„Dem Schmerz auf der Spur“
Christian Luley / Kai Martens / Peter Stegmaier
Erstveröffentlichungsdatum: 01.06.2008
Zusätzliches
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Christian Luley / Kai Martens / Peter Stegmaier
Warum das Pharmaunternehmen Grünenthal in eine breit angelegte Versorgungsforschungsstudie zum Thema Schmerz investiert, erklären Projektleiter Christian Luley sowie Kai Martens, seit 1. August neuer Geschäftsleiter des Deutschlandbereichs von Grünenthal im Exklusiv-Interview mit „Monitor Versorgungsforschung“ (MVF).
>> Die DAK und die Grünenthal GmbH gaben kürzlich den Startschuss zu einer breit angelegten Versorgungsforschungsstudie bei chronischen Schmerzpatienten bekannt. Ist das die erste Versorgungsforschungsstudie dieser Art, die Ihr Haus unternimmt?
Luley: Grünenthal hat sich bereits in der Vergangenheit intensiv mit der Versorgung von Schmerzpatienten beschäftigt. So haben wir gemeinsam mit einem Expertengremium – bestehend aus Vertretern von Fachgesellschaften, Patientenvertretungen, Berufsverbänden, Wissenschaft, medizinischer Praxis und Krankenkassen – bereits ein Disease-Management-Programm zum Rückenschmerz initiiert, dessen Ergebnisse 2006 veröffentlicht wurden. Auch im Bereich der Integrationsversorgung von Schmerzpatienten haben wir uns konzeptionell engagiert. Für uns ist dies aber tatsächlich die erste Versorgungsstudie in einer derart breiten Ausrichtung.
Warum wurde seitens der Pharmaindustrie die Bedeutung der Versorgungsforschung bisher nicht oder nur ungenügend genutzt?
Martens: Industrie, Leistungserbringer und auch Kostenträger, also Krankenkassen, sind gleichermaßen Teil der Versorgung. Alle drei sind innerhalb der neuen politischen Rahmenbedingungen bestrebt, die Qualität der Versorgung von Schmerzpatienten zu verbessern und den Ressourceneinsatz effizienter zu gestalten. Hierzu fehlen allen Beteiligten noch valide Informationen zur derzeitigen Versorgungssituation, zur geleisteten Qualität sowie zu den verursachten Kosten. Die Krankenkassen verfügen erst seit 2004 über umfassende Daten zur ambulanten Versorgung der Patienten. Entsprechende Projekte sind daher erst seit kurzem überhaupt realisierbar. Zudem hat sich die Qualität vor allem der ambulanten Daten seit 2004 deutlich verbessert.
Einzigartig ist sicherlich die Breite und Tiefe der jetzt angestrebten Analyse. Wir werden zum ersten Mal einen Überblick zur Versorgungssituation von Schmerzpatienten in ganz Deutschland erhalten. Und auch die Partnerschaft zwischen Krankenkassen, Wissenschaft und Industrie ist in diesem Zusammenhang sicher nicht alltäglich.
Ein Grund dafür mag die bisherige Ausrichtung der klinischen Studien als auch die Herangehensweise des IQWiG sein, die nur randomisierte (und damit auf fast künstlichen Kollektiven aufsetzende) Studiendesigns anerkennen will. Ein Lösungsansatz mag hier die Versorgungsforschung sein, weil kürzlich eine RCT-Studie im Bereich Diabetes seitens des NICE nicht anerkannt, da sie den Versorgungsprozess ungenügend dargestellt hätte. Könnte das zu einem Durchbruch für die Versorgungsforschung führen?
Martens: Kontrollierte klinische Studien sind unbestritten der „Goldstandard“ in der klinischen Entwicklung von Arzneimitteln. Wichtige Fragestellungen zum Nutzen von Medikamenten unter Alltagsbedingungen können jedoch bei diesem Studientyp nur sehr begrenzt untersucht werden. Das gilt etwa für die Frage der Patienten-Compliance, der längerfristigen Therapietreue und des Arztverhaltens. Wenn der Nutzen einer Therapie in der „realen Welt“ geprüft werden soll, muss der Untersuchungsrahmen den Bedingungen nahekommen, welche Ärzte und Patienten im Versorgungsalltag vorfinden. Das Wissen aus klinischen Studien muss durch Erkenntnisse aus dem Alltag ergänzt werden, um eine objektive Nutzen- und Kosten-Nutzen-Bewertung eines Arzneimittels zu ermöglichen.
Versorgungsforschung ist dazu in der Lage, Versorgungsrealitäten abzubilden. Also nicht das, was in randomisierten Studien in wie auch immer gearteten Kollektiven erforscht wurde, sondern eben die Versorgungsrealität, wie sie beim Patienten ankommt. Dies könnte doch eine große Chance für pharmazeutische Unternehmen sein, wenn sie ihre Produkte auf einmal ganz anders und mit ganz anderen Argumenten positionieren könnten.
