Franz Knieps, Vorstand des BKK Dachverband, brachte zehn Metathemen aus Sicht der Krankenkassen, aber vor allem aus seiner persönlichen Perspektive und jahrelangen Erfahrung als Abteilungsleiter im Bundesministerium für Gesundheit unter Ministerin Ulla Schmidt ein. Aus klinischer Sicht formulierte Prof. Dr. Wolfram Herrmann, Plattform – Charité Versorgungsforschung, Institut für Allgemeinmedizin, auf dem MVF-Fachkongress „Priorisierungskatalog Versorgungsforschung“ sieben konkrete Fragen an die Versorgungsforschung.
> Mit den sieben wichtigsten Fragen an die Versorgungsforschung aus klinischer Sicht wollte Knieps einen Rahmen stecken für Versorgungsforschung, auf dass sie mit möglichst hoher Evidenz der Politik zeitnah einen Weg weisen möge. Politik sei nie auf eine Person oder auch Institution konzentriert, sondern immer ein komplexer Aushandlungsprozess konfliktierender Ziele und Interessen. Bei diesem Prozess könnten die Verantwortlichen jedoch schon jetzt auf das aufbauen, was insbesondere in den letzten zwei, drei Jahren zum einen durch eine exzellente Grundlagenarbeit aufgebaut worden sei, zum anderen aber auch durch private Initiativen erarbeitet worden sei. Wie etwa durch das wunderbare Fachbuch „Strategiewechsel Jetzt!“ (1) von Piwernetz und Neugebauer, das in seiner Stringenz und in seiner methodischen Ordnung beispiellos sei. Auch steche die große „Neustart“-Initiative (2) der Bosch-Stiftung aus der Vielzahl der Statements, Stellungnahmen und Grundsatzpapiere heraus, da sie partizipativ angelegt sei, indem sie Bürger:innen eingebunden und mit der geballten Expertise der deutschen Versorgungsforschung aus allen Bereichen unter einem Dach versammelt habe. Und last but not least versäumte er es nicht, den Sachverständigenrat Gesundheit zu loben, der thematisch fokussiert, aber breit angelegt Hinweise gebe, wo Deutschland im internationalen Vergleich stehe und wohin sich unser Gesundheitssystem weiterentwickle.
Insgesamt, so Knieps, brauche es zum Ersten eine stärker politisch-strategische Ausrichtung der Versorgungsforschung. Zum Zweiten eine noch bessere interdisziplinäre Zusammenarbeit unterschiedlicher Professionen und Herkünfte. Und zum Dritten eine Priorisierung von Zielen und Maßnahmen, die er in einem reinen Wortvortrag in zehn Themenbereichen formulierte.
Themenbereich 1
Ähnlich wie es in dem Grundlagenwerk von Piwernetz/Neugebauer ausgeführt sei, sieht es Knieps zuallererst als zentral an, dass die Versorgungsforschung Beiträge dazu liefert, mit denen ein abgestimmtes Steuerungssystem entwickelt werden könne. Damit meint er einen Managementkreislauf, ähnlich den, der bei der Steuerung großer Organisationen eingesetzt werde. Ebenso sei eine Analyse der Stärken und Schwächen notwendig, um daraus Ziele abzuleiten und Verbesserungspotenziale zu erschließen. Auf Grundlage dieser Vorarbeiten könne eine umfassende Strategie für das Gesamtsystem Versorgung und für alle Teilstrategien der Akteure entwickelt werden, die anschließend in einen Maßnahmenkatalog umgesetzt werden. Knieps: „Ich mache mir keine Illusionen, dass es den ganz großen Plan geben wird. Aber ich halte es durchaus für realistisch, einen Kriterien- und Maßnahmenkatalog aufzulegen, der es den Akteuren einfacher macht zu erkennen, welche konkret geplanten Maßnahmen zu konsentierten Zielen führen oder von ihnen weg.“ Das wäre eine ungeheure Hilfe und würde den letzten Schritt des Managementkreislaufs erleichtern: der Evaluation. Knieps: „Diesen Schritt fürchtet die Politik wie der Teufel das Weihwasser.“
Themenbereich 2
Mit Themenbereich 1 eng verbunden ist Themenbereich 2: Hier fordert Knieps dazu auf, über die Verantwortlichkeiten im Sinne einer stringenteren Ordnungspolitik nachzudenken. Es muss genau definiert werden, wer auf welcher Ebene was und in welcher Institution zu machen hat. Bisher bilde der Mix von Staat, Selbstverwaltung und Markt ein sehr ungeordnetes und nicht aufeinander abgestimmtes System. Zudem führe jede Ergänzung des SGB V weiter von Ordnungspolitik weg, statt zu dieser hin. Das gelte beispielhaft etwa für das Verhältnis von Wettbewerb und Regulierung. Auch müsse die Neubestimmung nicht nur der Rollen der Ministerialbürokratie in Bund und Ländern, sondern auch korporatistischer Akteure der mittelbaren Staatsverwaltung und privater Unternehmen angegangen werden. Zur klareren Beschreibung, wer auf welcher Ebene was macht, muss nach Knieps Ansicht ebenso die Rolle von Regionen und Kommunen definiert werden. Sowie im Rahmen der Verantwortlichkeitsdefinition auch die aller Berufsgruppen. Generell gelte es, weg von der Hierarchisierung im Sinne einer Arztzentrierung zu kommen und hin zu einem kooperativen Miteinander.
Themenbereich 3
Aus den ersten beiden Themenbereichen entstehen nach Knieps im dritten Bereich prioritäre Aufgaben und Anforderungen an die Versorgungsforschung. Zu erforschen sei hier, welche Steuerungsinstrumente zur Realisierung einer abgestuften, interdisziplinären und integrierten Versorgung beitragen und welche nicht. Auch sei die Frage zu klären, wie Patientenorientierung und -zentrierung in den Fokus dieser Steuerungsdiskussion genommen werden könne. Knieps: „Ich mache mir auch hier keine Illusionen, da Politik nun einmal das Austragen und Entscheiden von Interessenskonflikten ist.“ Dabei gelte, dass die meisten Akteure Eigeninteressen hätten und eben gerade nicht die Interessen der Nutzer:innen dieses Systems vertreten, auch wenn dies ausnahmslos alle behaupten würden. Daher sei es unabdingbar, zum einen alle Kapazitätsbestimmungen wirklich dem Bedarf und den Bedürfnissen entsprechend abzustimmen, zum anderen die geltenden Honorierungs- und Preissysteme den Zielen von Qualität, Effizienz, Wirksamkeit und Verbesserung der Versorgung unterzuordnen. Wenn dies gelänge, käme man dem Ziel einer Value-based Healthcare näher.
Themenbereich 4
Mit seinem vierten Punkt fordert Knieps die Versorgungsforschung auf, sich wieder stärker mit dem Thema einer nachhaltigen Finanzierung zu beschäftigen. Die Beschaffung und Allokation der notwendigen Mittel für das Gesundheitswesen sei nicht nur ein Thema für Gesundheitsökonom:innen, sondern eine gesellschaftspolitische Frage ersten Ranges. Knieps: „Wir führen immer die alten Gefechte Beitragssatzstabilität versus Qualität und fragen uns nicht, ob wir neue Formen der Finanzierung denken können.“ Versicherungspflichtgrenze und Beitragsbemessungsgrenze seien ebenso heilig wie die Orientierung des Arbeitgeberbeitrages an der Lohnsumme. Daher fordert Knieps, dass Finanzierungformen, die vor 30 oder auch 40 Jahren schon einmal debattiert wurden, damals indes unter dem falschen Attribut Maschinensteuer, ebenso diskutiert werden müssen wie die Erfassung sonstiger Einkunftsarten. Dazu gehört den Worten von Knieps zufolge auch die Diskussion über eine Vielzahl von Verhaltensweisen und Produkten, die nachweislich die Gesundheit schädigen. Doch würden die Abgaben, die auf diese Produkte und Leistungen erhoben werden, im allgemeinen Steuersäckel landen. Das sei in vielen Ländern anders und sollte auch bei uns durch die Versorgungsforschung problematisiert werden.
Themenbereich 5
Mit seinem fünften Themenbereich kommt Knieps auf die dringend gebotene Aufwertung des Public-Health-Gedankens über alle Ebenen hinweg zu sprechen. Hier lauteten die Stichworte: Reform des öffentlichen Gesundheitsdienstes, Einführung einer konsequenten Gesundheitsberichterstattung nahe an der Echtzeit.
