Im November vergangenen Jahres hat das AQUA-Institut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen die ersten Aufträge des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) für die sektorenübergreifende Qualitätssicherung der medizinischen Versorgung erhalten. Bereits in diesem Jahr hat das Institut schon viel geleistet: In einem 127-seitigen Methodenpapier stellte AQUA die grundlegenden Entwicklungsschritte zur Messung und Verbesserung der Versorgungsqualität zur Diskussion. „Monitor Versorgungsforschung“ sprach mit dem Leiter des Instituts, Herrn Prof. Dr. med. Dipl.-Soz. Joachim Szecsenyi, über das Konzept des Instituts zur Messung der Versorgungsqualität.
>> Sehr geehrter Herr Professor Szecsenyi, das Konzept des AQUA-Instituts zur Qualitätssicherung hat den unparteiischen Vorsitzenden des G-BA, Dr. Rainer Hess, mehr als überzeugt und die Mitbewerber bei der europaweiten Ausschreibung ausgestochen. Wie haben Sie das geschafft, worin liegt die Stärke Ihres Konzepts?
Wir haben uns bei unserem Angebot sehr genau an den Ausschreibungstext des G-BA gehalten. Verlangt wurde ein Konzept, mit dessen Hilfe die Qualität in der Gesundheitsversorgung sektorenübergreifend gemessen und bewertet werden kann, um anschließend Wege zur Verbesserung aufzuzeigen. Die Mitarbeiter des AQUA-Instituts haben sich darum bereits im Vorfeld sehr intensiv mit der Frage beschäftigt, wie man dafür Qualitätsindikatoren entwickeln kann. Uns war es dabei auch besonders wichtig, den Bewertungsprozess so zu gestalten, dass er einerseits nach außen hin transparent und nachvollziehbar ist, andererseits aber wissenschaftlichen Anforderungen entspricht. Und das ohne von der Politik beeinflusst zu werden. Als ein unabhängiges In-stitut arbeiten wir interessenunabhängig und neutral, entsprechend meinem Wahlspruch: „An Qualität kommt niemand vorbei“.
Welche Ansätze im AQUA-Konzept halten Sie für besonders wichtig?
Das ist zum einen der sektorenübergreifende Gedanke und zum anderen der Ansatz, die Qualität aus verschiedenen Perspektiven betrachten und abbilden zu wollen. Dazu zählt auch immer die Sicht der Patienten. Denn gerade sie können wertvolle Hinweise auf Lücken in der gesundheitlichen Versorgung liefern, die durch die Daten allein nicht sichtbar werden. Diesen Ansatz verfolgt das AQUA-Institut übrigens bereits in seinem ersten Entwurf zu einem Methodenpapier, das die wichtigsten Entwicklungsschritte auf dem Weg zur künftigen Qualitätssicherung gemäß § 137a SGB V festhält.
Ein Methodenpapier - ist das nicht bloß eine weitere bürokratische Maßnahme, die in einem kleinen Kreis von Eingeweihten besprochen und später von der Politik „verordnet“ wird?
Keineswegs. Das Methodenpapier in seiner aktuellen Version ist erst die Grundlage für ein breites Abstimmungsverfahren, das die Stellungnahmen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, der Deutschen Krankenhausgesellschaft, des Spitzenverbands Bund der Krankenkassen und des Verbandes der privaten Krankenversicherung einbezieht. Wir sind außerdem gesetzlich dazu verpflichtet, vielen Organisationen im Gesundheitswesen - auch Patientenorganisationen - unsere Informationen zur Verfügung zu stellen. Das tun wir, indem wir das Papier der interessierten Öffentlichkeit auf der Website des AQUA-Instituts zur Diskussion stellen.1 Erst wenn alle relevanten Anregungen und Stellungnahmen eingeflossen sind, werden wir dem G-BA ein abschließendes Papier vorlegen.
Würde das AQUA-Institut in der Qualitätssicherung grundsätzlich mit anderen Akteuren - Leistungserbringern, Krankenhäusern oder auch Pharma-Unternehmen - zusammenarbeiten?
