Das Wolfsburger Pilotprojekt zur risiko-adaptierten Prävention des Zervixkarzinoms
Am 1. Februar 2006 startete in Wolfsburg ein Pilotprojekt, das ein neues Konzept zur Prävention von Gebärmutterhalskrebs auf seine Alltagstauglichkeit untersuchen sollte. Für eine Bewertung des Projekts ist ein Verständnis der Besonderheiten des Gebärmutterhalskarzinoms unumgänglich, insbesondere der in den letzten drei Jahrzehnten gewonnenen Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung zur Rolle humaner Papillomviren (HPV) bei der Entstehung dieses Tumors.
> Die amerikanische Krebsgesellschaft hat die Einführung der Exfoliativzytologie nach Papanicolaou als einen der größten Erfolge des 20. Jahrhunderts bei der Prävention von Krebs bezeichnet. Tatsächlich ist es in nahezu allen Regionen, die Zytologie-basierte Vorsorgeprogramme eingeführt haben, zu einem teils dramatischen Rückgang der Inzidenz und Mortalität des Zervixkarzinoms gekommen, während in Ländern ohne Vorsorge keine Änderungen eintraten. Ohne Vorsorge beträgt das Lebensrisiko für die Erkrankung am Zervixkarzinom 3-5 %, das RKI gibt das aktuelle Lebensrisiko für Deutschland mit lediglich 0,9 % an (2004). Mit anderen Worten ausgedrückt wird durch die derzeit in Deutschland praktizierte Vorsorge jeden Monat bis zu 2.000 Frauen die Erkrankung an Gebärmutterhalskrebs erspart.
Der Wirkmechanismus der Vorsorge ist die Entdeckung von Krebsvorstufen und deren operative Entfernung. Hierdurch wird der natürliche Zyklus der Karzinogenese unterbrochen und die Entstehung des Zervixkarzinoms aktiv verhindert. Trotz des unzweifelhaften Erfolgs weist die Zytologie dennoch erstaunliche Mängel auf. So ist die Sensitivität für die gesuchten Vorstufen (cervikale intraepitheliale Neoplasien Grad 2 und 3 = CIN 2/3) viel geringer als angenommen, in einer Metaanalyse mit mehr als 60.000 Frauen lag sie lediglich bei 53%. Jede zweite der gesuchten Vorstufen wird somit durch den einmaligen Abstrich nicht erfasst. Wie für jedes Alarmsystem gibt es auch in der Vorsorge zwei mögliche Fehler, neben dem Versagen in Form einer ausbleibenden Alarmmeldung in der Gefahrensituation auch noch die Möglichkeit eines Fehlalarms. So werden 2-3% aller an der jährlichen Vorsorge teilnehmenden gesunden Frauen einen auffälligen zytologischen Befund erhalten. Bei regelmäßiger Teilnahme wird die Mehrzahl der gesunden Frauen somit mindestens einmal im Leben einen solchen Fehlalarm erleben. Die Abklärung unklarer Vorsorgebefunde und die operative Therapie von Vorstufen löst bei betroffenen Frauen erhebliche Ängste aus und ist mit einer ernst zu nehmenden Morbidität bei nachfolgenden Schwangerschaften assoziiert. In einer Metaanalyse führte insbesondere die in Deutschland übliche Messerkonisation zu einer signifikant erhöhten perinatalen Mortalität und Rate an Frühgeburten.
Neben diesen Nachteilen der Methode Zytologie weist auch das deutsche Konzept organisatorische Schwächen auf. Während etwa in Skandinavien die potentiellen Teilnehmerinnen aktiv eingeladen werden, müssen in Deutschland die betroffenen Frauen aus eigenem Antrieb einen Gynäkologen aufsuchen, hieraus resultieren im Vergleich geringere Teilnahmeraten. Bei auffälligen Vorsorgebefunden erfolgt in Ländern mit organisiertem Screening die weitere Abklärung nach klar geregelten Patientenpfaden minimal invasiv in spezialisierten Sprechstunden mittels Kolposkopie mit Biopsien. Ein solches Vorgehen vermeidet Fehlbehandlungen und war auch in randomisiert kontrollierten Studien kosteneffektiv. In Deutschland ist das Vorgehen bei auffälligen Befunden dagegen stark vom Ermessen des betreuenden Gynäkologen abhängig. Dies resultiert in erheblichem Maße in Übertherapien aber auch der Entstehung eigentlich vermeidbarer Karzinome.
