„Qualität ist bereits ein ökonomischer Faktor und Qualität ist meines Erachtens unbedingt auch profitabel.“ Mit diesen Worten positioniert sich die Vorsitzende des Aktionsbündnisses Patientensicherheit e.V., Hedwig François-Kettner, eindeutig pro qualitätsorientierte Bedarfsplanung für Krankenhäuser. Sie schränkt das aber gleich wieder ein, denn ihrer Meinung nach „sind wir heute noch nicht so weit, dass wir eine qualitätsorientierte Honorierung gesamtgesellschaftlich für das System in Angriff“ nehmen könnten. Sie weiß als langjährige Pflegedirektorin der Berliner Charité mit Verantwortung für 4.100 Pflegekräfte sehr genau, wovon sie im Interview in „Monitor Versorgungsforrschung“ spricht.
>> Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe hat vorgeschlagen, die bestehenden Qualitätsindikatoren zu nutzen, um eine gemeinsame Bedarfsplanung für Krankenhäuser und Ärzte zu schaffen und sogar die Honorierung danach zu steuern. Ist es im Sinne des Aktionsbündnisses Patientensicherheit, wenn Qualität zum ökonomischen Faktor wird?
Qualität ist bereits ein ökonomischer Faktor und Qualität ist meines Erachtens unbedingt auch profitabel. Nur werden gelegentlich qualitative Verbesserungen unterlassen mit Hinweis auf Kostensteigerungen. Der Ansatz kann positive Impulse geben. Leider sind wir heute noch nicht so weit, dass wir eine qualitätsorientierte Honorierung gesamtgesellschaftlich für das System in Angriff nehmen könnten. Um so etwas zu machen, braucht es meines Erachtens eine Gesamtschau und es bedarf eines Rahmenkonzeptes. eine Bestandsaufnahme des deutschen Gesundheitswesens samt seiner regionalen Unterschiede und der entsprechenden Bedarfe. Insofern unterstütze ich die Planungsvorstellungen des Bundesgesundheitsministers Gröhe. „Die Qual mit der Qualität“ und wie gut eine Klinik wirklich ist, aber auch, wie schwer es ist gängige Qualitätskriterien zu einer objektiven Ergebnisbeurteilung anzulegen wird längst auch in der Öffentlichkeit diskutiert und im Juli sehr anschaulich von Werner Bartens in der „Süddeutschen Zeitung“ beschrieben.
Die Übersicht über die regionalen Qualitätsunterschiede und die Analyse ihrer Ursachen finden Sie fast wichtiger als Bedarfsplanung und Honorierung?
Nicht wichtiger – nur sollte man nicht den zweiten vor dem ersten Schritt machen. Eine Angebots- und Bedarfsanalyse sollte vorgeschaltet sein. Die regionalen Bedarfsanalysen dürfen dabei vor allem nicht an Landesgrenzen aufhören, d. h. auch eine Krankenhausplanung muss letztlich aus der Vogelperspektive über Ländergrenzen hinweg geschehen. Für eine qualitätsorientierte Honorierung ist es meines Erachtens noch zu früh, ich bin auch nicht wirklich sicher, ob sie in jedem Fall sinnvoll ist.
Zu früh? Wie lange soll man denn warten?
Wir wissen zurzeit einfach noch nicht genug. Denken wir doch einmal an die Landstriche in Deutschland, in denen jetzt die Bevölkerung schrumpft. Es ist doch eigentlich selbstverständlich, dass man dort nicht alle Angebote direkt vor Ort vorhalten kann und eigentlich auch nicht muss, wenn man es schafft, dafür andere versorgungssichernde Strukturen herzustellen. Genau das haben wir aber noch nicht getan.
Das liegt auch und vielleicht vor allem daran, dass wir noch keine einsatzfähige elektronische Gesundheitskarte haben, die Patientenbedürfnisse strukturbasiert abbilden könnte, weil sich durch und mit ihr die tatsächlichen – und nicht von gestern auf morgen prognostizierte – Bedarfe abzeichnen würden.
Was sicher auch noch fehlt, wäre ein sinnvoller Pay-for-Performance-Ansatz, der auch „Non Pay for Non Performance“ bedeuten würde. Ist denn unser System für ein solches Umdenken in tatsächlich für den Patienten erbrachten Leistungen überhaupt bereit?
