Wie beantrage ich eine Vater-/Mutter-Kind-Kur? Gibt es eine Zuzahlung für meine neue Brille? Unter welchen Voraussetzungen entfällt die Praxisgebühr? Wenn Deutschlands Krankenversicherte an Helga Kühn-Mengel, die Patientenbeauftragte der Bundesregieung, schreiben, geht es meist um ganz handfeste Probleme des Versorgungsalltags. Es dreht sich weniger um die großen Würfe von Gesundheitsreformen, sondern um oft dramatische Auswirkungen vor Ort – ob nun beim Arzt oder Apotheker, ob nun in Krankenhäusern oder in Pflegeheimen. So ist dieses Ehrenamt quasi der Seismograph der Bundesregierung für die individuell erlebte Versorgungs-Realität.
>> Der Politik, insbesondere der hoch komplexen Gesundheitspolitik, wird oft von verschiedenen Seiten vorgeworfen, dass deren handelnde Personen sich nicht gut genug mit der Materie auskennen bzw. die Interaktionen der von ihnen lancierten gesundheitspolitischen Steuerungsinstrumente nicht beachten, auf die doch von verschiedenen Seiten – ob nun von Wissenschaft und Forschung oder auch von Verbänden, Institutionen und nicht zuletzt von der Pharmaindustrie – vorher hingewiesen wurde. Was halten Sie von diesem Generalvorwurf?
Dem muss ich widersprechen. Keine der handelnden Parteien redet mit so vielen unterschiedlichen Leuten wie wir aus der Politik. Ich spreche laufend mit den Unternehmensvertretern, ich spreche mit den Gewerkschaftern, ich spreche mit unterschiedlichen Krankenkassen, mit den Fachverbänden der Ärzte. Ich gehe in eine Frühgeborenenstation, ich gehe aber auch ins Hospiz, ich gehe in eine Obdachlosensiedlung. An einem Tag besuchen mich 40 Menschen mit Multipler Sklerose, an einem anderen Tag halte ich einen Vortrag in Brandenburg vor einer Diabetiker-Selbsthilfegruppe und am nächsten bin ich auf einem Podium gemeinsam mit Ärztinnen und Ärzten zum Thema Patientenrechte. Ich glaube nicht, dass irgendjemand eine größere Vielfalt an Kontakten hat als eine Bundespolitikerin oder -politiker. Wenn ich diesen Vorwurf höre, werde ich deshalb immer ein wenig unruhig.
Vielleicht deshalb, weil das, was Sie tun, so wenig mit dem zu tun hat, was schlussendlich Gesetz wird?
Auf jeden Gesetzesentwurf nehmen nun einmal ganz viele unterschiedliche Gruppen Einfluss. Oder versuchen es zumindest. Das gilt für Lobbyisten aller Couleur. Aber auch die Politiker selbst nehmen natürlich Einfluss. Die vorletzte Gesundheitsreform hat federführend Rot-Grün verantwortet, doch auch hier war schon eine kräftige Einflussnahme seitens der CDU vorhanden, weil damals der Bundesrat eine CDU-Mehrheit hatte. Die letzte Reform entstand dagegen im Zeichen der großen Koalition, wobei man sagen muss, dass wir uns an verschiedenen Stellen gar nicht so sehr in unseren Standpunkten unterscheiden – aber eben an ganz bestimmten. Und an genau diesen muss ein Kompromiss gesucht werden, wobei Kompromissen meist zu eigen ist, dass sich so recht niemand mit ihnen anfreunden kann.
Wie zum Beispiel beim Thema der Praxisgebühr.
Die wollte die SPD nun gar nicht: Allgemeinärzte und bestimmte Facharztgruppen sollten vielmehr ganz von der Praxisgebühr befreit sein. Die CDU dagegen wollte eine zehnprozentige Zuzahlung zu jeder ärztlichen Leistung. Bei solch konträren Positionen gab es keinen fairen Kompromiss. Oder eben dann doch einen: Das war die Praxisgebühr für alle.
Schade, dass derlei Feinheiten selten aufkommen.
Das kann man der Öffentlichkeit auch gar nicht erklären. Es ist auch unfein. Man berichtet nicht detailliert aus den Verhandlungen, denn in solchen Verhandlungsrunden kommen manchmal alle denkbaren, aber eben nicht ganz durchdachten Modelle auf den Tisch. Hat man dann endlich einen Kompromiss, geht es gleich in die Anhörungen: ob nun mit Krankenkassen, der Wissenschaft, der Krankenhausgesellschaft, den Kirchen, den Behindertenverbänden, den Patientenorganisationen und so weiter und so fort. Dazu werden dutzende oder auch hunderte Briefe geschrieben, gelesen und beantwortet.
Das klingt nun ziemlich deprimiert.
