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Real-World-Daten eröffnen neue Chancen in der Therapie von Blutgerinnungsstörungen

Auf einem von Novo Nordisk unterstützten Satelliten-Symposium anlässlich der GTH-Jahrestagung stellten Experten die Bedeutung von Real-World-Daten (RWD) für die Behandlung von Blutgerinnungsstörungen anhand verschiedener Beispiele vor. So führten u. a. Real-World-Daten zur Zulassung von NovoSeven®, einem rekombinanten Faktor VIIa (rFVIIa), bei schwerer postpartaler Hämorrhagie (sPPH) und zur Aufnahme der neuen Zulassung in die Leitlinien.

Für Patienten mit Hämophilie B bestätigte die Analyse der Daten eines kanadischen Registers eine verbesserte Blutungskontrolle nach der Umstellung der FaktorIX(FIX)-Prophylaxe auf den langwirksamen rFIX Refixia®. 7,8 Zur Beurteilung des Therapieerfolgs ist nicht nur die Blutungskontrolle, sondern auch die Gelenkgesundheit wichtig. Mit der Real-World-Studie pathfinderReal bei Patienten mit Hämophilie A sollen nun die Auswirkungen der Prophylaxe mit dem langwirksamen rFVIII Esperoct®9 auf die Gelenkgesundheit evaluiert werden.

„In Real-World-Studien werden Daten in der direkten Behandlung von Patienten außerhalb von kontrollierten klinischen Studien erhoben. Aus den generierten Daten können nach entsprechender Analyse Evidenzen, sogenannte Real-World-Evidenzen (RWE), gewonnen werden“, erklärte Prof. Dr. Hermann Eichler, Direktor des Instituts für Klinische Hämostaseologie und Transfusionsmedizin an der Universität des Saarlandes. Im Unterschied zu kontrollierten Studien sei in Real-World-Studien die untersuchte Population deutlich heterogener und spiegle daher eher das Szenario wider, wie es sich in normalen Behandlungszusammenhängen ergebe. Zudem erfolge keine Randomisierung und die Therapie ist nicht in einem definierten Studienprotokoll festgeschrieben. RWE könnten retrospektiv oder prospektiv, longitudinal oder cross-sektional aufgebaut sein. Sie basierten auf neu generierten (primären) Daten, z. B. aus nicht-interventionellen Studien, oder auf existierenden (sekundären) Daten, z. B. aus Registern. Ein Beispiel für eine primäre RWE-Datenquelle sei die multinationale Online-Befragung (10) von 46 Patienten mit Hämophilie A und 16 Betreuenden zu ihren Erfahrungen mit Esperoct®. Laut Eichler ergab die Auswertung der Befragungen u. a., dass 91 % der Teilnehmenden, die vorher ein anderes Produkt verwendet hatten, mit Esperoct® zufriedener waren als mit der Vortherapie – hauptsächlich aufgrund der geringeren Injektionshäufigkeit und der Effektivität von Esperoct®. (10) „Wichtige sekundäre Datenquellen sind Register wie das Deutsche Hämophilie-Register (DHR), das auch die neuen Therapieoptionen monitort und untersucht“, betonte Eichler.

Schwere postpartale Blutungen – aktuelle Leitlinie und mögliche Behandlung mit NovoSeven®.

„Die postpartale Hämorrhagie (PPH) ist ein Notfall bei der Geburt und die häufigste Form einer schweren geburtsbedingten Hämorrhagie“, erklärte Dr. Bettina Faridi, Oberärztin Spezielle Geburtshilfe und Pränatalmedizin, Universitätsklinikum Bonn. Eine schwere PPH (sPPH) ist definiert als Blutverlust von mehr als 1.500 ml innerhalb von 24 Stunden nach der Geburt, unabhängig vom Entbindungsweg (vaginal oder per Kaiserschnitt). (11) Die Häufigkeit von PPH und sPPH wird weltweit auf 6 – 11 % bzw. 1 – 3 % aller Geburten geschätzt, mit großen regionalen Unterschieden. (12) Die sPPH gehöre weltweit zu den Hauptursachen der Sterblichkeit von Müttern. (13)