Ätiologie des Zervixkarzinoms
Im Gegensatz zum Mammakarzinom findet sich beim Zervixkarzinom eine weitgehend monokausale Ätiologie, die auch erklärt, warum kein anderes Karzinom des Menschen in ähnlich erfolgreicher Weise verhindert werden kann. Voraussetzung für die Entstehung dieses Karzinoms ist die Infektion der Zervix uteri mit bestimmten humanen Papillomviren (HPV). Prototypen dieser sogenannten Hochrisiko-HPV (HR-HPV) sind die Typen 16 und 18, die 1983 und 1984 erstmalig von der Heidelberger Arbeitsgruppe um Harald zur Hausen in invasiven Zervixkarzinomen entdeckt wurden. 99,6 % aller invasiven Zervixkarzinome von 5 Kontinenten enthielten in einer Untersuchung HR-HPV. Die vier Hochrisikotypen HPV 16, HPV 18, HPV 45 und HPV 31 sind mit ca. 80 % aller invasiven Karzinome assoziiert, HPV 16 allein lässt sich in der Hälfte aller Karzinome nachweisen, während die verbleibenden 20 HR-Typen deutlich seltener an der Karzinogenese beteiligt sind. Die Entstehung eines Zervixkarzinoms ist aber nicht der Regelfall sondern die sehr seltene Folge einer zervikalen HPV-Infektion. Genitale HR-HPV-Infektionen sind häufig. Meist handelt es sich aber um transiente Infektionen, die ohne jegliche klinische Symptomatik in ca. 80 % aller Fälle binnen 18 Monaten folgenlos ausheilen. In Europa sind genitale HPV-Infektionen in der Altersgruppe zwischen 18 und 25 Jahren mit einer Prävalenz von ca. 30 % am häufigsten, sie fällt in Deutschland ab auf unter 10 % bei den 30 bis 35-Jährigen und auf unter 5 % bei Frauen nach dem 40. Lebensjahr.
Nahezu alle invasiven Karzinome und alle obligaten Präkanzerosen sind mit HPV-DNS assoziiert. Die durchschnittliche Latenzzeit zwischen initialer HPV-Infektion und invasivem Karzinom beträgt 15 bis 30 Jahre. Aufgrund molekularbiologischer und epidemiologischer Untersuchungen beträgt die minimale Latenzzeit offensichtlich 8 Jahre. Hieraus ergibt sich eine in der Onkologie einmalige und für die Prävention des Zervixkarzinoms relevante Schlussfolgerung: Ist eine Infektion der Zervix uteri mit Hochrisiko-HPV ausgeschlossen, dann kann jegliche Gefahr für die Erkrankung am Zervixkarzinom für die kommenden 7 Jahre ausgeschlossen werden. Eine auf dem HPV-Nachweis basierende Vorsorge könnte somit bei HPV-negativen Teilnehmerinnen eine Überdiagnostik und -therapie vermeiden und umgekehrt die erforderliche Aufmerksamkeit auf die Frauen fokussieren, bei denen tatsächlich ein Risiko für das Vorliegen und die Entwicklung von Krebsvorstufen und Krebs besteht.
Primäres HPV-Screening zur
Prävention des Zervixkarzinoms
Inzwischen sind zahlreiche Kohortenstudien und randomisiert kontrollierte Studien publiziert, die die Richtigkeit einer präziseren Prävention des Zervixkarzinoms durch HPV-Testung auf hohem Evidenzniveau belegen. Eine internationale Kohortenstudie mit mehr als 24.000 Teilnehmerinnen und einem Beobachtungszeitraum von mehr als sechs Jahren konnte zeigen, dass der kombinierte Einsatz von Zytologie und HPV-Testung eine nahezu perfekte Risikoeinschätzung erlaubte. Mehr als ein Drittel der Frauen mit auffälliger Zytologie und positivem HPV-Test erkrankte an einer CIN3 oder einem invasiven Karzinom, für Frauen, die zu Studienbeginn nur einen positiven HPV-Test aufwiesen ergab sich ein moderates Langzeitrisiko von 11%, dagegen lag das entsprechende Risiko für HPV-negative Teilnehmerinnen unter ein Prozent. Insgesamt schloss ein negativer HPV-Test das Risiko für eine Erkrankung an CIN3/CA für sechs Jahre sicherer aus als ein unauffälliger zytologischer Abstrich für ein Jahr.
