>> Die Versorgungsforschung hat die Erforschung der „letzten Meile“ der Evidenz zum Ziel. Sie beschäftigt sich mit der Translation zwischen der Efficacy im Versuch unter kontrollierten Bedingungen und der Effectiveness im Alltag. Dabei analysiert sie komplexe Zusammenhänge ebenso wie sie komplexe Interventionen zu deren Beeinflussung evaluiert.
Diese paradigmatische Bezugnahme schützt das Forschungsfeld der Versorgungsforschung vor der Beliebigkeit einer „Forschung in der Versorgung“. Eine solche würde ihren Platz in der gesellschaftlich dringend notwendigen Diskussion um Schlüssigkeit und Wirksamkeit medizinischer und gesundheitswissenschaftlicher Interventionen räumen und sich ihrer Garantenstellung entledigen, die darin besteht, dass es auch bei der Überbrückung der genannten „letzten Meile“ um methodische Stringenz, Transparenz und somit um Überprüfbarkeit bzw. Reproduzierbarkeit geht.
Die Gesellschaft kann erwarten, dass Wissenschaft und somit auch die Versorgungs-forschung – neben ihrer spontanen wissenschaftlichen „Suchbewegung“ – auch bei der Evaluation komplexer Interventionen zur Verbesserung der Versorgung nach Standards vorgeht, die gerade bei kritischen gesundheitspolitischen Entscheidungen vor Beliebigkeit, Irrelevanz oder gar falschen Empfehlungen schützen.
Genau um diesen Punkt ging es in den zurückliegenden drei Jahren bei der Bewältigung der Corona-Krise. Eine Epidemie ist kein rein biologisches Geschehen, darin besteht Einigkeit, sondern betrifft – unverändert seit Menschengedenken – alle Ebenen der Gesellschaft. Wobei „betrifft“ stark untertrieben ist – eher müsste man zu Begriffen wie „durchpflügt“ greifen.
Eine Epidemie (und erst recht eine Pan-
demie globalen Ausmaßes) ist somit ein klassisches Feld, bei dem die Versorgungs-forschung in ihrem „Element“ ist, oder jedenfalls sein müsste. Es geht dabei nicht „nur“ um epidemiologische Grundbegriffe, wie sie im folgenden, ersten Beitrag „Zur Rolle der Klinischen Infektiologie“ der neuen Serie „Corona und Politik: Zur Rolle der Wissenschaft“ lesen: In einer Vielzahl verschiedener Kommentare wird es viel weitergehender um das Feld komplexer Interventionen gehen, die in ihrer stufenweisen Planung, Implementierung und Evaluation von jeher im Mittelpunkt von Outcomes-Research stehen.
Es gibt kaum komplexere soziale Interventionen als diejenigen, deren Zeugen wir in den letzten Jahren wurden, wie z. B. Impfkampagnen. Dabei stellen sich vor allen Dingen zwei wichtige Fragen zur Rolle der Versorgungsforschung:
1 Wurde die Versorgungsforschung bei der Planung gefragt?
Kaum, wenigstens war es nicht nach außen sichtbar. Wahrscheinlich war man auch nicht darum bemüht, denn die Versorgungsforschung hätte zur Nutzenbewertung, gerade wegen ihrer Multidisziplinarität, zwangsläufig warnend zur Frage des sozialen Gradienten der Maßnahmenpolitik (im Haus mit Garten war ein Lockdown kaum ein Problem ...) Stellung genommen. Auch wären evtl. folgenreiche Fehler wie die Schul- und KiTa-Schließungen zu verhindern gewesen. Und vielleicht ein drittes Beispiel: Versorgungungsforscher hätten gegenüber der Politik sicherlich zum Ausdruck gebracht: „Implementieren Sie unbedingt ...“
Die Realität sieht jedoch anders aus: Derartiges ist zwar ansatzweise geschehen, doch hat es im Großen und Ganzen kaum eine Inanspruchnahme der Versor-
gungsforschung gegeben, übrigens genauso wenig wie von anderen „Evidenz-Produzenten“. Auch das IQWiG wurde trotz mehrerer Angebote umgangen.
2 Hat sich die Versorgungsforschung selbst aktiv zu Wort gemeldet, indem sie klar und in deutlicher Sprache Korrekturen an der „Maßnahmen-Politik“ der letzten Jahre verlangt?
Natürlich hat es Wortmeldungen gegeben, z. B. auch im „Monitor Versorgungsfor-schung“. Aber insgesamt war es doch sehr, sehr still.
Gerade Outcomes-Research hätte viel mehr zum Outcome beitragen können und müssen; nämlich im Sinne der Definition: „Was beim Menschen ankommt.“ Das Handwerkszeug liegt vor, beispielsweise hat die Versorgungsforschung die Methodik der Evaluation von Mehrebenen-Interventionen ja nun zur Verfügung.
Was soll angesichts dieser Kernfragen diese Kommentarreihe bringen? Die klare Antwort: Zu allererst Stoff zum Nachdenken. Aber auch eine Grundlage für einen wissenschaftlichen Disput. Klar sollte sein: Wir haben Diskussionsbedarf, und zwar auch nach innen, in die Versorgungsforschung „hinein“.
Warum? Weil ein Forschungsfeld, dass sich seiner selbst nicht sicher ist, kaum Wirkung entfalten kann.
Darum wollen wir mit dieser Reihe von Meinungsbeiträgen das multidisziplinäre Feld, das sich in der Versorgungsforschung konstituiert hat, auffordern, die Diskussion um die Grundlagen und methodischen Standards wieder aufzunehmen. Um eine Bilanz der komplexen Interventionen in der Corona-Pandemie und ihrer Wirkungen zu ziehen und daraus zu lernen.
Diese Lektionen und die daran überprüften Standards sollen dazu führen, dass die Versorgungsforschung nicht zu ignorierende Evidenz liefert und mit ihrer nicht überhörbaren Stimme zu besseren Entscheidungen in der Gesundheitspolitik und im Gesundheitssystem führt. So wie es bei einer angewandten Wissenschaft sein soll. <<