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Wo Solidarität auf Medizin trifft

Der sanfte Start eines Capitation-Modells

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Erstveröffentlichungsdatum: 01.06.2009

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Das Solinger Gesundheitsnetz Solimed hat mit möglicherweise richtungsweisenden Integrationsverträgen Aufmerksamkeit erzielt. Im MVF-Gespräch: Dr. med. Stephan Kochen, Geschäftsführer Solimed und Karsten Menn, Geschäftsbereichsleiter Leistungen und Verträge der Landesgeschäftsstelle NRW der Barmer Krankenkasse.

>> Der Gesundheitsfonds wird den Kassenwettbewerb intensivieren. Dazu zählt sicherlich auch ein Wettbewerb um mehr Versorgungsqualität - für den Kranken - und um mehr Wirtschaftlichkeit - für die Solidargemeinschaft. Inwieweit gilt das auch für Ihren Vertrag mit Solimed?
Menn: Die Barmer ist immer für mehr Vertragsfreiheit und damit für mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen eingetreten. Heute haben wir mehr Chancen, die seit Jahren gestellten Forderungen auch zu realisieren. Der Vertrag in Solingen ist nicht die x-te Abschrift eines etablierten Vertrages, vielleicht wird der Solimed-Vertrag aber einmal ein Muster für vertragliches Handeln. Darüber reden wir aber erst, wenn wir über eine hinreichende Beobachtungszeit verfügen und Erfahrungen aus Controlling und Monitoring, Evaluation und vielleicht auch Benchmarking vorliegen haben.

Wird sich nicht die Versorgungsqualität in Solingen zwangsläufig verbessern, da schon Erfahrungen aus anderen Netzen und Verträgen zeigen, dass alleine eine standardisierte Kommunikation und Informationsaustausch unter den an der Versorgung eines kranken Menschen Beteiligten dazu geeignet ist, die Versorgung zu steigern?
Menn: Wirtschaftlichkeit erschöpft sich natürlich nicht in Vergütungsvor- oder nachteilen. Vielmehr steht die Versorgungsoptimierung bei gleichbleibender Wirtschaftlichkeit für die Barmer immer im Vordergrund. Es geht uns nicht in erster Linie darum Geld zu sparen, sondern die Wirtschaftlichkeitsreserven für eine Versorgungsoptimierung und -verbesserung zu heben und letztlich im System zu lassen. Davon profitieren alle Beteiligten, an erster Stelle die Patienten, aber auch die an der Behandlung Beteiligten und auch die Barmer.

Immer werden Krankenkassen nach Wettbewerbsaspekten ihres Handelns gefragt. Wie sieht das denn auf der Leistungserbringerseite aus?
Kochen: Wenn Sie damit die Frage aufwerfen wollen, ob unser Bemühen um gute Integrationsverträge auch Wettbewerbshandeln im Umfeld ärztlicher Organisationen, Verbände und Körperschaften ist, dann sage ich nein. Jedenfalls wird unsere Gesellschaft keine Konkurrenzorganisation zur Kassenärztlichen Vereinigung. Die Gesellschafter von Solimed - Unternehmen Gesundheit sind Haus- und Fachärzte, sowie die drei Solinger Kliniken. Insofern gibt es viele Parallelen zur KV. Wir halten auch die innerärztliche Solidarität für ein wichtiges Merkmal und achten - wie die KVen - auf ein gemeinsames Handeln von Haus- und Fachärzten. Wir wollen uns hier in Solingen nicht auseinanderdividieren lassen. Wir sind sozusagen additiv in dieses Gesundheitswesen eingestiegen, wissen allerdings auch, dass damit auf Leistungserbringerseite natürlich auch Konflikte vorprogrammiert sind. Diese muss man im Interesse der Sache lösen. Die Solimed GmbH hat selbstverständlich auch die wirtschaftlichen Interessen ihrer Gesellschafter, ihrer Mitglieder zu vertreten. Dazu scheuen wir - sonst wären wir nicht angetreten - auch keinen Wettbewerb in der Sache; aber primär für den Patienten und für eine höhere Qualität, und nicht als Instrument der Ausgrenzung.
Der Großteil der bundesdeutschen IV-Verträge hat einen indikativen Hintergrund. In Solingen arbeiten Sie in beiden Verträgen populationsorientiert. Das heißt, dass sich ein Solinger Patient einschreiben kann, unabhängig von seiner Krankheit, den medizinischen Notwendigkeiten etc. Auch wenn Sie keine Konkurrenzsituation mit der KV heraufbeschwören wollen: Ist das nicht der Einstieg in die Regelversorgung?
Kochen: Als Verein, als GmbH (Unternehmen Gesundheit) und jetzt auch als Vertragspartner von AOK und Barmer haben wir uns immer als Bindeglied zwischen Hausärzten und Fachärzten und als sektorenübergreifender Partner für unsere Krankenhäuser gesehen. Nun ziehen 75 Ärzte in eigener Praxis und alle drei Solinger Kliniken an einem Strang, insbesondere die damit gute Abstimmung und Kooperation ist für unsere Patienten ein wichtiger Faktor.

Was war denn dazu nötig, wenn man alleine an die Organisation denkt?
Kochen: Wir haben auch organisatorisch alles getan, um eine echte Kooperation in dieser Region zu ermöglichen. Aus Gesprächen mit unseren Patienten wissen wir, dass das gut rüberkommt. Elektronische Patientenakte, intensive innerärztliche Kommunikation und insbesonders die sektor-übergreifende, abgestimmte medizinische Behandlung sowie die effektiven Absprachen zum Schnittstellenmanagement sind schon wichtige Beispiele. Dazu haben wir sogenannte Behandlungspfade auf der Basis der Leitlinien der Fachgesellschaften erarbeitet. Hier legen wir den Rahmen der Behandlung fest, insbesonders an den Schnittstellen mit Definition der Verantwortung, Zeitfenster und Kommunikation und Dokumentation. Mit diesem straff strukturierten Pfad wollen wir sowohl die medizinische als auch die Prozessqualität steigern. Basis dazu ist unsere seit Januar 2008 bestehende EDV-Vernetzung mit dezentraler elektronischer Patientenakte.

Was ja nichts anderes als Regelversorgung ist.
Dies stellt im Rahmen der Möglichkeiten des § 140 SGB V theoretisch einen Einstieg in die Regelversorgung dar, wir betrachten dies aber als Modellprojekt, um neue Konzepte und Wege im Gesundheitswesen zu erproben und evaluieren.

Die Barmer greift mit diesem Vertrag ja auch Themen auf, die in den Bemühungen ihrer Kasse seit jeher schon eine große Rolle gespielt haben. Denken wir nur an die Arzneimittelsicherheit oder an die Prävention. Welchen speziellen Nutzen will die Barmer denn erschließen? Auch unter Beachtung der sicherlich entstehenden Zusatzkosten.
Menn: Zusatzkosten kann und wird sich keine Kasse unter den Bedingungen des Gesundheitsfonds mehr leisten können. Aber ich bin davon überzeugt, dass das Konzept Solimed geeignet ist, die Zusatzkosten an anderer Stelle einzusparen. Arzneimittelsicherheit war schon ein Thema unseres 2005 geschlossenen Hausarzt- und Hausapothekenvertrages. Letztlich gibt es jährlich zwischen 25.000 und 30.000 Tote durch unbekannte und unerwünschte Wechselwirkung von Arzneimitteln. Das sind mehr Tote als durch Verkehrsunfälle verursacht werden. Und dass die Barmer für Prävention steht, das ist Tradition seit Jahrzehnten. Und Prävention zahlt sich mittelfristig immer aus. Dieses ist eine hinreichend belegte These, dass es rein finanziell betrachtet lohnenswerter ist, eine Krankheit früh zu erkennen als zu spät, und für das Wohl des Patienten ist es allemal besser. Wir wollen letztlich die Patienten zu mehr Eigenvorsorge und Eigenverantwortung ermuntern und animieren, und dafür dienen diese Präventionsangebote. Präventionsangebote für unsere Kunden sind aber auch, und das gebe ich an dieser Stelle gern zu, ein Instrument zur Kundenbindung. Dieser Vertrag könnte eine Blaupause für andere Verträge und Regionen werden, wenn wir hier den Beweis der Wirksamkeit feststellen können. Dann wäre der zwangsläufig und konsequente nächste Schritt der roll out auf weitere Regionen.
Kochen: Wir sind froh, dass in Zeiten des Gesundheitsfonds, des Morbi-RSA und des Denkens in Deckungsbeiträgen präventives Gedankengut erhalten bleibt. Wir brauchen nicht nur mehr Primärprävention, sondern auch verstärkte sekundäre und tertiäre Prävention. Wir betrachten die mit der Barmer realisierten Präventionsangebote auch als Einstieg in das Gespräch mit unseren Patienten. Wir wollen dies nutzen, um die Motivation und Compliance bei der Umsetzung von Empfehlungen zum gesunden Lebenstil (Gewicht, Rauchen etc.) zu verbessern. Die Barmer unterstützt dies mit einen Anreizsystem in Form von Bonusmodellen, desweiteren nutzen wir - in Kooperation mit der VHS Bergisches Land - unsere Solimed-Gesundheitsakademie, um Bürger über Präventionsangebote und -möglichkeiten zu informieren. Die Themen Prävention, Compliance und Adherence liegen uns am Herzen.