Die Veröffentlichungen von sechs randomisiert kontrollierten Studien (randomized controlled trials = RCTs) mit mehr als einer Viertelmillion Teilnehmerinnen und Verlaufsbeobachtungen von bis zu acht Jahren bestätigten, dass mit HPV-Testung eine bessere Erfassung von Krebsvorstufen gelingt. In einer Metaanalyse ergab sich für die erste Vorsorgeuntersuchung eine um 50% gesteigerte Detektionsrate von Krebsvorstufen und Krebs, bei der zweiten Vorsorgerunde fünf Jahre später fanden sich bei zuvor mittels HPV-Test untersuchten Frauen nur halb so viele CIN3 wie im zytologischen Vergleichsarm. Dies lässt sich nur dadurch erklären, dass mittels HPV-Testung tatsächlich fast alle vorliegenden Neoplasien entdeckt und fünf Jahre später nur im Intervall tatsächlich neu entstandene Vorstufen gefunden werden. In einem RCT führte dies bereits zu einer signifikanten Senkung der Neuerkrankungen am Zervixkarzinom im HPV-Arm verglichen mit dem konventionellen Arm. Ein großer RCT in Indien mit mehr als 130.000 Teilnehmerinnen, der untersuchte, ob sich mit einem einmaligen Vorsorgetest eine Senkung der Neuerkrankungen und Todesfälle am Zervixkarzinom erreichen lässt, ergab nach 8 Jahren nur für den HPV-Test eine signifikante Senkung der Mortalität.
WHO und IARC stufen angesichts der hohen Evidenz HPV-Screening als mindestens so gut (“at least as good“) ein wie das bisherige zytologische Screening, und die EU sieht in ihren aktuellen Empfehlungen eine Überlegenheit des HPV-Tests als primäre Vorsorgemethode, allerdings nur in organisierten Vorsorgeprogrammen bei Frauen ab 30 Jahren und bei Verlängerung der Abstrichintervalle auf mindestens 5 Jahre. Die höhere medizinische Qualität eines HPV-Screenings bei Erfüllung dieser Voraussetzung ist somit unbestritten, allerdings ist es vor der Umsetzung in die tägliche Praxis noch unklar, ob ein solches Vorsorgekonzept in allen europäischen Gesundheitssystemen kosteneffizient wäre, es von den Teilnehmerinnen akzeptiert würde, zu Verunsicherungen führen könnte und, speziell in Deutschland, ob es zu einer Vernachlässigung der jährlichen gynäkologischen Untersuchung kommen könnte.
Das Wolfsburger Pilot Projekt
Das erste europäische Pilotprojekt startete im Februar 2006 in Wolfsburg. Es basiert auf einem Vertrag der Deutschen BKK mit allen niedergelassenen Gynäkologen und dem Klinikum Wolfsburg. Weiblichen Versicherten der Deutschen BKK, die älter sind als 30 Jahre und noch ihre Gebärmutter besitzen, wird die Teilnahme am Projekt empfohlen. Nach entsprechender Aufklärung in der Praxis stimmen die betroffenen Frauen entweder einer Teilnahme schriftlich zu oder können sich für eine Beibehaltung des alten Konzepts mit jährlichen Abstrichen entscheiden. Frauen, die nicht an der Vorsorge teilnehmen, werden angeschrieben.