Aber auch das Thema Prävention sollte als gesamtgesellschaftliche Aufgabe und nicht als Annex von Sozialversicherungssystemen neu gedacht werden. Knieps: „Prävention muss deutlich stärker auf chronische Erkrankungen und die Vermeidung beziehungsweise Hinauszögerung von Pflegebedürftigkeit ausgerichtet werden.“
Themenbereich 6
Beim Thema Nummer sechs steckt Knieps Meinung nach die Versorgungsforschung noch sehr stark in den Kinderschuhen: der Begleitung der digitalen Transformation. Dies sei ein extrem umstrittener Punkt, weil sich hier die Frage stelle, wie das soziale Sicherungsversprechen unter den Bedingungen von Digitalisierung und Plattformökonomie aussehe. Muss ich das nicht aus Sicht der Patient:innen denken und letztlich dann auch regulieren? Knieps: „Für mich ist Digitales nur dann innovativ, wenn Qualität, Effektivität und Effizienz gesteigert werden können.“ Gerade bei der Bestimmung des Nutzens könne die Versorgungsforschung eine herausragende Rolle spielen. Ihr kommt aber ebenso die Rolle zu, Heilsversprechen, an denen es gerade im Bereich der digitalen Transformation nicht mangele, zu entmystifizieren und Fakten zu analysieren, die hinter der digitalen Transformation stehen. Letzter Bullet-Point zu diesem Thema: Die Versorgungsforschung müsse dazu beitragen, Datensicherheit und Datenschutz zu gewährleisten, und belegen, dass Datenschutz und Datennutzung bei Big Data eine Frage der Teilhabe ist.
Themenbereich 7
Mit dem siebten Punkt spricht Knieps wieder ein eher traditionelles Gebiet der Versorgungsforschung an: der Beschreibung dessen, wie Erkenntnisse der Medizin, Biologie, Neurowissenschaften etc. für neue Formen der Medizin und Versorgung nutzbar gemacht werden könnten. Nicht zuletzt habe Alena Buyx schon vor einigen Jahren darauf aufmerksam gemacht, dass hier erhebliche Potenziale, aber auch erhebliche Gefahren für das soziale Sicherungsversprechen liegen. Knieps: „Wir müssen faktengestützt darüber debattieren, was die Konsequenzen aus der Entschlüsselung des Genoms und des Eiweißkreislaufs sind und was aus der Kombination dieser Erkenntnisse mit Big Data und künstlicher Intelligenz folgt.“ Dazu gehört auch die Frage, ob vielleicht in der Zukunft nur noch Gesunde behandelt werden, was nach geltendem Recht nicht zulässig sei. Doch komme man dahin, wenn man über Themen wie Disease Interception und Präzisionsmedizin rede, was man nicht nur der Industrie und den großen Techkonzernen überlassen dürfe. Knieps: „Hier muss eine gesellschaftliche Debatte stattfinden und dafür ist die Versorgungsforschung ein wichtiger Impulsgeber.“
Themenbereich 8
Punkt 8 ist für Knieps das Metathema der Neuordnung der Pflege. Neben der Neudefiniton der Rolle der Pflegeversicherung müsste künftig infrage gestellt werden, ob denn die Trennung von Kranken- und Pflegeversicherung noch sinnvoll sei. Oder ob diese Trennung nicht Versorgungsziele konterkariert, indem der jeweilige Bereich versucht, Risiken in den anderen SGB-Bereich zu transferieren. Er hält hier den niederländischen Weg einer Verschmelzung für sinnvoll. Das Nachbarland setze zudem auf eine wettbewerbliche Krankenversicherung zur Akutversorgung und eine nichtwettbewerbliche Versicherung für chronische Erkrankungen, Rehabilitation und Pflege.
Themenbereich 9
Mit seinem vorletzten Punkt adressiert Knieps den Bereich der systemischen Personal- und Organisationsentwicklung, einen Bereich, der seiner Ansicht nach in der Versorgungsforschung eher unterentwickelt sei. Welche Rolle spielt Generalistik und welche Spezialisierung? Wie schaffen wir es, unterschiedliche Professionen auf Augenhöhe in Teams miteinander in Einklang zu bringen? Und wie kann es gelingen, von einer extrem kleinteiligen Struktur der Leistungserbringung wegzukommen hin zu Zentralisierung und Integration von virtuellen Angeboten und von Mobilitätskonzepten? Dies seien wichtige, von der Versorgungsforschung zu beantwortende Fragen.
Themenbereich 10
Den Schluss aus einer sehr persönlichen Sicht macht Jurist Knieps mit dem Verhältnis von Politik und Recht. Hier erkennt er eine deutliche Schwäche in den Gesundheitsgesetzen und speziell in den Sozialgesetzbüchern. Die vielen Einzelbücher, insbesondere die allgemeinen Teile im SGB I und SGB IV, aber letztlich auch die für das Gesundheitswesen wesentlichen Punkte im SGB V, SGB IX und SGB XI, würden den Erkenntnis-
stand der 70er- und 80er Jahre widerspiegeln. Aber gewiss nicht mehr ein modernes, verständliches Gesundheitsrecht repräsentieren. Hier sei grundlegende Kodifizierungsarbeit nötig, die eine Modernisierung der Gesetzgebung unter Einbeziehung ökologischer Nachhaltigkeitsziele und einer neuen Rolle der Patient:innen in Shared-Decision-Teilhabeprozessen inkludiere. <<
Sieben Fragen aus klinischer Sicht
„Warum brauchen wir genau jetzt vor allem ganz viel Versorgungsforschung?“ Mit dieser Frage stieg Prof. Dr. Wolfram Herrmann, Institut für Allgemeinmedizin der Charité, in seinem Vortrag ein, in dem
er die sieben wichtigsten Fragen an die Versor-gungsforschung aus klinischer Sicht formulierte. Als Hauptgrund für sein Postulat führte Hermann den demografischen Wandel an, der allen entwickelten Ländern in den nächsten Jahren bevorsteht. Wichtig ist für ihn der internationale Blick, weil zwar viel über deutsche Probleme geredet werde, Versorgungsforschung indes international aufgestellt sei. Diese würde im Regelfall internationale Probleme erforschen, die dann auf Deutschland projiziert würden.