Gar nicht. Das ist gelebte Politik, die ich nicht anders kenne, seitdem ich 1998 Gesundheitspolitikerin wurde und auch schon vorher, als ich im Europaausschuss war. Da muss man als Politiker durch und trotzdem nach seinem besten Wissen und Gewissen das Beste daraus machen.
Was war eines Ihrer Erfolgserlebnisse?
Das klingt nun wie eine klitzekleine Angelegenheit, aber für die Betroffenen ist es eine echt große.
Erzählen Sie bitte.
Wir haben 2004 in die Gesundheitsreform – sage und schreibe acht Minuten, bevor sie dem Bundestagspräsidenten überreicht wurde – die Erstattungsfähigkeit der Behandlungspflegemaßnahme „Anziehen von Kompressionsstrümpfen“ einbringen können. Darüber kann man nun lächeln. Oder eben wissen, dass das für alte Menschen ein unglaublich wichtiger Passus ist.
Wie haben Sie das geschafft?
Es ging, man wird es erraten, um einen Kompromiss an anderer Stelle. Die andere Seite wollte unbedingt noch etwas ganz bestimmtes durchsetzen, dem wir schließlich auch zugestimmt haben mit den Worten: „Ah, da kommen unsere Kompressionsstrümpfe.“ So menschlich läuft es manchmal in der Gesetzgebung.
Was nun andererseits ziemlich beliebig klingt.
Oder eben nach ganz normaler Demokratie.
Es steht die Forderung von Professor Dr. Holger Pfaff im Raum, der im Interview in „Monitor Versorgungsforschung“ (02/08) ein Mehr an Politikfolgenforschung, gar eine Art von Pilotprojekten bei der Einführung bestimmter Steuerungsinstrumente anmahnt.
Das klingt natürlich verlockend. Aber ist auch eine ziemlich unrealistische Vorstellung, dass da jemand sitzt und sich verschiedene Modelle und Varianten ausdenkt, mit denen man einen bestimmten Problemkreis lösen oder auch nur ein Detailproblem verbessern kann und danach werden die Varianten brav gegeneinander getestet, um sich irgendwann für die beste Lösung entscheiden zu können. So läuft es leider nicht in der Politik, die immer ein veritabler Streit der Interessen ist.
Oder die, so ein weiterer Vorwurf, scheinbar blind agiert.
Auch hier muss ich widersprechen. Zwar fehlen an einigen Stellen wichtige Daten, an anderen Stellen wird dagegen sehr wohl zahlen-, fakten- und auch studienbasiert entschieden. In Deutschland wurde zum Beispiel die integrierte Versorgung doch genau deshalb angeschoben, weil Studien in unserem Land deutlich zeigten, dass genau hier ein Schwachpunkt existiert. Abstrahieren Sie einmal von der Umsetzung, die wie immer problematisch ist: Gleichwohl wurde durch diesen Ansatz die Interdisziplinarität gestärkt als auch das zur Verfügung stehende Wissen gleichmäßiger, weil sektorenübergreifender eingesetzt.
Eine aktuelle Commonwealth-Studie belegt, dass das deutsche Gesundheitssystem so schlecht nicht ist. Es hat im internationalen Vergleich die kürzesten Wartezeiten, Laborbefunde liegen schneller vor und sind zuverlässiger richtig, Patienten haben mehr Möglichkeiten bei der Arztwahl, bekommen im Krankenhaus seltener eine Infektion und wer chronisch krank ist, wird bei uns häufiger und regelmäßiger präventiv untersucht als anderswo. Dennoch sind – nicht nur laut dieser Studie – die Deutschen mit ihrem Gesundheitswesen weitaus unzufriedener als Patienten in anderen Ländern. Woher kommt das?
Hier spielen zwei Faktoren zusammen: Es gibt trotz aller Anstrengungen immer noch einen Mangel an integrierter Versorgung und die Sektorengrenzen existieren immer noch, auch wenn sie ein wenig durchlässiger geworden sind als in den vergangenen Jahren. Der andere Faktor ist jedoch vielleicht sogar noch wichtiger: Das ist die Patientenorientierung.
Die Ihnen als Patientenbeauftragte besonders am Herzen liegen müsste.
Das, wie ich betonen möchte, ein Ehrenamt zusätzlich zu meiner Arbeit als Parlamentarierin und Gesundheitspolitikerin ist. Aber wie auch immer: Ich habe das Amt gern angenommen und Ja: Das liegt mir wirklich am Herzen! Aus Versorgungsforschungsstudien, die für unsere Arbeit natürlich eminent wichtig sind, wissen wir zum Beispiel, dass 60 Prozent der Patienten noch nie von Behandlungsalternativen gehört haben. Ebenso viele chronisch Kranke wissen nach ihrem Krankenhausaufenthalt nicht, wie es weitergeht. 38 Prozent kennen die Nebenwirkungen ihrer Medikamente nicht. Und mit 46 Prozent wurden noch nicht einmal über das Behandlungsziel gesprochen! Das gilt es doch zuallererst zu verbessern.