Mit allen - auch mit Pharma-Unternehmen - ist durchaus ein gedanklicher Austausch denkbar, beispielsweise auf Tagungen, bei denen wir unsere Ergebnisse und die Methodik vorstellen. Leistungserbringer aus dem stationären und ambulanten Bereich sind ja direkt in die Gremien und Arbeitsgruppen des G-BA eingebunden. So ist z.B. für die Themenfindung in der Qualitätssicherung an sich der G-BA selbst mit seiner Arbeitsgruppe „Themenfindung und Priorisierung“ zuständig, die dann in den entsprechenden Gremien beschlossen werden muss. Wie dann das jeweils neue Thema umgesetzt wird und welche Indikatoren letztlich wie abgebildet werden, ist Aufgabe unseres Instituts. Dazu laden wir Fachexperten zu einem Arbeitskreis ein. Um in diesen Arbeitskreis eintreten zu können, müssen sich die Kandidaten bewerben und ihre Interessenkonflikte offen legen.
Wie sieht das Verhältnis des AQUA-Instituts zum IQWiG aus - Kooperation oder Konkurrenz?
Es ist eher eine Ergänzung. Das IQWiG ist für die Nutzen-Bewertung von Therapien und Medikamenten zuständig, AQUA für das Qualitätsmonitoring. Das IQWiG hat einen ganz anderen Aufgabenfokus und wird in Zukunft einige Aufgaben bewältigen, die wir nutzen können, indem es bestimmte Verfahren bewertet oder Probleme aufzeigt. Wir werden aber davon völlig unabhängig eine eigene Qualitätssicherung aufbauen.
Vergeben Sie auch Teilaufträge an andere Institutionen?
Zurzeit gibt es drei Institute, die Teilaufträge bearbeiten, so genannte „Nachunternehmer“. Aber in Zukunft werden wir möglicherweise noch weitere einbeziehen.
Gehört zur Qualität auch eine Beurteilung der Effizienz, oder ist das die Aufgabe des IQWiG?
Das ist ein Grenzbereich. Unser Qualitätsmodell beinhaltet die Frage der Effektivität, der Sicherheit und der Patientenorientierung. Das sind unsere wichtigen Säulen. Im Prinzip sind das auch Merkmale der Effizienz des Systems.
Sie sprachen vorhin von einem sektorenübergreifenden Ansatz des AQUA-Konzepts. Wem ist diese Idee zu verdanken?
An dieser Stelle sollte zunächst die Leistung des Gesetzgebers lobend erwähnt werden. Die bisherigen Verfahren zur Qualitätssicherung verfügen über eine eigene Tradition und haben viele Erfolge hervorgebracht. Diese per Gesetz weiterzuentwickeln und erneuern zu wollen, ist sehr fortschrittlich. Und das von einer ganz neuen Perspektive aus, die den Patienten in den Mittelpunkt stellt, aber ebenso davon weggeht, nur die Leistung einzelner Einrichtungen zu beurteilen. Das ist etwas ganz Neues, auch weltweit. Bislang gibt es diesen Ansatz international nur in Teilbereichen. Aber eine flächendeckende Qualitätssicherung sektorenübergreifend zu begreifen und Transparenz im Gesundheitssystem schaffen zu wollen, ist für alle Player des Gesundheitswesens absolut neu: für die Patienten, die Leistungsträger, die Leistungserbringer und die Politik.
Wie kann Ihr Konzept zur Qualitätssicherung in der Praxis angewandt werden und wie wollen Sie es schaffen, die Qualität aller Sektoren zu messen?
Das System der von uns entwickelten Qualitätsindikatoren lässt sich gut mit einem Koordinatensystem oder einem Kompass vergleichen. Wir liefern die Landkarte mit den Koordinaten und geben den Krankenhäusern und Arztpraxen ein Werkzeug an die Hand, mit dem sie ihren Standort - die Qualität der Versorgung im eigenen Haus - zunächst selbst bestimmen können. Sie können damit Stärken und Schwächen analysieren und neue Wege zur Verbesserung der Situation einschlagen. Das ist quasi ein Messinstrument zur Selbststeuerung und Transparenz nach innen und außen. Doch wohlgemerkt: Steuern tun nicht wir, das müssen die Akteure schon selbst tun. Das heißt aber auch: Für die Implementierung sind alle Akteure selbst verantwortlich. Wir stehen ihnen dabei aber auch zur Seite, zusammen mit den Einrichtungen der Landesebene.
Wie soll das funktionieren?
Die Qualitätssicherung steht auf der Landesebene immer im Wechselspiel mit der Bundesebene. Während wir für die bundesweite Auswertung zuständig sind, werten die Länder ihrerseits unsere Informationen aus und geben Feedback an ihre jeweiligen Krankenhäuser und Arztpraxen. Der nächste Schritt besteht nun darin, diese Informationen in die Qualitätszirkel der Arztgruppen zu tragen, aber ebenso in Krankenhäusern zu diskutieren. Bisher war die gesetzlich vorgeschriebene Qualitätssicherung darauf ausgerichtet, die „bad apples“ zu finden. Wir sind jedoch der Meinung, dass wir von dem Kontrollgedanken wegkommen müssen hin zu einer Austauschkultur. Deshalb planen wir, zunächst als Pilotprojekt, Visitoren mit der Aufgabe in Krankenhäuser zu entsenden, die Ergebnisse der Qualitätsauswertung mit den Ärzten zu diskutieren. Sie sollen nicht nur Mängel ansprechen, sondern auch Stärken diskutieren und die Expertise aus anderen Bereichen weitertragen.
Ist das überhaupt von der Manpower her leistbar?
Unser Ziel kann es nicht sein, alle Bereiche der Leistungserbringer im Gesundheitssystem bis in den kleinsten Winkel hinein sektoren-übergreifend zu betrachten, wir müssen vielmehr die Kernbereiche sowie die Schnittstellen der Versorgung abbilden. Gerade zwischen den Sektoren fallen die Patienten immer wieder in tiefe Gräben. Das Bild zeigt deutlich, dass im Zusammenspiel der Sektoren beziehungsweise im Gesamtprozess die Versorgung unzureichend ist. Das kann aber leider auch dann der Fall sein, wenn in den einzelnen Sektoren die Versorgungsqualität ganz gut ist.
Könnte der Mangel an evidenzbasierten Leitlinien der Grund dafür sein?
Die Daten zeigen, dass bei weitem noch nicht alle Leistungen im Gesundheitswesen evidenzbasiert sind - da gibt es sicherlich noch Nachholbedarf. Ich bin aber der Ansicht, dass wir uns in dieser Hinsicht auf einem guten Weg befinden und bereits ein gutes Stück Weg zurückgelegt haben. International gesehen steht Deutschland in einzelnen Bereichen sehr gut da, allerdings nicht in der Gesamtversorgung.
Gibt es Daten, welches Land da an der Spitze liegt?
Die besten Vergleichsmöglichkeiten gibt es im hausärztlichen Bereich, da die meisten anderen Länder - nur bisher leider nicht Deutschland - in diesem Sektor viel Versorgungsforschung betreiben. Es gibt internationale Vergleichsstudien und Surveys, in denen Ärzte ihre Einschätzungen abgeben, oder Studien, die sich auf bestimmte Erkrankungen beziehen, wie etwa die Versorgung von Patienten mit Herzinsuffizienz. Dagegen ist Deutschland mit den Disease-Management-Programmen (DMP) im Bereich der chronischen Erkrankungen Vorreiter und damit durchaus Vorbild für viele Länder.
Was ist denn der Vorteil unserer DMP?
Bei uns sind die DMP in einzelne Einrichtungen integriert und werden nicht extern gemanagt, wie das beispielsweise in den USA der Fall ist. Damit wurde bei uns eine durchaus gute Strukturierung und Prozessqualität erreicht. Es gibt auch Hinweise, z.B. beim Diabetes mellitus Typ II, dass ältere Patienten länger überleben, wenn sie in das DMP eingeschrieben sind. So hat sich alleine dadurch in der Diabetikerversorgung in der flächendeckenden Versorgung in den letzten zehn Jahren eine Menge getan. Studien belegen, dass es gelungen ist, damit einen evidenzbasierten Standard in der Fläche zu schaffen.
Nun nehmen aber die Patienten die Qualitätsverbesserung nicht unbedingt als solche wahr. Verstärkt haben sie den Eindruck, es werde gespart und die Versorgung verschlechtere sich.
Diese Aussage trifft gerade bei den DMP nicht zu. Vielmehr zeigen mehrere Studien, dass die Patienten positiv auf DMP-Angebote reagieren, wie etwa Patientenschulungen oder das Recall-System für chronische kranke Patienten. Auch das Patienten-Coaching halte ich für sehr wichtig. Kontrollierte Studien zeigen, dass ein strukturiertes Case Management in Arztpraxen, das z.B. Telefon-Monitoring mit einschließt, den Patienten nützt. Die guten Erfahrungen mit DMP motivieren außerdem dazu, Arzthelferinnen in Praxen besser ausbilden zu lassen.
Das klingt nach einem Rollenwechsel in der ambulanten Versorgung. Wie reagieren die Beteiligten darauf?