Die häufigsten Ursachen einer PPH seien ideopathische Atonie, Uterusüberdehnung, Tokolytikagabe und Myome, aber u. a. auch Dammriss/-schnitt, Uterusruptur, Plazentaretention sowie primäre und sekundäre Koagulopathien kämen in Frage, so Faridi. (14) Da der Blutverlust bei PPH häufig unterschätzt werde, empfiehlt die aktuelle Leitlinie, Binden, Tupfer etc. zu sammeln und die Blutmenge zu berechnen. Zudem müsse auf klinische Zeichen geachtet werden: Bei Symptomen wie z. B. Hypotonie, Tachykardie, Blässe, Bewusstseinstrübung und Oligo-Anurie könne der Blutverlust bereits oftmals über 1,5 Liter liegen und es drohe ein schwerer hämorrhagischer Schock. Ab 2 Liter Blutverlust werde das Gerinnungssystem aktiviert und es käme zur lebensbedrohlichen Verbrauchskoagulopathie.

Bei sPPH müsse rasch die Ursache gefunden und die entsprechenden Maßnahmen eingeleitet werden. Wichtig sei aber, parallel die Gerinnung zu stabilisieren. Zunächst werden Tranexamsäure, Fresh-frozen-Plasma, Erythrozyten- und Thrombozytenkonzentrate gegeben. Bei weiter instabiler Gerinnung, kämen Desmopression und entsprechend der aktuellen Leitlinie NovoSeven® zum Einsatz. (6) Frau Dr. Faridi erläuterte die Zulassung von NovoSeven® bei sPPH auf Basis einer randomisierten kontrollierten Open-Label-Studie (15) sowie auf Real-World-Daten. (2-5) In der klinischen Studie bei Frauen mit sPPH, bei denen Uterotonika die Blutung nicht stillen konnten, benötigten die Patientinnen, die eine NovoSeven®-Injektion erhalten hatten (n = 42), weniger operative Verfahren, um die Blutung zu stoppen, als die 42 Patientinnen, die mit Standard of Care behandelt wurden (52 % vs. 93 %). (15) In den Real-World-Studien wurde zudem das Sicherheitsprofil von NovoSeven® bestätigt, berichtete Faridi. (2-5)

Hämophilie B – PK-Vergleichsstudien und Real-World-Daten sprechen für Refixia®

Seit Juni 2018 steht der langwirksame rFIX Refixia® für die Behandlung und Prophylaxe von Blutungen bei Patienten ab 12 Jahre mit Hämophilie B zur Verfügung. Dr. Carmen Escuriola Ettingshausen, Direktorin des Hämophiliezentrums Rhein Main, Mörfelden, berichtete, dass mit einer einmal wöchentlichen Gabe Refixia® mittlere FIX-Talspiegel von 27 % erreicht werden können. (16) Refixia® führte in Studien zu einer signifikanten Blutungsreduktion und verhinderte weitere Blutungen in Zielgelenke – und das im Vergleich zu Standard-rFIX mit weniger Injektionen. (16,17) Darüber hinaus habe die Pharmakokinetik(PK)-Studie paradigmTM7 im Crossover-Design gezeigt, dass die FIX-Aktivität 7 Tage nach der Gabe von Refixia® 6-mal höher war als nach der Injektion des ebenfalls langwirksamen Eftrenonacog alfa (rFIXFc) (C168h = 18,7 vs. 3,2 IE/dl). (18)

Wie sich eine Umstellung einer FIX-Prophylaxe von einem Standard-rFIX-Präparat oder rFIXFc auf Refixia® im Real-Life-Setting auf die Blutungskontrolle auswirkt, untersuchte eine Analyse des multizentrischen kanadischen Registers für Blutgerinnungsstörungen (Canadian Bleeding Disorders Registry, CBDR). 37 erwachsene männlichen HämophilieB-Patienten, für die Daten über mindestens 6 Monate vor und nach der Therapieumstellung vorlagen, wurden in die Analyse eingeschlossen. (7) 15 Patienten wechselten von Standard-rFIX auf Refixia® und profitierten davon mit einer Senkung der medianen jährlichen Blutungsrate im Vergleich zur Vortherapie (Annualised Bleeding Rate [ABR] 5,72 vs. 1,67). 22 Patienten wechselten von rFIXFc auf Refixia®, ihre ABR reduzierte sich im Beobachtungszeitraum von 1,54 auf 0,77. Diese Verbesserung der Blutungsprävention ergab sich auch jeweils für Gelenkblutungen. In der Gruppe, die von rFIXFc auf Refixia® gewechselt hatte, blieben 36 % der Patienten bei einer medianen Beobachtungszeit von 2,3 Jahren ohne Blutungen. Damit gab es unter Refixia® im Vergleich zu FIXFc mehr blutungsfreie Patienten und dies trotz einer deutlich längeren Follow-up-Zeit, betonte Escuriola Ettingshausen. (7) Zudem ging nach der Umstellung auf Refixia® der jährliche Gesamtverbrauch an FIX und die Anzahl der Injektionen pro Jahr bei der Prophylaxe zurück – unabhängig von welchem Präparat auf Refixia® gewechselt wurde. (7)

„Es hat sich gezeigt, dass aus Patientenregistern zeitnah und sinnvoll Daten generiert werden können, um kurzfristig verschiedene Therapien oder Therapeutika zu vergleichen“, so Escuriola Ettingshausen abschließend.

„Erfassung der Gelenkgesundheit gehört zum Comprehensive Care“

„Man darf nicht vergessen, dass neben der Blutungsrate die Gelenkgesundheit ein wichtiger Parameter zur Beurteilung des Therapieerfolgs ist“, erklärte Dr. Katharina Holstein, Fachärztin für Innere Medizin und Hämatologie, Gerinnungsambulanz und Hämophiliezentrum, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Bei Hämophilie komme es häufig zu Einblutungen in die Gelenke, die mit der Zeit zu Arthropathien mit Schmerzen, massiver körperlicher Behinderung, reduzierter Teilhabe und Einschränkung der Lebensqualität führen können. „Eine Situation, die unbedingt vermieden werden muss“, warnte Holstein. Unabdingbar sei die frühzeitige prophylaktische Therapie, um Blutungen zu verhindern und einer hämophilen Arthropathie insbesondere der
Zielgelenke vorzubeugen. (19,20)

Eine Erfassung der Gelenkgesundheit, vor allem hinsichtlich der (Früh-)Erkennung einer Arthropathie, gehöre zum Comprehensive Care, erklärte Holstein. Für die klinische Untersuchung stehen bildgebende Verfahren (Sonografie, MRT) sowie verschiedene Scores zur Verfügung. Der Gilbert-Score sei wenig sensitiv, aber bei älteren Patienten mit fortgeschrittener Arthropathie zur Verlaufsbeurteilung geeignet. Der Haemophilia Joint Health Score (HJHS) hingegen sei sensitiver, auch um geringe Gelenkschäden zu erkennen, und bereits bei Kindern und Jugendlichen gut einsetzbar. Der HJHS zeige zudem eine gute Korrelation u. a. mit der kumulativen Blutungszahl und der radiologisch nachgewiesenen Schädigung. (21) Allerdings benötigten die Untersuchungen für den HJHS relativ viel Zeit (Ellbogen, Knie, Köchel werden jeweils beidseitig systematisch beurteilt), aber mit etwas Übung werde man schneller.

Real-World-Studie zur Gelenkgesundheit unter Prophylaxe mit Esperoct®

Nun solle der Frage nach dem Einfluss einer Umstellung auf Prophylaxe mit Esperoct® auf die Gelenkgesundheit bei Patienten mit Hämophilie A nachgegangen werden. Laut Holstein habe die Studie pathfinderTM2 mit 186 Patienten mit schwerer Hämophilie A (FVIII-Aktivität < 1 %) für Esperoct® (50 I.E./kg alle 4 Tage22) eine effektive Blutungsprophylaxe gezeigt. Bei dieser Dosierung wurde ein mittlerer FVIII-Talspiegel im SteadyState von 3,1 %22 bis 5,5 % (23) (bei Patienten mit längerer Esperoct®-Behandlung) sowie eine niedrige mediane ABR von 0,8422 erreicht, so Holstein.
„Um nun die Auswirkungen der Prophylaxe mit Esperoct® auf die Gelenkgesundheit zu evaluieren, kommt wieder eine Real-World-Studie ins Spiel – die noch laufende multinationale, prospektive, nicht-interventionelle Studie pathfinderReal“, so Holstein. Die Erfassung des klinischen Gelenkscores mittels HJHS über 24 Monate ab Studienbeginn soll Daten im Real-World-Setting zur Effektivität der Prophylaxe mit Esperoct® bei erwachsenen Patienten mit Hämophilie A, die auf Esperoct® umgestellt wurden, liefern. „Mit dem HJHS können mit relativ wenig Aufwand wichtige Daten zur Gelenkgesundheit des Patienten erhoben werden. Daher sollten wir den Score auch regelmäßig erheben“, plädierte Holstein abschließend.

Literatur
1 Fachinformation NovoSeven®, Stand: Januar 2023
2 Colucci G et al. Clin Appl Thromb Hemost 2018; 24(6): 884-893
3 PPH Consortium
4 Blatny J et al. Int J Obstet Anesth 2011; 20(4): 367-368
5 Phillips LE et al. Anesth Analg 2009; 109(6): 1908-1915
6 AWMF-Registernr. 015-063. S2k-Leitlinie Peripartale Blutungen, Diagnostik und Therapie.
https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/015-063 (letzter Zugriff 06.03.2023)
7 Matino D et al. Res Pract Thromb Haemost 2022; 6: e12661
8 Fachinformation Refixia®, Stand: Dezember 2022
9 Fachinformation Esperoct®, Stand: November 2022
10 Eichler H et al. Poster presented at ISPOR Europe 2022, 6.–9.11.2022, Vienna, Austria and
Virtual: Novo Nordisk data on file
11 Say L et al. Lancet Glob Health 2014; 2(6): e323-333
12 Muñoz M et al. Blood Transfus 2019; 17(2): 112-136
13 World Health Organisation (WHO).
http://apps.who.int/iris/bitstream/10665/75411/1/9789241548502_eng.pdf (letzter Zugriff
01.03. 2023)
14 Evensen A et al. Am Fam Physician 2017; 1: 95(7): 442-449
15 Lavigne-Lissalde G et al. J Thromb Haemost 2015; 13(4): 520-529
16 Collins PW et al. Blood 2014; 124: 3880–3886
17 Negrier C et al. Blood 2011; 118: 2695-2701
18 Escuriola Ettingshausen C et al. Res Pract Thromb Haemost 2019; 3: 268-276
19 Srivastava A et al. Haemophilia 2020; 26 (Suppl 6): 1-158
20 Querschnittsleitline Bundesärztekammer 2020
21 Boehlen F et al. Eur J Haematol Suppl 2014;76: 2-15
22 Giangrande P et al. J Thromb Haemost 2020; 18(Suppl 1): 5-14
23 Tiede A et al. Haemophilia 2022; 28 (1): 27-35
24 Tosetto A et al. Haemophilia 2020; 26: 450-458