Wissenschaftliche Evaluation eines selektivvertraglichen Kooperationsmodells zwischen Arztpraxis und Krankenkasse
Die Patientenbegleitung wurde seit 2005 von der Bosch BKK entwickelt. Seit 2007 ist sie Bestandteil von Verträgen nach §§ 73 und 140 SGB V mit regionalen Ärzteverbünden. Gegenstand der Verträge ist die intensive und ganzheitliche Hilfe für Patienten, die eine hohe Morbidität aufweisen sowie die Unterstützung ihrer Ärzte. Neben einem umfangreichen medizinischen Versorgungsbedarf besteht bei diesen Patienten auch psychosozialer, pflegerischer oder sozialer Versorgungsbedarf. Kriterien für die intensive Betreuung stellen u.a. Herzerkrankungen, Schlaganfälle und Krebserkrankungen dar. Die vertraglich geregelte Zusammenarbeit beinhaltet den Informationsaustausch zwischen Arzt und Patientenbegleiter der Bosch BKK, wenn Patienten sich in die Verträge einschreiben wollen, um deren Vorteile zu nutzen. Diese bestehen dann in der fallbezogenen Zusammenarbeit zwischen Arztpraxis und Krankenkasse sowie in der Befreiung von der Praxisgebühr.
> Die zu verifizierende Hypothese lautete: Durch vertragliche Kooperation von Personen und Einrichtungen, die Patienten betreuen, wird die Versorgung verbessert und es können Einsparungen generiert werden. Über drei Jahre wurde die Modellinitiative von Wissenschaftlern der Katholischen Fachhochschule Mainz und des Centrums für angewandte Wirkungsforschung (CAW) in der IKJ ProQualitas in Mainz evaluiert, um das Effizienz-Potenzial derartiger Verträge zu überprüfen. Einsparungen könnten prinzipiell direkt in die Refinanzierung von Selektivverträgen fließen.
Außerdem wurde die Ärzte- und Patientenzufriedenheit mit dem Prozess der Patientenbegleitung betrachtet. Dabei wurde der Gesundheitszustand aus Ärzte- und Patientensicht sowie die Qualität der Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Personen und Einrichtungen beurteilt. Das quasi-experimentelle Studiendesign bestand aus je 532 Patienten in Experimental- und Kontrollgruppe. Durch ein statistisches Matchingverfahren wurde mit einer durchschnittlichen Übereinstimmung der Matchingkriterien von 80 % ein hohes Maß an Vergleichbarkeit sichergestellt. Um dies zu erreichen, war ein großer, repräsentativer Vergleichsdatenpool erforderlich. Dieser wurde durch die Kooperation mit der Daimler BKK erreicht, aus deren Versicherten sich auch ein Teil der Kontrollgruppe rekrutierte. Zur Ermittlung von bedeutsamen Kostenunterschieden wurden Varianzanalysen (ANOVA bzw. F-Test) sowie bei inhomogenen Varianzen Welch-Tests berechnet. Zur Abschätzung und Kontrolle der potenziell verzerrenden Effekte von Extremwerten („Ausreißer“) wurden ferner Mann-Whitney U-Tests eingesetzt.
Erschließung von Wirtschaftlichkeitsreserven durch kooperative Versorgungssteuerung
Von 1.064 Teilnehmern konnte bei 740 nach Abschluss der Patientenbegleitung die weitere Entwicklung noch mindestens neun Monate beobachtet werden. Bei den Gesamtkosten fällt auf, dass sich zunächst in den intensiv betreuten Fällen deutlich höhere Kosten ergaben. Im späteren Verlauf wird jedoch erkennbar, dass diese Fälle insgesamt rund 28 % niedrigere Kosten verursachten (p<0.05) (Abb. 1).
Mit dem 95-%-Konfidenzintervall der Mittelwertsdifferenzen wurde ein jährliches Einsparpotenzial zwischen 900 und 3.700 Euro pro Interventionsfall ermittelt. Primär ausschlaggebenden Einfluss auf dieses Ergebnis hatten die Krankenhauskosten (p<0.01) (Abb. 2).
Die Fallzahlen der stationären Aufnahmen bewegen sich im späteren Verlauf in der Interventionsgruppe auf signifikant niedrigerem Niveau, so dass von einer Vermeidung stationärer Behandlungen durch die Patientenbegleitung ausgegangen werden kann. Neben diesem statistisch signifikanten Gesamtkosteneffekt fällt bei der differenzierten Betrachtung der Kosten in der Beobachtungsphase auf, dass Ausgaben in den übrigen Bereichen, insbesondere der Heil- und Hilfsmittel höher ausfallen (p<0.01). Das gilt auch für Ausgaben der Pflegeversicherung, welche sich in beiden Gruppen, wie die Ausgaben bei den Heil- und Hilfsmitteln auch, im späteren Verlauf wieder angleichen (Abb. 2).
Da unabhängige Fälle ohne Messwiederholung untersucht wurden, liegen bei den Gruppen mit kurzen Beobachtungszeiten (siehe Abb. 1-2) nur relativ kleine Stichproben vor. Die hier in den Grafiken ersichtlichen absoluten Kostendifferenzen können aufgrund der größeren Zufallsschwankungen daher nicht direkt mit den Fällen mit langen Beobachtungszeiten verglichen werden. Erst eine bilanzierende Gesamtschau über den gesamten Untersuchungszeitraum konnte belegen, dass im Rahmen der Patientenbegleitung trotz der anfänglichen „Investitionen“ insgesamt die Einsparungseffekte überwiegen. Bei den Arzneimittelaufwendungen ergaben sich keine signifikanten Differenzen.
Ergebnisse der Versicherten- und Ärztebefragung
Die Zufriedenheit mit der Patientenbegleitung wurde innerhalb der Dimensionen Beratungskompetenz, Einfühlungsvermögen, Vertrauensverhältnis und Ablauf der Betreuung untersucht. Mitglieder der Experimentalgruppe gaben signifikant häufiger an, Anregungen und Unterstützung erhalten zu haben, auch selbst aktiv an der Verbesserung der eigenen gesundheitlichen Situation mitzuwirken (MW-U-Test, p<0.01). Die Förderung von Compliance und Empowerment ihrer Patienten bedeutet größeren Therapieerfolg und Entlastung für die behandelnden Ärzte, die die (psychosoziale) Betreuung durch die Patientenbegleiter mit sich bringt.
Patienten fühlen sich infolge der Patientenbegleitung besser und intensiver informiert und hatten weniger Befürchtungen hinsichtlich ihres Krankheitsverlaufes.
Die konkreten Vorteile aus Sicht der Patienten und Ärzte bestehen im persönlichen Bezug zu einem Ansprechpartner und dessen einschlägiger Beratung bei der Auswahl der geeigneten Hilfsmittel, bei Auswahl und Antrag von Unterstützungsleistungen sowie der beschleunigten Einleitung von Rehabilitation, häuslicher Versorgung u.v.m.
Die Kontaktintensität zwischen Arztpraxis und Patientenbegleiter erwies sich als maßgeblich für diese Beurteilung. Ein frühzeitiger Ansatz ermöglicht nicht nur eine rasche Problemlösung, sondern ist auch Voraussetzung für effiziente Versorgungsgestaltung. Nützlich erweist sich dabei für den behandelnden Arzt eine unbürokratisch auslösbare, praktische Assistenz der Krankenkasse. Die Unterstützung der Bosch BKK steigert darüber hinaus die Effektivität bei Abstimmungsprozessen mit anderen Leistungserbringern.
Analyse von Wirkfaktoren
Der Ausgabenunterschied in beiden Studienarmen wirft die Frage auf, was von der Bosch BKK getan wurde, um zu diesen Ergebnissen zu gelangen. Beispielhaft lassen sich bei der Gruppe der Schlaganfall-Patienten folgende mögliche Ursachen finden, wie es gelingen kann, einen Teil der medizinisch und sozial indizierten Hospitalisierungen zu reduzieren. Durch die fachlich versierte Abstimmung adäquater Leistungen werden Bedarfe individuell passend und vorausschauend gedeckt. Patientenbegleiter wirken darauf hin und aktivieren die geeigneten Dienstleister. Eine stabile Hypertonie-Einstellung sowie die optimale Behandlung von kardialer Komorbidität könnten bspw. die konsequent eingehaltenen Maßnahmen repräsentieren, die Entgleisungen und Folgeereignisse mit Hospitalisierungsbedarf verhindern. Die Studienergebnisse legen Vorteile nahe, sofern professionelle „Kümmerer“ darauf achten, dass eine regelhafte Nachsorge etabliert wird und Zielwerte gemäß Behandlungsleitlinien tatsächlich erreicht werden. Ob sich eine Qualitätsverbesserung auch durch ein erweitertes, ärztliches Zeitbudget ergibt, wurde in diesem Kontext nicht untersucht. Dies müssten erst noch tiefergehende Studien zur selektivvertraglichen Zusammenarbeit nachweisen.
Da Gesundheitskosten nicht alleine durch medizinische Faktoren determiniert werden, dürften auch die frühzeitige und sachverständige Versorgung im pflegerischen und sozialen Aufgabenbereich erheblichen Anteil an den vermiedenen Krankenhausfällen haben. Um auch Versorgungsbedarfe zu decken, die den Gesundheitszustand mit beeinflussen ohne unmittelbar medizinischer Natur zu sein, werden eine Fülle sozialer und versicherungsrechtlicher Leistungen abgerufen, die zunächst eine Investition darstellen. Dadurch kann eine stabilere und verbesserte Situation in sozialer und gesundheitlicher Hinsicht erzielt werden, so dass sich die Investition insgesamt rechnet.
Als weitere Wirkfaktoren erweisen sich ein früher Interventionszeitpunkt und der Einstieg in den dialogischen Prozess zwischen Patientenbegleiter, Patienten und Ärzten als erfolgsentscheidend. Eine fachliche Expertise für Versorgungsmanagement kombiniert mit Empathie schafft ein konstruktives Spannungsfeld, das Compliance und Empowerment, wie es die empirischen Befunde zeigen, optimal unterstützen kann.
Die kooperative Fallsteuerung manifestiert sich als wegweisend, Lücken in der Gesundheitsversorgung effektvoll zu füllen und dabei die Versorgungsqualität zu optimieren. Die für die gesetzliche Krankenversicherung interessanteste Perspektive dabei ist, dass sich die damit einhergehenden Kosteneffekte weder durch Ausgabenkürzungen noch durch Einnahmesteigerungen, sondern durch die Effizienzsteigerung der Versorgung selbst ergeben. <<
Patientenbegleitung der Bosch BKK
Hintergrund: Die Patientenbegleitung ist ein Modell der Versorgungssteuerung. Die vorliegende wissenschaftliche Evaluation überprüfte den wirtschaftlichen Erfolg und die Zufriedenheit von ärztlichen Vertragsteilnehmern und Patienten mit der Patientenbegleitung. Sie ist seit 2007 Bestandteil regionaler Selektivverträge der Bosch BKK mit ihren ärztlichen Partnerverbünden.
Methoden: Im Rahmen einer quasi-experimentellen Kontrollgruppenstudie (s. Beitrag Prof. Dr. Löcherbach, S. 27 ff.) wurden insgesamt 1.064 gesetzlich Versicherte untersucht. Einer Experimentalgruppe von 532 begleiteten Patienten mit hohem Versorgungsbedarf, in der Regel in Folge eines Krankenhausaufenthalts mit schwerwiegender Diagnose, wurde eine ebenso große Kontrollgruppe gegenübergestellt. Durch ein statistisches Matchingverfahren wurde ein hohes Maß an Vergleichbarkeit sichergestellt. In einem mittleren Beobachtungszeitraum von 11 Monaten nach Abschluss der Fallbegleitung wurden die fallbezogenen Kosten kumuliert und entsprechend der beiden Untersuchungsgruppen gegenübergestellt. Dabei wurde auch der zeitliche Verlauf der Leistungsausgaben untersucht. Zur Ermittlung der subjektiven Ärzte- und Patientenzufriedenheit wurde ein Fragebogen-Instrumentarium eingesetzt.