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„AOK im Dialog“ zur Zukunft von Gesundheit und Pflege: Deutschland muss gerechter werden

Die sozialen Sicherungssysteme – allen voran Gesundheit und Pflege – stehen vor enormen Herausforderungen: Stetig steigende Kosten und Beiträge in der Sozialversicherung bringen Bürgerinnen und Bürger an die finanzielle Belastungsgrenze. Nicht nur in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), auch bei der sozialen Pflegeversicherung (SPV) ist die Lage besorgniserregend.

Für AOK-Vorstand und Gastgeber Günter Wältermann sind Bildung, Gesundheit und Pflege die Basis, um alle anderen Herausforderungen und Krisen bewältigen zu können. Die Gäste forderten übereinstimmend, dass der Staat seine Verantwortung in der Daseinsvorsorge tragen und den finanziellen Verpflichtungen in Gesundheit und Pflege nachkommen müsse. Mit einem erweiterten Handlungsspielraum könnten Kranken- und Pflegekassen die weitere Finanzierung selbst stemmen und die Zielgenauigkeit der Ausgaben sicherstellen.

Wältermann forderte die Politik auf, die grundlegende Bedeutung der sozialen Infrastruktur anzuerkennen. Nach der Pandemie sei diese teilweise wieder aus dem politischen Blickfeld geraten. „Bildung, Gesundheit und Pflege sind essenzielle Bestandteile der Daseinsvorsorge und bilden das Rückgrat der leistungs- und anpassungsfähigen modernen Gesellschaft. Sie ermöglichen es, Krisen zu bestehen, das hohe Tempo der Veränderungen zu verkraften und die Herausforderungen der Zukunft anzunehmen“, so Wältermann.

Für den nordrhein-westfälischen Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann ist die gesetzliche Krankenversicherung ebenfalls eine der zentralen Säulen des Sozialstaats. „Denn im Krankheitsfall haben die Menschen die Gewissheit, dass erforderliche Kosten getragen werden und sie auf dem Weg der Genesung Unterstützung erhalten“, so der Minister.

Finanzierung nachhaltig aufstellen – Lasten gerecht verteilen

Einig waren sich alle Diskutierenden, dass es eine nachhaltige und faire Finanzierung geben muss, die auch die Beitragszahlenden in der gesetzlichen Krankenversicherung entlastet.

Minister Laumann forderte Nachhaltigkeit ein. „Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie ihre Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber zahlen in diesem Jahr absolute Rekordbeiträge. Hier müssten ganz klar auch die Menschen außerhalb der GKV stärker zur Kasse gebeten werden. So ist mir unverständlich, dass in wesentlichem Maße die gesetzlich Versicherten die Gesundheitskosten der Bürgergeldempfangenden finanzieren.“

Johannes Pöttering, BDA und Hauptgeschäftsführer unternehmer nrw, konstatierte, dass ein weiteres Wegducken nicht möglich sei. Er sieht den Staat gefordert, etwa durch kostendeckende Beiträge für Bürgergeldbeziehende und durch eine generelle Dynamisierung des Bundeszuschusses für versicherungsfremde Leistungen.

Wältermann appellierte, ein nachhaltiges und faires Gesundheitssystem bedürfe der Solidarität aller in der Gesellschaft. Er sprach sich zudem dafür aus, dass alle Menschen gleiche Zugangsmöglichkeiten zu einer qualitätsgesicherten Pflege- und Gesundheitsversorgung erhalten. Der Staat trage Verantwortung in der Daseinsvorsorge und müsse seinen finanziellen Verpflichtungen in Gesundheit und Pflege gerecht werden. Dazu gehörten die auskömmliche Finanzierung beim Bürgergeld, die Dynamisierung des Bundeszuschusses für versicherungsfremde Leistungen und die Übernahme der Rentenbeiträge für pflegende Angehörige in der sozialen Pflegeversicherung sowie die Erstattung der pandemiebedingten Kosten.

Grundlegende Reform auch in der Pflege dringend erforderlich

Akuter Handlungsbedarf besteht auch bei der Entlastung und Unterstützung Pflegebedürftiger und ihrer Angehöriger. Eine ehrliche Diskussion über zukunftsfeste Strukturen forderte deshalb die Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Claudia Moll MdB (SPD): „Pflegebedürftige und pflegende Angehörige fühlen sich zunehmend alleine gelassen. Immer mehr Bürokratie, alles komplizierter und kaum Entlastung vor Ort. Auch Kommunen haben dabei eine Schlüsselfunktion. Hierfür notwendige strukturelle und finanzielle Fragen müssten dringend angegangen werden.“ Ebenso wichtig sei die Modernisierung des Leistungskataloges der Pflegeversicherung, so Moll.

Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag, Maria Klein-Schmeink, räumte ebenfalls Nachbesserungsbedarf ein. „Meiner Ansicht nach muss die soziale Pflegeversicherung mit Priorität behandelt werden. Sie wird schon jetzt nur durch Vorziehen verschiedener Maßnahmen über Wasser gehalten, das trägt aber nicht mal bis zum Jahresende. Auch für die GKV braucht es bald eine Lösung. Das Vertrauen in eine verlässliche Versorgung darf nicht verlorengehen, es ist essenziell für den sozialen Frieden in unsicheren Zeiten.“

Sylvia Bühler, Mitglied im ver.di-Bundesvorstand, wies zudem auf die Notwendigkeit guter Arbeitsbedingungen und einer angemessenen Refinanzierung der Personalkosten insbesondere in der Pflege hin: „Die Gesundheitsversorgung ist eine wichtige Aufgabe der Daseinsvorsorge und als solche zu organisieren. Der Teufelskreis aus schlechten Arbeitsbedingungen, fehlenden Fachkräften und mangelhafter Versorgungsqualität muss endlich durchbrochen werden.“

Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbands VdK, forderte eine solidarische Krankenversicherung, in die alle einzahlen. Solidarität dürfe nicht an Standesgrenzen enden und Pflege dürfe nicht arm machen. „Alle Menschen müssen im Falle von Alter, Erkrankungen, Erwerbsunfähigkeit, Arbeitslosigkeit und bei Unfällen abgesichert sein. Die Zeit ist reif, um einen großen Schritt in Richtung einer Sozialversicherung für alle zu gehen.“

Prof. Dr. Heinz Rothgang, Universität Bremen, sieht die Lösung auf die drängenden Herausforderungen in der Pflege in einer Bürgerversicherung: „Bei einer steigenden Anzahl von Pflegebedürftigen, dem Wunsch nach besserer Pflegequalität und einer angemessenen Bezahlung der Pflegekräfte geht es nicht mehr um die Frage, wie Pflege billiger wird, sondern wie die steigenden Kosten fair verteilt werden können. Die Antwort bietet eine solidarische Weiterentwicklung der Pflegeversicherung, die endlich alle Bürger einbezieht.“

Selbstverwaltung als zukunftsfähiges Prinzip

Trotz der vielfältigen und drängenden Herausforderungen in Gesundheit und Pflege blickte Gastgeber Wältermann zuversichtlich in die Zukunft. „Wenn die Politik den Handlungsspielraum erweitert, ist die Selbstverwaltung in der Lage, flexibel, pragmatisch und dynamisch zu agieren und kann Probleme gemeinsam lösen“, schlussfolgerte er. Dazu brauche es Vertrauen in die bewährten Systeme und den Mut, den handelnden Akteuren die Verantwortung für den sinnvollen Einsatz der finanziellen Mittel zu geben.