Es gibt doch heute bereits Abschläge. Pay for Performance wäre eigentlich nur eine Verdichtung dieses real existenten Malus-Systems. Doch auch hier ist davor zu warnen, dass unsere derzeitige Struktur einige dicke Probleme mit sich bringt, die die zu erwartenden Vorteile mehr als aufwiegen könnten.
Ein Beispiel?
Denken wir an die Pflege, in der bereits heute beispielsweise ein Abschlag existiert, wenn ein Patient einen Dekubitus bekommt. Wenn man aber nun in einem Nachtdienst eine Krankenschwester für 45 Patienten einsetzt, und erwartet, dass sie 30 Patienten alle zwei Stunden fachadäquat lagert, dann kann man sich ganz einfach ausrechnen, dass das schon alleine aus zeitlichen Gründen nicht funktionieren kann. Das heißt nichts anderes, als dass wir es hier mit einem strukturellen Problem zu tun haben, um das sich unser Gesundheitssystem derzeit überhaupt nicht bzw. nicht ausreichend genug kümmert. Sicher wird mal hier, mal da ein kleines Förderprogramm ins Leben gerufen, das aber nicht mehr als ein Pflaster und bloßes Alibi ist. Dieses Vorgehen ist eines der großen Grundprobleme unseres Systems. Besonders aus diesem Grund finde ich ggf. sinnvolle Ansätze wie qualitätsorientierte Honorierung oder Methoden wie Pay for Performance verfrüht, um nicht zu sagen: schädlich.
Was halten Sie denn vom Streik der Pflegekräfte, der kürzlich an der Charité stattfand?
Ich kann die Gründe für diesen Streik gut nachvollziehen. Ich bin ja dort lange selbst Pflegedirektorin gewesen. Während dieser Zeit habe ich immer wieder und an sehr unterschiedlichen Stellen darauf hingewiesen, dass die personelle Struktur nicht ausreicht, um in allen Schichten eine qualitativ hochwertige und ausreichende Pflege zu gewährleisten.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Charité europaweit eine der Kliniken ist, die viele Patienten mit hohem Risiko versorgt. Allein diese Tatsache sorgt schon für einen deutlichen Mehraufwand im Vergleich zu allen anderen Krankenhäusern um die Charité herum. Dieser Mehraufwand ist in keinster Weise in den Pflegeplänen abgedeckt. Daher kann ich die Gründe für den Streik voll verstehen. Allerdings bin ich der Auffassung, dass die Arbeitgeber dafür zuständig sind, ausreichend Personal zur Verfügung zu stellen, allein schon aus Qualitätsgründen. Die Politik hat die Rahmenbedingungen dafür sicherzustellen.
Wie ist der Status quo der Qualität in deutschen Krankenhäusern?
Aus vielen Richtungen laufen Meldungen auf, nach denen der Status gar nicht so schlecht ist. Gefühlt ist der Status sogar recht gut. Das spiegeln uns vor allem viele Patienten wider, die im Ausland behandelt und versorgt wurden, immer nach dem Motto: Im Krankheitsfall bloß schnell nach Hause, nach Deutschland. Das wird selbst von unserem derzeitigen Bundesgesundheitsminister immer wieder betont.
Auch Zahlen spiegeln diesen Eindruck wider. Unser Gesundheitswesen ist, was die einzelne Aktivität der einzelnen Akteure anbelangt, wirklich gut, besonders im Akutbereich. Doch eigentlich wissen wir viel zu wenig Genaues darüber, denn wir wissen auch um Fehler, um unerwünschte Ereignisse, die immer wieder auftreten. Im Aktionsbündnis Patientensicherheit befassen wir uns insbesondere mit diesen Hinweisen und Erkenntnissen.
Da sind wir bei einer Zeitschrift für Versorgungsforschung gerade an der richtigen Stelle. Was müssten wir besser und genauer wissen?