Sowohl Patienten als auch Ärzte und Arzthelferinnen haben oft noch Probleme mit dem Rollenwandel. Ärzte fürchten, sie könnten an Macht verlieren, indem ihre Leistung substituiert wird, während im Gegenzug die Patienten Angst davor haben, auf die direkte Behandlung durch den Arzt verzichten zu müssen. Und zudem fühlen sich die Arzthelferinnen den neuen Anforderungen nicht immer gewachsen. Das heißt: Da wird sich noch viel tun müssen! Vor allem in den Köpfen.
Ist diese Angst denn so unbegründet?
Diese Frage kann man weder mit ja noch mit nein beantworten. Studien zum Thema „Substitution versus Delegation“ zeigen, dass mit Substitution in patientenbezogenen Aspekten eine bessere Qualität erreicht werden kann, weil die Arzthelferinnen mehr Zeit für den Patienten haben. Andererseits ist aber ihre Arbeitskraft nicht automatisch billiger. Sie beziehen zwar einen geringeren Stundenlohn als ein Arzt, benötigen aber dafür mehr Zeit. Wenn sie zudem noch in die Lage versetzt werden, Leistungen anzuordnen wie etwa Heil- und Hilfsmittelverordnungen oder Labortests, dann wird ihre Arbeitszeit noch teurer, währenddessen sich die Versorgung der Patienten qualitativ nicht verbessert. Deshalb halte ich die alleinige Substitution für keine gute Lösung. Stattdessen sollten die Teams in den Praxen professionalisiert und weiterhin vom Arzt delegiert werden.
Wo sind denn den Qualitätsindikatoren Grenzen gesetzt?
Auch wir haben kein Allheilmittel, mit dem alle Probleme im Gesundheitswesen gelöst werden können. Das anzunehmen, wäre vermessen.
Welche Rolle spielt das Public Reporting in der laufenden Qualitätsdebatte?
Derzeit werden bereits Ergebnisse von festgelegten Qualitätsindikatoren etwa über die Qualitätsberichte der Krankenhäuser oder in Vergleichen verschiedener Portale veröffentlicht. Dieser Trend wird sicherlich zunehmen. Public Reporting ist allerdings nur eines der Werkzeuge in einem großen Fächer von Maßnahmen, das immer in Hinblick auf den Nutzen für die Qualitätsverbesserung hinterfragt werden sollte. Damit Qualitätsinformationen im Rahmen des Public Reporting zu einer deutlichen Qualitätsverbesserung oder zu einem veränderten Auswahlverhalten der Versicherten führen, ist eine Reihe von weiteren Faktoren entscheidend: Zunächst müssen die Patienten wissen, dass es überhaupt Qualitätsinformationen gibt und vor allem müssen sie verständlich genug sein. Die Informationen sollten außerdem aus einer vertrauenswürdigen Quelle stammen.
Per se müssen die Patienten überhaupt die Möglichkeit haben, sich zu entscheiden.
Ganz genau. Wenn es nur einen Anbieter in der Region gibt, wird auch durch Public Reporting das Versorgungsproblem nicht gelöst.
Wo sehen Sie die größten Hindernisse für die Anwendung von Qualitätsindikatoren?
Viele, Ärzte und Patienten, müssen erst noch erkennen, dass man sich mit einem Koordinatensystem und einem Kompass der Qualität in einer komplexen Welt besser zurechtfindet und weiter kommt, als wenn man sich nur auf die eigene Eingebung oder das Vertrauen in die eigene Kunst verlässt.
Werden Sie die Daten, die Sie gesammelt haben, anderen Forschungseinrichtungen zur eigenen Verwendung zur Verfügung stellen?
Wir könnten in Absprache mit dem G-BA anonymisierte Informationen zu einer bestimmten Untersuchung liefern, zu einem Versorgungsforschungsthema zum Beispiel. Im Vergleich zu anderen Ländern ist die Versorgungsforschung in Deutschland ja noch ein zartes Pflänzchen, das es zu unterstützen gilt.
Würden Sie die Forderung des Sachverständigenrats unterstützen: Investiert 0,1 Prozent der GKV-Ausgaben in die Versorgungsforschung, wie auch Herr Prof. Glaeske im letzten Titelinterview meinte?
Gewiss, man sollte aber darauf achten, dass die Investitionen auch sinnvoll sind - in einem strukturierten Versorgungsforschungsansatz zum Beispiel, und vor allem in der Nachwuchsförderung. In Deutschland herrscht ein beklagenswerter Nachwuchsmangel an Versorgungsforschern. Das Forschungsministerium will ja demnächst ein großes Förderprogramm auflegen. Viele warten gespannt darauf. <<
Das Gespräch führten Prof. Dr Reinhold Roski und Peter Stegmaier.