Die weitere Vorgehensweise ist abhängig von den Vorsorgebefunden zwischen den teilnehmenden Ärzten und dem Klinikum klar geregelt. Die in einem Fragebogen erhobenen Daten und die Vorsorgebefunde werden zur Kontrolle und Steuerung der vereinbarten Patientenpfade in einer im Klinikum geführten zentralen Datenbank gespeichrt. Bei unauffälliger Zytologie und negativem HPV-Test (nur Hochrisiko-Typen mit Hybrid Capture 2) erfolgen die nächsten Abstriche nach fünf Jahren, die weitere Teilnahme an der übrigen jährlichen Vorsorge wird aber empfohlen. Bei auffälligen Befunden werden die betroffenen Frauen entweder sofort (auffällige Zyto und positiver HPV-Test) oder bei persistierenden Auffälligkeiten nach 6 oder 12 Monaten in die Dysplasiesprechstunde überwiesen.
Teilnahme und Einhaltung von Patientenpfaden
Nach vier Jahren nahmen mehr als 18.393 Frauen am Projekt teil, die Teilnahmerate im Gebiet der Stadt Wolfsburg lag damit bei ca. 90% der Zielbevölkerung. Eine ganz exakte Bestimmung der Teilnahmerate ist wegen Wohnsitz- und Kassenwechseln aber auch bei unsicheren Angaben zu möglichen Uterusoperationen leider nicht möglich. Nach Datenerhebungen der Deutschen BKK, der niedergelassenen Gynäkologen und einer Befragungsaktion der Teilnehmerinnen mittels Brief, liegt der Anteil der hysterektomierten Frauen in der Zielbevölkerung bei ungefähr 21% (18-24%). Allen die Unsicherheiten über den tatsächlichen Anteil der Frauen, bei denen die Gebärmutter bereits entfernt wurde, erlaubt keine genauere Bestimmung der Teilnahmerate. Diese ist aber in jedem Fall sehr hoch und übertrifft die in organisierten Vorsorgeprogrammen vorgegebene Zielgröße von 85 %. Ursachen dürften die bessere Aufklärung durch die teilnehmenden Gynäkologen, aber auch eine schriftliche Einladung an alle BKK-Mitglieder, die sich nach zwei Jahren noch nicht eingeschrieben hatten, gewesen sein. Für die Beibehaltung der Standardvorsorge mit jährlichen zytologischen Abstrichen entschieden sich nicht einmal 1% der Zielgruppe, zwischen den einzelnen Praxen schwankte dieser Anteil allerdings zwischen 0 und knapp 5%.
Eine extra eingerichtete Telefon-Hotline zur Beruhigung möglicherweise über Vorsorgebefunde aufgeregter Teilnehmerinnen erwies sich als überflüssig, die von einigen befürchtete Massenpanik durch positive HPV Befunde blieb aus. Dies entspricht auch den Beobachtungen einer englischen Studie zur Wertigkeit des HPV-Tests in der primären Vorsroge.
93,1% der Teilnehmerinnen waren HPV negativ und hatten eine unauffällige Zytologie. Lediglich bei 0,9% aller teilnehmenden Frauen lag ein positiver HPV-Test in Kombination mit einer auffälligen Zytologie vor, während 1,2% aller Teilnehmerinnen HPV negativ waren aber auffällige Zellabstriche aufwiesen und umgekehrt bei 4,8% ein positiver HPV-Test bei unauffälligem Vorsorgeabstrich vorlag.
Die vorgegebenen Patientenpfade wurden in hohem Maße eingehalten. 91% der Teilnehmerinnen mit positivem HPV-Test und auffälliger Zytologie wurden wie vorgesehen sofort überwiesen und bei 82% der Frauen mit auffälliger Zytologie, aber negativem HPV-Test erfolgte die weitere Abklärung in der Praxis und ggf. auch in der Klinik wie vorgesehen. Selbst der etwas komplizierte Algorithmus bei Frauen mit positivem HPV-Test aber unauffälligem Abstrich wurde von knapp 79% nach Plan durchlaufen. Ursache für die auch im Vergleich mit Studien sehr gute Quoten dürfte die zentrale Datenerfassung und Qualitätskontrolle im Klinikum gewesen sein. Die teilnehmenden Praxen wurden über alle Patientinnen informiert, die das Ablaufschema nicht eingehalten haben, die Teilnehmerinnen wurden schriftlich über den Sinn der geplanten Untersuchung informiert.
