Ebenso wie die Zulassung neuer Wirkstoffe kann auch die Zulassungserweiterung bestehender Wirkstoffe beträchtliche Auswirkungen auf die Arzneimittelversorgung haben. Dies ist vor allem in so stark wachsenden Indikationsgebieten wie Diabetes mellitus von hohem Interesse. Nach INSIGHT Health hat die Anzahl an Antidiabetika-Verordnungen alleine seit 2004 um durchschnittlich 3,8 % pro Jahr zugenommen – im Vergleich zu 1,5 % bei den gesamten GKV-Arzneimittelverordnungen. Am Beispiel des 2007 eingeführten Antidiabetikums Sitagliptin, dessen Zulassungsspektrum in der zweiten Jahreshälfte 2009 deutlich erweitert wurde, sollen in diesem Beitrag erste Tendenzen zu dem veränderten Verordnungsverhalten aufgezeigt werden.
>> Im Rahmen einer unterstützenden pharmakologischen Therapie des Diabetes mellitus Typ 2 stehen neben Insulin verschiedene orale Antidiabetika zur Verfügung. Unter diesen befindet sich die Wirkstoffklasse der DPP-IV-Hemmer und als prominenter Vertreter dieser Klasse der Wirkstoff Sitagliptin. DPP-IV-Hemmer werden in Form von Tabletten eingenommen und verzögern den Abbau körpereigener Inkretine, wodurch die Insulinfreisetzung gesteigert wird (vgl. Häussler, Bertram et al.: Arzneimittel-Atlas 2009, S. 90). Sitagliptin wurde erstmalig zugelassen für die Kombinationstherapie mit anderen oralen Antidiabetika im März 2007, im September 2009 erfolgte eine erweiterte Zulassung für die Monotherapie (eingeschränkt) sowie im Oktober 2009 – als erster und bisher einziger Wirkstoff aus der Gruppe der DDP-IV-Hemmer – für die Zusatztherapie mit Insulin. Diese Zulassungserweiterungen lassen Auswirkungen auf den Verordnungsmarkt der oralen Antidiabetika und die Medikation der Typ-2-Diabetiker erwarten. Aus der Entwicklung des Marktes für orale Antidiabetika leiten sich zugleich Fragen für die Versorgungsforschung ab, wie:
• Können bereits Veränderungen im Verordnungsverhalten der Ärzte hinsichtlich der DPP-IV-Hemmer beobachtet werden, die u. a. auf die Zulassungserweiterung für Sitagliptin zurückzuführen sind?
• Ist in der nächsten Zeit mit einer steigenden Bedeutung von Sitagliptin als Begleitmedikation für insulinpflichtige Diabetiker zu rechnen?
Mit pseudonymisierten
Patientendaten
Medikationshistorien abbilden
Um Hinweise zur Beantwortung der Fragestellungen zu erlangen, wurde die Entwicklung der Arzneimittelverordnungen anhand der Datenbank „Patienten Tracking“ von INSIGHT Health betrachtet. In dieser Datenbank befinden sich die Arzneimittel-Verordnungsdaten von rund zehn Millionen GKV-Patienten mit insgesamt über 300 Millionen GKV-Verordnungen seit 2003. Die Daten sind repräsentativ für die Bundesrepublik Deutschland sowie für alle einzelnen Bundesländer. Verfügbar sind die Merkmale Alter, Geschlecht und Krankenkasse. Die Daten liegen grundsätzlich pseudonymisiert vor und ermöglichen dadurch auch eine langfristige Beobachtung der ambulanten Medikationshistorie der Versicherten.
Für eine erste Vorabanalyse wurde folgender Ansatz zur Betrachtung der Entwicklung innerhalb der acht Kalenderquartale von 2008 bis 2009 gewählt:
• Ermittlung der Patienten mit Therapie-Neueinstellung auf DPP-IV-Hemmer (ATC: A10N1) als Monopräparat sowie als Kombinationspräparat mit Biguanid-Antidiabetika (ATC: A10N3) (die ATC-Gruppen beziehen sich auf die anatomisch-therapeutisch-chemische Klassifikation nach EphMRA - European Pharmaceutical Market Research Organisation)
• Betrachtung der Patienten, die in den jeweiligen Quartalen mindestens eine Verordnung eines DPP-IV-Hemmers als Mono- oder Kombinationspräparat (s.o.) erhielten
• Betrachtung der jeweiligen Geschlechts- und Altersverteilung (s.o.)
• Entwicklung der Zusatzmedikation bei Insulinpatienten (Diabetes mellitus Typ 1 + Typ 2)
bezogen auf Sitagliptin als Monopräparat und Sitagliptin als Kombinationspräparat mit Metformin (s.o.)
Therapie-Neueinstellungen als Frühindikator für die weitere Verordnungsentwicklung
Die Therapie-Neueinstellungen auf einen Wirkstoff sind ein geeigneter Frühindikator für die weitere Entwicklung in der medikamentösen Versorgung von Patienten. Eine Analyse der neu auf DPP-IV-Hemmer eingestellten Patienten zeigt dabei folgendes Bild:
Die Zahl der Neueinstellungen war vom vierten Quartal 2008 bis einschließlich drittem Quartal 2009 in der Summe der Mono- und Kombinationspräparate relativ stabil. Im vierten Quartal 2009 stiegen erstmalig beide Komponenten deutlich an. So wurden in diesem Quartal insgesamt fast 15.000 Patienten mehr neu eingestellt. Der größte Anstieg lag bei den Neueinstellungen auf ein Monopräparat (8.400), etwas weniger bei den Kombinationspräparaten (6.300).
Als Trend seit der Zulassungserweiterung von Sitagliptin ist demnach ein deutlicher Anstieg der neu eingestellten Patienten sowohl mit Kombinationspräparat als auch mit Monopräparat zu verzeichnen (vgl. Abb. 1).
Die Patientenzahlen für DPP-IV-Hemmer haben sich im betrachteten Zeitraum der letzten beiden Jahre deutlich erhöht (vgl. Abb. 2). Während im ersten Quartal 2008 lediglich ca. 38.000 GKV-Patienten mit DPP-IV-Hemmern therapiert wurden, lag die Zahl bei isolierter Betrachtung der DPP-IV-Monopräparate im vierten Quartal 2009 mit 85.000 Patienten bereits mehr als doppelt so hoch. Kombinationspräparate, deren Einführung erst im Mai bzw. August 2008 erfolgte, wurden im vierten Quartal 2009 bereits an über 110.000 Patienten verordnet. Gerade mal ein Jahr nach Einführung der Kombinationspräparate lag die Anzahl der hiermit therapierten Patienten schon über der Anzahl mit Monopräparaten therapierten Patienten.
Geschlechts-/Altersverteilung
Hinsichtlich der Verteilung zwischen beiden Geschlechtern gab es in der Subgruppe der Kombinationspräparate im ersten Quartal 2008 mit 57 % einen Überhang beim männlichen Geschlecht, der sich zum vierten Quartal 2009 mit 55 % leicht abgeschwächt hat. Eine analoge Betrachtung der Entwicklung der Verordnung von DPP-IV-Hemmern als Monopräparate wies mit 52 % Verordnungsanteil der Männer nur unwesentliche Unterschiede auf – und dies ohne Veränderungen im betrachteten Zeitabschnitt.
Der Altersdurchschnitt der Patienten lag 2009 bei den DPP-IV-Hemmer-Monopräparaten bei 64,5 Jahren und bei den DPP-IV-Hemmern/Biguanid-Antidiabetika-Kombinationspräparaten bei 62,5 Jahren, wobei ca. 98 % der mit DPP-IV-Hemmern behandelten Patienten über 40 Jahre alt sind. Auch die Altersverteilung weist über die betrachtete Zeitperiode hinweg keine wesentlichen Schwankungen auf.
Sitagliptin als Co-Medikation
Versucht man einen Ausblick in die weitere Entwicklung für 2010, so ist bedingt durch die erweiterte Zulassung von Sitagliptin zur Kombinationstherapie mit Insulin eine Zunahme der Neueinstellungen sowie Patientenzahlen zu erwarten. Es werden vermehrt Insulinpatienten zusätzlich ein Sitagliptin-Präparat erhalten. Dieser Trend kann bereits mit aktuellen Zahlen von INSIGHT Health aus dem 4. Quartal 2009 gezeigt werden. Während im 3. Quartal 2009 0,6 % der Insulinpatienten Sitagliptin erhielten, waren es im Folgequartal bereits 0,9 % der insulinpflichtigen Diabetiker (Abb. 3).
Es wird interessant sein zu verfolgen, inwieweit diese Trends der Co-Medikation von Sitagliptin bei Insulinpatienten und der steigenden Anzahl von Patienten, die Sitagliptin erstmals als Mono- oder Kombinationspräparat verordnet bekommen, auch in den Folgequartalen anhalten oder sich ggf. sogar noch verstärken werden. Eine umfassende und längerfristig angelegte Versorgungsforschungsstudie zu diesem Thema sollte darüber hinaus auch den Nutzen dieser neuartigen Therapieregimes für die Patienten offen legen. <<
von: Andreas Kuldschun/Rabea Ponzel*