Wie sieht denn der Rahmen der Investition auf der Leistungserbringerseite und das finanzielle Engagement der Kasse nun genau aus?
Kochen: In der Tat haben wir die Voraussetzungen für diesen Vertrag erst geschaffen. IT ist unerlässlich, aber IT kostet auch Geld. Kommunikation verbessern erfordert gleichsam Investition. Solimed hat dafür allein in 2007 und 2008 ein Investitionsvolumen in Höhe von rund 700.000 Euro aus eigener Kraft und Eigenmitteln gestemmt. Jeder Gesellschafter, jede Klinik musste seine EDV auf Isynet/MCS umstellen, bzw. sein KIS an die Netzsoftware comdox anpassen. Dazu kamen die Geschäftsführungskosten in 2007 und 2008. Wir betrachten dies als Investition in die Zukunft und sind mit einem Modell der Vollversorgung - unter Beratung von Hanswerner Voss, Managing Partner GCN-HealthNet, Landshut - an mehrere Krankenkassen herangetreten. Die Barmer und die AOK Rheinland/HH hatten die Kompetenz und Kapazität, mit uns gemeinsam ein Modell der Vollversorgung auf der Basis eine IV-Vertrages zu erarbeiten. Aus diesen beiden Verträgen heraus haben wir eine Anschubfinanzierung erhalten, die es ermöglicht, Teile unserer Investitionen abzudecken und insbesonders in 2009 die Geschäftsführungskosten zu decken. Aus diesen Verträgen wollen wir uns langfristig finanzieren und erwarten spätestens ab 2010 Einnahmen, die uns auch eine weitere Entwicklung und Aufbauarbeit ermöglichen.