Wir müssten zum Beispiel sehen, wie es sich mit der Gesundheits- und Krankheitsentwicklung im Laufe der Jahre tatsächlich verhält. Und ebenso, welche Faktoren entscheidend dafür sind, dass Versorgung besser oder schlechter wird. Heute werden viele Ausschnitte, viele Interventionen gesondert erfasst und manchmal auch analysiert, aber gerade die Zusammenschau fehlt, auch im Internationalen Vergleich.
Sicher gibt es, wenn auch erst seit wenigen Jahren, ein Klinisches Krebsregister, ein Traumaregister, ein Berliner Herzinfarktregister oder z. B. das Endoprothesenregister. Für viele einzelne Segmente und Indikationen gibt es somit einzelne Register und Versorgungsforschung, doch keine Instanz die diese Daten zusammenführt. Denn jeder der Registerhalter betrachtet die von ihm gesammelten Daten als sein Eigentum.
Das ist ein wichtiger Punkt: Die Daten müssten zusammengebracht werden und gehören an und für sich dem Patienten.
Das ist aber nur ein Punkt von vielen. Denken wir einmal an Behandlungsfehler. Die Bundesärztekammer sichtet und bewertet gemeldete Behandlungsfehler, aber auch die Krankenkassen und die Haftpflichtversicherungen. Doch auch hier werden die jeweils gesammelten Daten nicht übergreifend zusammengeführt, sie werden wie persönliches Eigentum behandelt. Eigentlich sind alle Daten, die im Gesundheitssystem erhoben werden, von wem auch immer, vom Patienten stammende oder zumindest von ihm ausgelöste Daten, die der Öffentlichkeit natürlich anonymisiert zur Verfügung stehen müssten, weil wir sie systemseitig und gemeinsam zur Verbesserung von Qualität und Bedarfsplanung dringend brauchen.
Um zurückzukehren zur Ausgangsfrage.
Das ist ganz einfach: Auch weil die Daten nicht genügend zusammengeführt werden, wissen wir heute in vielen Fällen nicht, wo wir nun genau stehen: wie gut sind wir oder wie schlecht? Und: Wo könnten wir besser sein? Anders ausgedrückt: Gefühlt sind wir ganz gut, gemessen weiß man es nicht.
Warum können denn die jeweiligen Erheber die Daten als ihr Eigentum betrachten?
Das ist unser System, das föderal und Sektor-bezogen funktioniert. Zudem wird unser Gesundheitswesen durch eine Selbstverwaltung gesteuert, die systemseitig mal mehr mal weniger und manchmal auch gar nicht moderiert wird.
Sie sind gegen Selbstverwaltung?
Aber nein, ich befürworte die Selbstverwaltung, die allerdings im Sinne des Allgemeinwohls zu funktionieren hat. Doch genau deswegen braucht es jemanden, der im Gesamtsystem sozusagen Dirigent oder Moderator ist. Dieser Dirigent, nennen wir die Funktion ruhig einmal so, hat die Aufgabe, mit den entsprechenden Akteuren gemeinsam auf das zu schauen, was für die Gesundheitsversorgung der Republik das Beste ist, nicht nur für die Bänke der Selbstverwaltung. Eine derartige Gesamt-Sichtweise würde unserem Gesundheitssystem eine ganz neue, weit deutlich patientenfokussiertere Richtung geben. Das wäre natürlich ein Paradigmenwechsel im Vergleich zum heutigen Status quo.
Doch: Ist das durchsetzungs- oder auch nur mehrheitsfähig?
Nein. Denn daran ist im Moment keine Partei interessiert. Das würde bedeuten, sich nicht länger nur mit Reformen und Reförmchen zu beschäftigen, sondern sich ernsthaft an einen Umbau des Systems zu wagen.
Bisher wird doch vieles aus rein ökonomischer Sichtweise heraus betrachtet, anstatt eine Vision eines zukunftssicheren Gesundheitssystems vor Augen zu haben.
Dem ist leider so. Das ist meine persönliche Ansicht, nicht eine des Aktionsbündnisses Patientensicherheit. Doch als Person stehe ich dazu, mir fehlt einfach ein geschickter Dirigent des Systems Gesundheitswirtschaft. Und wo wir schon mal dabei sind: Wieso ist die Gesundheitswirtschaft überhaupt eine Wirtschaft, die Gewinne abwerfen muss? Ich bin der Auffassung, dass ein zukunftssicheres Gesundheitssystem ein Non-Profit-Unterfangen sein muss, das darauf ausgelegt ist, jeden Cent, den es verdient, in die Verbesserung der Versorgung zu investieren. Sei es nun in Struktur, in Mitarbeiter oder auch in wichtige und notwendige Versorgungsforschungsstudien, die helfen, unser Gesundheitssystem wirklich nach vorne zu bringen.