Überweisungsraten, Diagnostik und Therapie
Nur bei 2,9% aller Teilnehmerinnen wurde eine Überweisung zur Kolposkopie erforderlich. Im Vierjahreszeitraum wurden bei insgesamt 142 Frauen eine CIN3 oder ein Zervixkarzinom diagnostiziert, mit Ausnahme eines Falls waren alle HPV positiv. Dagegen wiesen exakt 50% (n=71) dieser Patientinnen unauffällige zytologische Befunde der Klassen Pap I/II auf und wurden erst im Verlauf durch auffällige Kontrollabstriche nach 6 oder 12 Monaten (n=35) oder aber lediglich aufgrund des persistierenden HPV-Nachweises überwiesen. Lediglich bei 17 der 142 an CIN3 und Karzinomen Erkrankten ergab der zytologische Abstrich einen Verdacht auf CIN3 oder Krebs. Bei 124 Kranken führte die Teilnahme am Projekt somit zu einer früheren Diagnosestellung und damit möglicherweise auch zu einer besseren Prävention von Karzinomen. Besonders auffällig ist der hohe Anteil von Vorstufen des Adenokarzinoms der Zervix uteri. In mehreren epidemiologischen Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass diese Unterform des Gebärmutterhalskrebses durch die bisherige Vorsorge offensichtlich nicht oder zumindest nicht nennenswert verhindert wird. So sind ca. 20% aller invasiven Krebse Adenokarzinome, bei den CIN3 handelt es sich in der Routinevorsorge dagegen in fast 99% um Vorstufen des häufigeren Plattenepithelkarzinoms. Im Wolfsburger Projekt waren 12 von 124 CIN3 Vorstufen des Adenokarzinoms. Es darf erwartet werden, dass gerade in dieser Gruppe etlichen Frauen ein Krebsleiden erspart worden ist, dass mit der bisher üblichen Vorsorge nicht hätte verhindert werden können.
Werden ausschließlich die 18 Frauen betrachtet, die an invasiven Karzinomen erkrankt waren, dann wurden 7 Fälle bei Frauen diagnostiziert, die seit mehr als 3 Jahren nicht an der Vorsorge teilgenommen hatten. Die übrigen 11 Fälle müssen nach internationalen Kriterien als Intervallkarzinome und somit Versager der zytologischen Vorsorge eingestuft werden, da die Frauen vor der Einschreibung in das Wolfsburger Projekt regelmäßig an der Routinevorsorge teilgenommen hatten. 6 dieser 11 Fälle wurden bei Frauen mit erneut unauffälliger Zytologie nur aufgrund ihres positiven HPV-Tests diagnostiziert.
Durch die festgelegten Patientinnenpfade wurde eine sehr gute Selektion der tatsächlich Kranken erreicht und eine Übertherapie Gesunder vermieden. Allerdings war der Anteil der Frauen, bei denen lediglich eine HPV-Infektion ohne Krebsvorstufen vorlag, mit 36% (195 von 535) aller zur Kolposkopie überwiesenen Teilnehmerinnen relativ hoch.
Die Therapie der bereits an Zervixkarzinomen erkrankten Frauen erfolgte entsprechend den aktuellen onkologischen Leitlinien, CIN3 wurden ambulant und minimal invasiv mittels Laserkonisation oder Schlingenresektion behandelt.
Bemerkenswert ist auch, dass die Teilnahmerate an der jährlichen gynäkologischen Routineuntersuchung höher war als bei Versicherten anderer Kassen, bei denen die jährlichen Zytoabstriche beibehalten wurden. Während 82% der Versicherten der Deutschen BKK, die im Jahr 2006 in das Projekt eingeschlossen wurden, bis Ende 2008 mindestens einmal zu einer Routineuntersuchung in die gleiche Praxis zurückkehrten, war dies bei Versicherten anderer Kassen nur bei knapp 60% der Fall.
Trotz aller Vorteile scheinen aber auch im Pilotprojekt weitere Verbesserungen möglich. So ist das Risiko für CIN3 bei Teilnehmerinnen mit negativem HPV-Test auch bei auffälligem zytologischen Abstrich so gering (kein Fall einer CIN3 oder eines Ca unter 209 Frauen), dass die bisherigen halbjährlichen Kontrollen übertrieben erscheinen.