Der demografische Wandel führe zu vier Kernaspekten, deren Lösung vor allem Versor-gungsforschung angehen könne. Zum einen seien das 80-plus-Menschen mit komplexen Bedarfen und chronischen Erkrankungen. Bekannt sei, dass gerade diese Klientel im derzeitigen, auf akute und spezielle Erkrankungen spezialisierten Gesundheitssystem in der Regel nicht so gut behandelt würden. Das „Warum“ und „Wie besser“ seien Fragestellungen, die die Versorgungsforschung beantworten müsse.
Als zweiten Aspekt des demografischen Wandels nannte Herrmann sich verändernde Mikrosozialstrukturen. Da jedoch unser heutiges Gesundheitssystem darauf beruhe, dass Patient:innen sich selbst organisieren, könn-
ten immer mehr in Einpersonenhaushalten Lebende zumeist nicht auf Verwandte zurückgreifen, die ihnen beim Selbstmanagement helfen könnten, wenn sie das, aus welchen Gründen auch immer, nicht mehr könnten. Hier seien Lotsen- und AGnES-Strukturen gefragt, die jedoch – ebenso wie Ärzteschaft und Pflege – durch zunehmenden Fachkräftemangel beeinträchtigt würden. Damit verbunden sei der Renteneintritt der Babyboomer, was nicht nur den Fachkräftemangel verstärkte, sondern zu sinkenden Sozialversicherungseinnahmen führe. Herrmann: „Damit wird der budgetäre Kuchen nicht unbedingt größer werden, weshalb man ökonomische Aspekte nicht ausklammern kann.“
All das seien relevante Probleme als Motivation dafür, warum Versorgungsforschung so dringend gebraucht werde. Das Leitmotiv ist seiner Meinung nach, die Schaffung der notwendigen Evidenz qua Versorgungsforschung. Damit meint er allerdings eine Grundlagenforschung und nicht nur eine Auftragsforschung zur Sicherstellung einer effizienten und guten Gesundheitsversorgung, die genau die erreichen muss, die sie am meisten nötig haben.
Das führt ihn zum nächsten Punkt, weil Alter auch häufig mit Multimorbidität assoziiert sei. Bisherige Innovationsfondsprojekte würden hingegen den Fokus auf viele einzelne Erkrankungen oder spezielle Risikofaktoren legen und oft auch die hausärztliche Perspektive einnehmen. Dabei seien vor allem solche Projekte sinnvoll, die die Versorgungssituationen von Menschen mit verschiedenen parallelen Erkrankungen und komplexen Problemen erforschen würden. Herrmann: „Zudem sehen wir zu oft selektive Lösungen, die ein Add-on im bestehenden System sein sollen, statt ein Neudenken des Systems.“
Aus diesen Metathemen leitet Herrmann seine sieben wichtigsten Fragen ab, mit deren Beantwortung eine effiziente und gute Gesundheitsversorgung sichergestellt werden könne, die die erreicht, die eine gute Versorgung am meisten nötig haben:
1. Wie kann eine gute hausärztliche Versorgung vor Ort langfristig sichergestellt werden? Was sind die besten Strukturen und Prozesse dafür?¨
2. Für welche Aufgaben benötigen wir wo welche Art von Krankenhaus (und für welche nicht)?
3. Wie kann eine bessere Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Berufsgruppen vor Ort gelingen?
4. Wie können soziale Fragen, die in die medizinische Versorgung wirken, besser gelöst und berücksichtigt werden?
5. Wie können spezielle Krankheiten gut spezialisiert versorgt werden bei einer gleichzeitig guten Grundversorgung für alle?
6. Welche Diagnostik und Therapie im hohen Alter nutzt mehr, als sie schadet?
7. Wie sorgen wir dafür, dass die (vulnerablen) Patient:innen, die sie am meisten benötigen, die für sie beste Form von Prävention, Diagnostik und Therapie bekommen? <<