Ich bin nicht der Meinung, dass mit Erlösen aus dem Gesundheitswesen Aktionäre bedient werden sollten. Auch das ist meine rein persönliche Haltung.
Andererseits haben Sie vorhin gesagt, dass Ökonomie nur eine Seite der Medaille wäre. Auf der anderen finden sich historisch gewachsene föderale, regionalpolitische und auch Standesinteressen, die einer sinnvollen Gesamtverbesserung des Systems als Hindernisse entgegenstehen.
Das ist durchaus richtig.
Für die nächste Stufe, nämlich die Honorar- und Bedarfsplanung, fehlen uns Ihrer Ansicht nach derzeit noch ganz viele Informationen. Andererseits gibt es bereits heute eine Fülle, ja Tausende von einzelnen Qualitätsindikatoren. Messen wir denn in Bezug auf Qualität das Falsche?
Das will ich gar nicht sagen. Ich habe in meiner Amtszeit selbst sehr viel gemessen, wie eben zum Beispiel die Verläufe der Dekubitus, die Verläufe der Patientenzufriedenheit oder der Sturzaufkommen oder anderes. Ebenso habe ich die Qualität der Dokumentation im Kontext der realen Patientenbeobachtungsergebnisse überprüfen lassen All diese Dinge sind ja auch wichtig, um Handlungsbedarf zu kennen und die entsprechenden Entscheidungen dazu herbei zu führen. Mit der externen Qualitätssicherung wurde meines Erachtens eine gute Grundlage gelegt, auf der man aufbauen konnte.
Aber ich kann all die erhobenen Daten heute immer noch nicht ohne weiteres mit Daten anderer Häuser vergleichen. Zumindest nicht durchgängig. Um beim Beispiel Dekubitus zu bleiben: Es ist nicht unerheblich, welche Risikofaktoren ein Patient hat, um einen Dekubitus zu bekommen. Wenn man einen Patienten vor sich hat, den man aufgrund seines Hirndrucks nicht lagern darf, ist es nun einmal sehr wahrscheinlich, dass er einen Dekubitus bekommen wird. Muss dann das Krankenhaus einen Abschlag hinnehmen? Das heißt: Qualitätsmessung an und für sich ist gut. Nur muss man wissen, was man misst, und daraus die richtigen Schlüsse ziehen. Das aber ist nicht immer einfach.
Der Krankenhausreport macht deutlich, dass größere Erfahrung und Routine Einfluss auf bessere Qualitätsergebnisse zu haben scheint. Wer könnte sich denn darum kümmern, dass man solche Fakten genauer erforscht?
Die Verbünde der Versorgungsforschung und anstehende Versorgungsforschungs-Förderungen etwa durch den Innovationsfonds haben hier ein Aufgabengebiet. Als APS erwarten wir, dass die Anliegen der Patientensicherheit geprüft und gefördert werden. Neben den temporären Projektschwerpunkten ist es eigentlich eine Aufgabe von Universitäten und öffentlichen Instituten. Damit können die daraus erhobenen Daten eben nicht in irgendeiner Schublade verschwinden, sondern stehen der Allgemeinheit zur Verfügung.
Jetzt haben wir schon zwei Qualitätsinstitute und bald ein drittes. Bräuchten wir vielleicht noch ein viertes Institut?
Wir brauchen nicht eine große Anzahl von Instituten, sondern eine Vielzahl von Aktivitäten. All diese Institute, ob nun drei oder vier, sind in die bestehenden Strukturen eingebunden und damit dem jetzigen System verhaftet. Ein System sollte man unabhängig von außen betrachten, wenn man es grundlegend reformieren will. Eigentlich müssten wir mit klugen, unabhängigen Leuten einen ausreichend langen Workshop veranstalten und definieren, wie das System aussehen sollte, in dem wir alle möglichst gesund alt werden wollen.
Was sagen Sie zu den sich bildenden Pflegekammern? Was halten Sie davon? Sind sie ein Teil eines zukunftsweisenden Gesundheitssystems?
So lange wie wir in einem Kammersystem leben, muss auch die Pflege eine Kammer bekommen. Das ist meine feste Überzeugung. Wenn irgendwann einmal in Deutschland eine Gesundheitskammer existieren würde, könnte ich mir auch andere Konstrukte vorstellen, die weniger „Bänke“-behaftet sind. Aber im ersten Schritt wird eine Kammer dazu führen, dass die Pflege selbst dazu im Stande sein wird, zu definieren, was Qualität sein soll und was nicht. Bisher wird der Pflegeprofession vorgegeben, was Pflege-Qualität sei – und das ist nicht gerade das Bestmögliche.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Nehmen wir beispielsweise die Entbürokratisierung der Pflegedokumentation. Ich bin skeptisch, ob das ohne gleichzeitige fachliche Ergebnisevaluation und rasche Anpassungen bei Fehlentwicklungen wirklich gut funktionieren wird. Nicht weil dieser Ansatz per se nicht funktionieren könnte, sondern weil hier wesentlich aus ökonomischen Gesichtspunkten agiert wird. Wenn man dann künftig zwar weniger, aber vielleicht die falschen Faktoren misst, muss man sich nicht wundern, wenn sich die Qualität nicht verbessert. Natürlich stimmt es, dass die Dokumentation verschlankt werden muss, aber das muss die Pflege selbst entwickeln. Doch bisher passiert das, wenn es denn passiert, in unserer Freizeit. Denn bisher ist alles Übergreifende und Weiterführende in der Pflege sehr oft im Ehrenamt zu erbringen.
Das kann doch nicht länger so bleiben.
Doch derzeit ist oft kaum jemand da, der auch nur Gesetzeskommentierungen ordentlich vorbereiten kann. Das machen die wenigen Aktiven um Mitternacht – oft nach ihrer Spätschicht. Das ist doch kein Zustand! Auch aus diesen Gründen kämpfe ich für Pflegekammern.
Eine der zentralen Aussagen des Aktionsbündnisses ist es, dass bei Behandlungsfehlern oder allgemein unerwünschten gesundheitlichen Ereignissen eigentlich nur die Spitze dieses Eisbergs betrachtet wird.
Diese Feststellung ist wissenschaftlich gut untermauert. Schon der Sachverständigenrat für Gesundheit hat in seinem Jahresgutachten 2003 dieses Bild gewählt. Ich bin keine Wissenschaftlerin, sondern eine pragmatische Person, die 47 Jahre lang im Gesundheitswesen gearbeitet hat. Ich weiß nur allzu gut, dass nie alles ans Licht kommen wird. Darum können wir schon froh sein, die Spitze des Eisbergs zu sehen; auch wenn das das Einzige ist, was ans Licht kommt.
Das ist sicher eine sehr hohe Dunkelziffer, oder?
Davon ist auszugehen. Wissenschaftliche Schätzungen zeigen, dass höchstens jeder 30ste Fall gemeldet wird, vermutlich nur jeder 100ste. Wir können über die tatsächliche Anzahl nur schwer eine genaue Antwort bekommen. Genau das ist das Problem, weil die Dunkelziffer immer viel höher sein wird, als die Zahl der berichteten Fälle. Das ist aber überall so und auch sehr menschlich.
Hat das Aktionsbündnis genauere Zahlen?
Grundlage für die Fehlerschätzungen ist ein systematischer Review aller relevanten Studien veröffentlicht in den APS-Jahresberichten 2008 und 2009. Neuere Untersuchungen bestätigen diese Aussagen, es gibt keine Belege, dass sich die Fehlerhäufigkeiten grundlegend geändert hätten.
Kommen wir zu den nicht sichtbaren 80 Prozent des Eisbergs. Haben Sie Vermutungen darüber, wo die Probleme der nicht bekannt werdenden Behandlungsfehler liegen?
Wir haben im Aktionsbündnis sehr viele Erkenntnisse zu unerwünschten Ereignissen, die auch heute noch allzu oft ausgelöst werden durch eine mangelnde Überleitung in das Krankenhaus. Deswegen plädieren wir für eine einheitliche Patientenakte, mindestens in den Punkten, die relevant sind für einen Krankenhausaufenthalt. Das Institut für Patientensicherheit – eine Stiftungsprofessur des Aktionsbündnis Patientensicherheit – hat gerade in Bonn in Zusammenarbeit mit dem ÄZQ die Studie High-5 abgeschlossen. Die ersten Ergebnisse sind ebenso deutlich wie dramatisch: Selbst in den mutigen Pilotkliniken, die dabei waren – und das waren sicher nicht die schlechten in Deutschland – wurden bis zu 50 Prozent Fehler bei der Medikation gesehen. Auch wenn die Ergebnisse* nicht repräsentativ waren, so sind sie aufschlussreich und bedürfen unserer aller Intervention, denn sie zeigen exemplarisch Handlungsbedarf auf.
50 Prozent. Ist ja eigentlich ein unglaublicher Skandal.
Es zeigt die Komplexität der Aufgabe und wie häufig etwas dabei schief gehen kann. Leider! Das Problem ist vielschichtig und bedarf systembedingter Interaktionen. Wenn ein Patient ins Krankenhaus kommt, nimmt er oft schon jahrelang von seinem Hausarzt verordnete Medikamente, die aber das Krankenhaus nicht vorrätig hat. Das Krankenhaus wird also eine Umstellung vornehmen. Manchmal macht das der Assistenzarzt und sicher wird auch manchmal nicht so genau drauf geschaut, ob eine Substitution wirklich so einfach möglich ist, z.B. hinsichtlich Wirkstoffgleichheit und Bioverfügbarkeit. Wir haben durch die Studienergebnisse raschen Anlass zur Kommunikation mit den Akteuren gesehen, die durchführenden Institutionen erarbeiten ein Manual zur sicheren Medikationsumstellung. Wobei dazu kommt, dass beim Entlass-Management häufig der umgekehrte Vorgang noch einmal passiert. Der behandelnde Hausarzt bekommt vielleicht einen Arztbrief, auf dem eine Medikationsänderung empfohlen wird, der nicht immer und sicher gefolgt wird.
Eine von allen zu nutzende Patientenakte ist da sicherlich nützlich.
Das Aktionsbündnis Patientensicherheit hat vor kurzem ein Positionspapier herausgegeben, das gemeinsam mit Patienten erarbeitet wurde. Darin wird vorgeschlagen, dass zumindest die Notfalldaten und andere wichtige Medikationsdaten auf einer oder über eine elektronische Gesundheitskarte des Patienten unbedingt schnell verfügbar sein müssen.
Wenn da nicht der Datenschutz wäre.
Das ist aus unserer Erfahrung heraus oft nur ein vorgeschobener Grund. Die bisherigen Widerstände einzelner Akteure werden hoffentlich mit dem E-Health-Gesetz im Sinne einer höheren Patientensicherheit beendet.
Auf welche Einstellung zur Patientensicherheit treffen Sie denn bei den verschiedenen Akteuren? Sind die eher grundsätzlich positiv, eher skeptisch oder erleben Sie sie gar als Hindernis?
Ich habe gerade mit unserem Positionspapier zur elektronischen Gesundheitskarte eine ganz erstaunliche Erfahrung gemacht. Am Anfang schlug uns regelrecht Aggression entgegen, verbunden mit der Frage, warum sich das Aktionsbündnis Patientensicherheit überhaupt um die Gesundheitskarte kümmert.
Warum denn Aggression?
Viele Beteiligte fürchten, zu transparent und durchsichtig zu werden. Das kann man zwar verstehen, aber man muss das ins richtige Verhältnis rücken. Das ist mir in einigen Aussprachen tatsächlich gelungen. Das Wichtigste ist: Wir haben gezeigt, dass wir mutiger geworden sind, auch unbequeme Dinge auf den Plan zu heben. Wir müssen aufhören, uns vor unangenehmen Themen weg zu ducken.
Den Anspruch, für das Beste des Patienten zu arbeiten, haben doch mit Sicherheit alle, zumindest nach außen.
Sicher. Da ist so. Deswegen bin ich auch dagegen, dass in der Presse sehr schnell skandalisiert wird. Keiner, der im Gesundheitssystem arbeitet, steht doch morgens auf und nimmt sich vor, einen Fehler zu machen. Jeder möchte so gut wie möglich arbeiten.
Doch dafür müssen wir den vielen Menschen, die im Gesundheitssystem engagiert mitwirken, die richtigen Strukturen geben und ihnen den Rücken stärken. Wenn irgendetwas jedoch nicht in Ordnung ist, dann muss man dazu stehen und daraus lernen. Jeder Einzelne und vor allem das System.
Sind viele Medien, die oft vor allem Interesse an Skandalen haben, für eine gute Fehlerkultur nicht eher hinderlich?
Kurz etwas zu den Begriffen: nicht „Fehlerkultur“, denn Fehler sollen nicht kultiviert werden. Wir wollen eine Sicherheitskultur implementieren und etablieren. Und Skandalisierung schadet der Patientensicherheit. Das APS hat sich in Stellungnahmen gegen eine Skandalisierung in der öffentlichen Berichterstattung über Behandlungsfehler gewandt und für eine sachliche zielorientierte Diskussion geworben. Das darf uns trotzdem nicht davon abhalten, genau zu analysieren, welche Gründe zu einem bestimmten Fehler geführt haben. Wenn man genau hinschaut, sind es oft auch nicht auf einzelne Personen reduzierbare Fehler, sondern häufig systembedingte und durch systembedingt kumulierte Schwächen ermöglichte. Darum brauchen wir eine neue Sicherheitskultur, in der es nicht um Schuldzuweisung, sondern um Problemlösung geht.
Sehen Sie die Krankenhäuser, Pflegeheime und andere schon auf dem Weg dahin? Oder sind wir noch weitgehend beim Vertuschen, Vergessen und Begraben?
Es gibt viele Einrichtungen, die sehr stringent an einer positiven Sicherheitskultur arbeiten. Das hat vor allem sehr viel mit Führung zu tun. Leider ist es so, dass wir gerade in Gesundheitseinrichtungen noch enorme Führungsschwächen haben. Viele denken immer noch mehr in der Kategorie Strafe, denn in jener der Aufklärung und des Lernens aus den Fehlern. Und wieder andere verwehren sich total, weil Fehler bei ihnen angeblich überhaupt nicht vorkommen.
Das liegt aber doch auch wieder am System selbst.
Wer die Mortalitätsrate als Kriterium nimmt, muss sich darüber nicht wundern. Insgesamt sehen wir aber große Fortschritte in den letzten zehn Jahren beim Ausbau des klinischen Risikomanagements im speziellen und generell bei der Beförderung der Patientensicherheits-Kultur. Die Arbeit der APS-Mitglieder hat hierzu sicherlich wertvolle Beiträge geleistet.
Denoch: Die Mortalität ist für den Vergleich von Krankenhäusern mit oft ganz unterschiedlichen Patienten sicherlich nicht das beste Kriterium.
Dass Menschen sterben und dies in der Altenpflege in Würde der „normale“ Weg ist, kann zumindest dort nicht als schlechtes Qualitätskriterium gelten. Menschen, die an der Basis arbeiten, wissen, welche Kriterien besser wären. Dieses Wissen müssen wir nutzen, um unsere Schwächen zu bearbeiten. Aber wenn man genau diese Menschen einschüchtert und nicht auf sie hört, dann haben wir ein Problem.
Wo wird denn Sicherheitskultur schon gut realisiert?
Ich erlebe viele Akteure in Kliniken und Pflegeeinrichtungen, die sich der Sache offensiv annehmen. Wir haben auch zum Beispiel in der Charité über viele Jahre nach Auswertung der Befragungen zur Patientenzufriedenheit die fünf schlechtesten Stationen besucht und sie gefragt, was denn der Grund für die schlechte Rückmeldung sein könnte und wo wir als Top-Management helfen könnten. Und dann wurde gemeinsam versucht, die Probleme zu bearbeiten und auszuschalten. Das ist oft richtig gut gelungen. Natürlich wurden auch die Besten besucht, um von ihnen zu lernen und um sie mit diesen Ergebnissen zu würdigen. Eine meiner grundlegenden Erkenntnisse ist, dass man auch und gerade im Top-Management sehr genau hinschauen muss und die Handlungsfelder kennen sollte. Delegierte Aufgaben entheben uns nicht von der Eigenverantwortung.
Das Schwierigste ist sicher immer, einen Kulturwandel so zu initiieren, dass er nicht zu stark nur von Einzelpersonen getragen wird und dadurch von ihnen abhängig ist.
Richtig. Doch ebenso wichtig ist, dass man wertschätzt, was die Menschen einem sagen. Und entschieden falsch ist es, wenn man ihre Resilienz untergräbt. Da gibt‘s noch ganz viel zu tun.
Dafür verleihen Sie ja auch den Deutschen Preis für Patientensicherheit.
Wir haben den Deutschen Preis für Patientensicherheit 2014 das erste Mal vergeben und festgestellt, dass er sehr ermutigend ist.
Der Preisträger des letzten Jahrs war ein Pflegeheim, das entdeckt hat, dass die alten Menschen zu viele Medikamente bekamen. Dann haben sie die Medikationen gemeinsam mit einem Apotheker und anderen Akteuren durchforstet und 20 Prozent der Medikamente reduzieren können. Den Ärzten haben sie dann empfohlen, diese überflüssigen 20 Prozent nicht mehr zu verordnen.
Das hat dazu geführt, dass die Heimbewohner viel lebendiger wurden und aktiver am Leben teilgenommen haben. Abgesehen von der besseren Lebensqualität sind unnötige Medikamente natürlich ein erheblicher Kostenfaktor. Auf die Republik hochgerechnet ließe sich da einiges sparen.
Dieses Jahr feiert das Aktionsbündnis Patientensicherheit sein zehnjähriges Jubiläum. Was waren denn die größten Erfolgs-Meilensteine in diesen zehn Jahren?
Einer der ganz großen Erfolge war es sicher, in Bonn den bisher bundesweit einzigen Lehrstuhl, der sich mit Patientensicherheit beschäftigt, zu gründen und dauerhaft zu etablieren. Ebenso konnten viele Broschüren, und Handlungsempfehlungen erarbeitet werden, mit denen unsere Erkenntnisse im Gesundheitssystem bekannt werden und die praxiswirksam umsetzbar sind. Damit haben wir für die Patientensicherheit einiges erreicht.
Sie haben 2008 beispielsweise auch die Aktion „Saubere Hände“, kurz ASH, gestartet. Dass nach 150 Jahren Hygiene in der Medizin eine solche Aktion überhaupt nötig ist, wundert einen schon.
Wir hatten 2015 immerhin 1.858 teilnehmende Einrichtungen, die sich selbst überprüft haben, beziehungsweise zertifiziert wurden. Das heißt aber auch, dass es immer noch viele Krankenhäuser Pflegeeinrichtungen oder Praxen gibt, die sich nicht für die ASH entschieden haben und die gerade bei der Prävention noch einiges verbessern könnten. Also gibt es immer noch viel zu tun. Das APS hat für den 17. September zum 1. Mal zu einem ersten „Internationalen Tag für Patientensicherheit“ aufgerufen und seine Mitglieder und alle Akteure im Gesundheitswesen zur Beteiligung aufgefordert. Ziel ist es, das Thema Hygiene und Infektionsprävention über das Gesundheitswesen hinaus in die Bevölkerung zu tragen.
Auf der APS-Homepage* sind ja auch viele Einrichtungen aufgeführt, die mit Hygiene- und Infektionspräventionsprogrammen an diesem Tag ihre Patienten und Mitarbeiter, aber auch die lokale und regionale Öffentlichkeit informieren.
Patientensicherheit geht alle an; und – um ein Zitat von Friedrich Dürrenmatt aus den „Physikern“ zu verwenden: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“ Patientensicherheit ist nun einmal eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die gemeinsam zu lösen ist.
Frau François-Kettner, vielen Dank für das Gespräch. <<
Das Interview führte MVF-Herausgeber Prof. Dr. Reinhold Roski, Bearbeitung durch MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier.
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doi: 10.24945/MVF.05.15.1866-0533.1919