Das alte Zauberwort Kommunikation.
Das ist ein ganz wichtiges Zauberwort. Aber vielleicht noch wichtigere lauten Patienteninformation, Patientenorientierung und Patientenbefähigung. Wenn wir immer mehr von Eigenverantwortung reden, müssen wir die Menschen genau an dieser Stelle stärken. Patientenbefähigung heißt jedoch nicht nur mehr Kommunikation, sondern vor allem auch eine weit bessere Einbindung als aktiver Partner im medizinischen Entscheidungsprozess, was beispielsweise auch die Versorgungsforschungsstudie „Patient als Partner im medizinischen Entscheidungsprozess“ von Professor Härter aus Freiburg gezeigt hat. Doch eigentlich braucht man zu dieser Erkenntnis keine Studie, sondern nur eine kleine Portion angewandten gesunden Menschenverstandes: Patienten, die besser informiert sind, werden signifikant häufiger schneller gesund als schlechter Informierte.
Ihre Aufgabe ist es, die Rechte der Patienten zu stärken. Hilft Ihnen Versorgungsforschung dabei? Sicher: Sie zeigt Mängel auf, an denen gearbeitet werden kann. Ist das für Sie der Hauptsinn von Studien? Oder anders herum: Wo würden Sie den Hauptnutzen der Versorgungsforschung verorten?
Wenn wir von Menschen erwarten, dass sie selbst aktiv zu ihrer Gesundheit und damit zur Entlastung des Systems beitragen sollen, müssen wir sie auch durch Information stärken. Jedoch nicht durch irgendeine, sondern durch unabhängige, gute und wissenschaftlich unterlegte Information. Die Frage, wie man Patientenkompetenz stärken kann, ist neben dem generellen Auftrag der Gesundheitspolitik, das System als ganzes finanzierbar zu halten, vielleicht der wichtigste überhaupt. Dazu brauchen wir Versorgungsforschung, die uns ein ganzes Bündel an Fragen beantworten könnte: Wo sind welche Gruppen benachteiligt? Ältere? Menschen mit Behinderungen? Migranten? Hier muss das System viel transparenter werden. Genau das ist für mich ein ganz wichtiges Anliegen, weil sich daraus kollektive und individuelle Patientenrechte ableiten lassen.
Macht auch die Patientenbeauftragte Versorgungsforschung?
Ich kann zu einem kleinen Teil selbst Aufträge vergeben. Leider habe ich aber nicht so viel Geld, dass ich eine wirklich strukturierte, auf einen etwas längeren Zeitraum angelegte Studie durchführen könnte. Durch eine kleinere Studie der Volkswagenstiftung „Ältere Menschen im Wartezimmer“ wurde z.B. festgestellt, dass ein großer Teil der Älteren eine hohe Unsicherheit im Wartezimmer, aber auch im Sprechzimmer verspürt. Ein kleines Stückchen Versorgungsforschung habe ich auch bei uns im Hause: Als Patientenbeauftragte habe ich eine große Varianz in den Patienten, die mir schreiben, eine weit höhere, als vor Ort Beratungsstellen aufsuchen. Die hier geäußerten Patientenfragen, -wünsche, -ängste und -befindlichkeiten sowie meine Antworten darauf und wie sie seitens des Schreibenden aufgenommen und verstanden werden, werden im Rahmen eines Forschungsprojektes der Charité, Prof. Kuhlmey, untersucht. Die hier gewonnenen Erkenntnisse werden sicher zu einer besseren Kommunikation meines Amts mit den Patienten führen.
Wie beurteilen Sie die aktuelle Stellung des Patienten im Gesundheitssystem?
Lassen Sie uns festhalten, dass wir erst am Anfang des Wegs stehen und die großen Akteure im System derzeit gewiss nicht die Patienten sind. Bei allen Erfolgen der letzten Jahre – und wir sprechen hier über einen relativ kurzen Zeitraum von zehn, vielleicht gerade mal 15 Jahren – sind die Patienten immer noch jene mit der schwächsten Stimme. Die Großen sind die Krankenhausgesellschaften, die Bundesärztekammer, die kassenärztlichen Bundesvereinigungen und die Krankenkassen, gefolgt von den Verbänden der Pharmaindustrie. Mein Anliegen ist es, überall dort, wo es möglich ist, Patientenvertretungen zu installieren. Das ist keine einfache Aufgabe. Aber ich werde weiter dafür kämpfen, dass Patientenvertretungen angemessen beteiligt werden, was sie zur Zeit leider nicht überall sind. Noch. <<
Das Gespräch führten MVF-Herausgeber Prof. Dr. Reinhold Roski und MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier.