im Bereich Kundenbeziehung – sprich der Neukundengewinnung und Kundenbindung – da die Einnahmeseite positiv beeinflusst wird und zum anderen auf der Ausgabenseite, da Versicherte länger in Programmen mit kontrollierter und wirksamer Gesundheitsförderung bleiben und gleichsam eine präventive Wertschöpfung erzeugen.
Marketing-Innovationen aus dem Bereich
der Kundenexzellenz
Im Grunde ist es der Marketing-Denke egal, aus welchem Bereich Produktideen zum „Bau“ von Produkten stammen. Innovativ ist es, wie gezeigt, das Versorgungsmanagement in den Marketing-Mix „p“ Produktpolitik einzubeziehen. Damit kann es einer Kasse sehr gut gelingen, zumindest temporäre Alleinstellungsmerkmale (sog. USP „unique selling propositions“) zu entwickeln und in Wettbewerbsvorteile umzusetzen, z.B. wenn es ihr gelingt, in einer Region ein Netzwerk mit Leistungserbringern zur wirksamen Osteoporose-Behandlung aufzubauen. Somit wird Versorgungsmanagement zur Produktpolitik einer Kasse – diese Produkte müssen den Kunden aber passgenau kommuniziert werden. Damit sind wir aber auch im zweiten Bereich, der Kundenexzellenz, beim „p“ für Promotion, d.h. Kommunikationspolitik. Gibt es auch hier im Markt bereits Anzeichen für Innovationen?
Wie das Beispiel Bonusprogramme gezeigt hat, nimmt die Kommunikationspolitik eine bedeutende Aufgabe war. Kommunikation kann als Schlüsselfaktor für eine erfolgreiche Preis- und Produktpolitik angesehen werden, denn die zunehmende Informations-überflutung sowie die noch ungewohnte Produktvielfalt der Kassen führen mitunter zu einer Verunsicherung oder sogar Ablehnung bei den Versicherten. Daher geht es im Kern insbesondere darum, dass die Kassen es schaffen müssen, zum großen „Vereinfacher“ zu werden. Komplexe (sozialversicherungsrechtliche und medizinische) Materie soll in eine verständliche Sprache übersetzt und vernünftig dosiert an die informationsüberfluteten Versicherten übermittelt werden.
Wenn es dann – bewusst überspitzt betrachtet – zum Beispiel der Kommunikationsabteilung von IKEA gelingt, weltweit (fast) standardisiert den Aufbau eines Kleiderschranks zum größten Teil mit Bildern zu erklären, dann sollte es den Kommunikationsexperten in der GKV auch möglich sein, die komplexen Themen wie Chronikerprogramme oder Hausarztzentrierte Versorgung in einfacher und korrekter Form den Versicherten zu vermitteln. (Abb 5.)
Dabei kann gemäß Abbildung fünf auf elf Instrumente zurückgegriffen werden – die mobile services sind neben den social media sicherlich die allerneuesten Werkzeuge. Sie ermöglichen Interaktionen in Lebensbereichen der Versicherten, in denen sie sonst gar nicht adressierbar sind. Eine gezielte Kundenansprache via elektronische Medien gilt als eine Zukunftsform in der Kommunikationspolitik, um Streuverluste zu vermeiden. Bereits 31 von 166 Kassen, die in der TCP-smartPhone Studie im Juni 2010 getestet wurden, konnten mobile services wie z.B. ein Portal, Applikationen, Messaging, anbieten (Abb. 6).
Damit ergeben sich insbesondere für junge Zielgruppen Chancen, dass sich eine Kasse klar bei ihnen profilieren kann. Für bestimmte Kundenzielgruppen, z.B. sportlich affine Versicherte, lassen sich „high value added services“ entwickeln, die z.B. Fitness und Mobilität miteinander verknüpfen. Präventionsmuffel hingegen können auf ihre nächsten Früherkennungsmaßnahmen oder Impf-Updates erinnert werden, die zusätzlich bonifiziert werden. Oder, mobile Anwendungen zur Buchung und Bestätigung von Terminen bei Leistungserbringern stiften für sehr viele Zielgruppen unter den Versicherten aber auch bei z.B. Ärzten zur Reduktion der „no-shows“ hohen Nutzen. Sie basieren auf dem Einsatz modernster Technologie in einer sehr einfachen Anwendungsumgebung.
Fazit
Die Gesetzliche Krankenversicherung bietet ein weites Feld an Möglichkeiten für Innovationen im Marketing. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass das Versorgungsmanagement aus der Perspektive von Produktpolitik im Marketing-Mix betrachtet wird. Allein diese Verknüpfung ist bereits innovativ. Damit sie aber auch beim „Kunden“ ankommt, ist eine enge Verknüpfung mit dem zweiten Element im Marketing-Mix, d.h. der Kommunikationspolitik, erforderlich. Gerade richtig verstandene und professionell aufgesetzte Bonusprogramme können eine zentrale Hilfestellung leisten, um sowohl die Kundenbindung zu stärken, als auch Kostenvorteile z.B. im Präventionsbereich nachhaltig zu sichern.<<
von: Dr. Michael Sander*
Viviane Scherenberg**