Der größte Optimierungsbedarf besteht aber bei den Frauen mit unauffälliger Zytologie und positivem HPV-Test. Diese sind zwar einerseits die großen Gewinnerinnen, da gerade in dieser Gruppe erkrankte Frauen gefunden wurden, die sonst durch das Vorsorge Sicherheitsnetz gerutscht wären. Bei Beginn des Projektes hatten wir aber unterstellt, dass die zytologischen Kontrollabstriche die Mehrzahl der CIN3+ Fälle nach 6 Monaten erkennen würden und aufgrund einer hohen Spontanheilungsrate von ca. 60% nach einem Jahr nur noch wenige Patientinnen zur Abklärung überwiesen werden müssten. Die tatsächlich beobachtete Spontanheilungsrate lag aber nur bei 42 % und mehr als die Hälfte aller CIN3+ Fälle wurden durch die Kontrollzytologien nicht detektiert. Dies führte zu einer Diagnoseverschleppung von 12 Monaten bei drei Patientinnen mit invasiven Karzinomen und andererseits zu Überweisungen von Frauen zur weiteren Abklärung bei denen lediglich ein HPV-Infekt ohne jegliche Zellveränderungen vorlag. Durch begleitende wissenschaftliche Studien konnten hier immunzytochemische Testverfahren identifiziert werden, die eine frühzeitige Identifizierung der tatsächlich Kranken mit guter Sensitivität und Spezifität erlauben. Für die ab Februar 2011 anstehende Verlängerung des Projektes ergibt sich an dieser Stelle somit eine weitere Verbesserungsmöglichkeit.
Mehrere internationale Untersuchungen sowie zwei deutsche HTA-Berichte konnten für eine HPV-basierte Vorsorge belegen, dass diese ökonomisch effizienter ist als der bisherige Standard, wenn die Intervalle zwischen den Untersuchungen auf mindestens zwei Jahre verlängert werden und die Teilnehmerinnen ein Mindestalter zwischen 25 und 35 Jahren aufweisen. Auch für den Einsatz der Kolposkopie zur Abklärung auffälliger Vorsorgebefunde statt der in Deutschland üblichen diagnostischen Konisation ist die Kosteneffektivität in strukturierten Programmen sehr gut belegt. Prinzipiell ist das Wolfsburger Pilotprojekt somit sicher kosteneffektiv. Allerdings erfolgten Bonuszahlungen an die niedergelassenen Gynäkologen, um eine hohe Rekrutierung und Akzeptanz zu gewährleisten. Dies war für die Umsetzung des medizinisch sinnvollen Projekts ein sinnvoller Schritt, der auch in Zukunft nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden soll. Die genaue Höhe einer solchen Bonuszahlung soll aktuell allerdings durch eine gesundheitsökonomische Untersuchung geklärt werden, deren Ergebnisse noch ausstehen.
Eine Umstellung der deutschen Vorsorgestrategie im Sinne des Pilotprojekts dürfte selbst bei vorhandenem politischen Willen durch eine bisher fehlende Infrastruktur erschwert werden. Neben einer Organisationsstruktur zur Einladung und Qualitätssicherung müsste auch ein Netzwerk an Kolposkopiesprechstunden mit ausreichender Expertise etabliert werden. <<
Zusammenfassung:
Pilotprojekt der Deutschen BKK
Hintergrund:
In randomisierten Studien war der Nachweis humaner Papillomviren (HPV) bei der Prävention des Zervixkarzinoms im organisierten Screening bei Frauen über 30 Jahren effizienter als die auf der Zytologie basierende Standardvorsorge. Bisher fehlt aber der Nachweis, dass sich diese Überlegenheit auch in die Routine-Vorsorge übertragen lässt.
Methoden:
Im Wolfsburger Pilotprojekt werden weibliche Versicherte der Deutschen BKK, die älter als 30 Jahre sind, mittels HPV Test und Zytologie in Risikogruppen eingeteilt. Bei der Mehrheit mit unterstelltem Nullrisiko (HPV negativ / Zyto unauffällig) erfolgen die nächsten Abstriche erst in 5 Jahren, alle anderen werden abhängig vom Risiko entweder zur minimal invasiven Diagnostik überwiesen oder in der Praxis kontrolliert.