Und wie geht es nach Ende der Anschubfinanzierung weiter?
Menn: Leider ist zum 1. Januar dieses Jahres die IV-Anschubfinanzierung weggefallen, so dass wir Solimed leider nicht in der Form unterstützen können, wie sie es sich gewünscht hätte. Der Gesundheitsfonds lässt eine Investition nur noch dann zu, wenn eine Gegenfinanzierung, das heißt eine Einsparung an anderer Stelle, kurzfristig realistisch erscheint. Wir sind aber davon überzeugt, dass die Netzkonstruktion von Solimed dafür geeignet ist, sowohl die traditionell angeprangerten Doppeluntersuchungen zu vermeiden, wobei die finanziell noch nicht einmal die ganz große Rolle spielen. Aber im Bereich der Arzneimittelversorgung stecken noch Einsparpotenziale, alleine durch die Verzahnung von ambulantem haus- und fachärztlichen Bereich an der Schnittstelle zum Krankenhaussektor. Denn dass sich niedergelassene Ärzte und Krankenhausärzte auf einheitliche Behandlungspfade sowie eine einheitliche Positivliste in der Pharmakotherapie verständigen können, ist meines Wissens einmalig in der Bundesrepublik. Aber auch durch eine vernünftige Schnittstelle zwischen haus- und fachärztlicher Versorgung werden sich Krankenhausaufenthalte vermeiden lassen. Damit ist eine ausreichende Basis gegeben, die Ausgaben rezufinanzieren. Und letztlich ist die Verbindlichkeit, für die Solimed einsteht, das Entscheidende und Neue, aber auch Innovative an diesem Vertrag. Denn hier wird nicht nur die Absicht bekundet, sich zu vernetzen, bei Solimed sind bereits seit mehr als zwölf Monaten ohne entsprechende Kassen-Verträge die Vorbereitungen dafür getroffen worden. Und was die Präventionsangebote anbelangt, so werden die nicht anders vergütet als in der Regelversorgung. Wir haben uns nur auf Mehrleistungen verständigt und sind davon überzeugt, dass uns die Solimed-Ärzte dabei unterstützen, mehr Versicherte als in der Regelversorgung für diese Präventionsangebote zu gewinnen. Wir wollen mit diesem Vertrag keine Gewinne erzielen oder eine Versorgung nach einem Sparmodell entwickeln, sondern werden die Einsparungen, die erzielt werden, im System zur Weiterentwicklung investieren.

Die Kassen scheinen verschiedene Finanzierungswege mit Solimed zu beschreiten. Welche sind das?
Kochen: Mit der AOK haben wir einen IV-Vertrag abgeschlossen, der über eine Phase der reinen Kostenbetrachtung und Analyse von eventuellen Schwachstellen über ein sogenanntes virtuelles Globalbudget letztlich zu einem Capitation-Modell führen soll und auch kann. Dabei werden alle Kostenbereiche erfasst und in die Kalkulation einbezogen. Eventuelle Effizienzeffekte werden an das Netz ausgeschüttet. Der Vertrag mit der Barmer beinhaltet ein verbessertes Präventionsangebot sowie strukturelle Maßnahmen zur Verbesserung der Pharmakotherapie. Ebenso soll die medikamentöse Behandlung besser abgestimmt werden, dies insbesondere durch einen intensiveren Datenaustausch zu verordneten Medikamenten und Diagnosen sowie strukturierte, sektorübergreifende Empfehlungen zur Medikation. Die Barmer honoriert diesen Aufwand durch eine sogenannte Betreuungspauschale zur Pharmakotherapie sowie eine Beteiligung von Solimed an eventuellen Effizienzeffekten.

Das sind demnach erste Schritte in Richtung Capitation?
Kochen: Das ist möglich, bis dahin wollen wir mehrere Zwischenschritte einlegen und auf jeder Stufe Qualität und Effizienz betrachten. Sollten diese Stufen beide Faktoren erfolgreich abbilden, wären wir auch an dieser Endstufe interessiert, schließlich beinhaltet dieses Modell auch einen größeren Handlungsspielraum für die Gesellschafter von Solimed.

Welche Entwicklungen würden Sie künftig begrüßen?
Menn: Der Vertrag mit Solimed muss sich natürlich auch für die Barmer rechnen, nicht nur finanziell. Wir möchten in dieses hervorragende Netz natürlich auch Elemente eines wohlverstandenen Versorgungsmanagements hineintragen. Und so mehr Versorgungsqualität und damit mehr Wirtschaftlichkeit herbeiführen. Im Übrigen ist der Solimed-Vertrag ein Rahmenvertrag, der noch um zusätzliche Module erweitert werden kann.
Kochen: Ich wünsche mir, dass wir unser Konzept einer umfassenden Steuerung der Behandlungskette mit den beiden Kassen - unter Umständen auch mit Unterstützung Dritter - wissenschaftlich begleiten lassen können. Wir erwarten eine qualitativ verbesserte medizinische Versorgung mit einer höheren Wirtschaftlichkeit und möchten dies auch plausibel darlegen können. <<
Das MVF-Gespräch begleitete Klaus H. Richter
(gut.gesundheit.consulting, Wuppertal)