Martens: Die Firma Grünenthal ist Experte auf dem Gebiet der Schmerztherapie. Eine der Säulen unseres Erfolges ist die Entwicklung innovativer Medikamente, und unser Schwerpunkt als forschendes Pharmaunternehmen ist die intensive Suche nach neuen Wegen, um Schmerzen besser, nachhaltiger und mit weniger Nebenwirkungen zu lindern als bisher. Natürlich müssen wir uns dabei fragen, wie unsere Medikamente in die Versorgungsrealität in Deutschland passen. Für uns ist es besonders interessant zu fragen, in welchen Strukturen und in welchem therapeutischen Kontext die Patienten heute versorgt werden, wie die Qualität dieser Versorgung gestaltet ist und welche direkten und auch indirekten Kosten durch die Therapien anfallen. Die Studie wird uns dazu Erkenntnisse liefern und natürlich rechnen wir – genau wie die beteiligten Krankenkassen – mit einem entsprechenden Know-how-Gewinn. Dieser wird sich sicherlich auch auf unsere weiteren Aktivitäten in Forschung, Entwicklung und Vermarktung auswirken.
Grünenthal will in Zusammenarbeit mit der DAK die Versorgungssituation von Schmerzpatienten untersuchen. Warum zuerst mit Daten der DAK? Und danach erst in einer Hauptstudie mit anderen Kassen?
Luley: Grünenthal ist bereits seit geraumer Zeit mit verschiedenen Projekten und auch Veranstaltungen rund um die Versorgung von Schmerzpatienten aktiv und steht in diesem Kontext auch mit einer Reihe von Akteuren des Gesundheitswesens in regelmäßigem Austausch. Die Idee zu diesem speziellen Projekt stieß dabei bereits in der Planungsphase auf großes Interesse bei potenziellen Partnern. Uns war daran gelegen, für die Pilotstudie einen Partner mit einem großen Versichertenpool zu finden. So hat es uns sehr gefreut, dass die DAK als erste Krankenkasse nicht nur Interesse zeigte, sondern konkret als Partner für die Pilotstudie zur Verfügung stand.
Die Analyse der pseudonymisierten DAK-Routinedaten im Rahmen der Pilotstudie verfolgt drei Ziele: Zunächst möchten wir die grundsätzliche Machbarkeit einer solchen Studie nachweisen. Weiterhin werden wir spezifische Merkmale herausarbeiten, um möglichst viele Schmerzpatienten im Versichertenbestand identifizieren zu können und einen epidemiologischen Überblick über die Verteilung der unterschiedlichen Ausprägungen zu erhalten. Abschließend werden die identifizierten Schmerzpatienten in unterschiedliche Cluster aufgeteilt. Diese Cluster und die hiermit verbundenen Patientenprofile sind Ausgangspunkt weiterer Analysen im Rahmen der nachfolgenden Hauptstudie. Die Einbindung weiterer Kassen ist in der Pilotphase der Studie also noch nicht notwendig. Wenn es in der Hauptstudie konkret darum geht, einen Überblick zur Versorgungssituation der Schmerzpatienten in Deutschland zu gewinnen, ist die Einbeziehung weiterer Krankenkassen natürlich sinnvoll und notwendig. Über die DAK hinaus haben weitere Kassen ihre Mitarbeit bereits in Aussicht gestellt.
Welche alternativen Therapiekonzepte zur Versorgung von Schmerzpatienten sollen denn überhaupt bewertet werden?
Martens: Ein wesentliches Ziel der gesamten Studie ist es, ein größeres Wissen zum Ist-Stand der Versorgungssituation von Schmerzpatienten zu erarbeiten. Erst dann können die beteiligten Parteien auch eine konkretere Vorstellung über die Qualität der aktuellen Versorgung gewinnen, sowie Erkenntnisse zu den verursachten Kosten. Die gängige Meinung lautet: Es gibt nicht das Therapiekonzept für den Schmerzpatienten. Man hat es mit einer heterogenen Gruppe und mit entsprechend unterschiedlichen Therapieanforderungen zu tun. In einem ersten Schritt geht es um die Erfassung des Ist-Standes, um vor diesem Hintergrund Versorgungsziele und Therapieoptionen zu definieren und zu bewerten. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Therapievarianten sind ein Zusammenspiel mehrerer Akteure. Natürlich sind auch innovative Arzneimittel ein wichtiger Teil dieser Therapieoptionen. Somit stellen auch wir als Industrie uns dieser Bewertung.
Sie beziffern die volkswirtschaftlichen Kosten, die durch chronischen Schmerz verursacht werden, auf 20,5 bis 28,7 Milliarden Euro. Wie kommen Sie auf diese Zahl? Gibt es hierzu Erkenntnisse aus Studien der Versorgungsforschung?
Luley: Diese Zahlen beruhen auf Berechnungen von Neumann, publiziert im Bundesgesundheitsblatt 2002.* Zahlen auf Basis breiter Versorgungsstudien stehen derzeit noch nicht zur Verfügung. Schmerz in seiner chronischen Form sollte im Gesundheitssystem als eigenständige Krankheit und nicht mehr als reines Symptom betrachtet werden. Zwar gibt es, insbesondere zur Volkskrankheit Rückenschmerz, bereits einige Studien – auch zu Folgekosten. Eine breite Betrachtung verschiedener Schmerzbilder scheitert aber oft bereits an der Identifikation der Patienten im Datenpool. Der aktuelle ICD-10 bietet keine befriedigende Möglichkeit, die Diagnose „Chronischer Schmerz“ zu codieren. Aus diesem Grund ist es bisher auch sehr schwierig, die im Leistungssystem entstehenden Kosten direkt zuzuordnen. Es fehlt bisher der eindeutige Marker, und die Einführung einer entsprechenden ICD-Ziffer ist erst für nächstes Jahr vorgesehen.
Wie haben Sie Ihren Partner ausgewählt, der die Versorgungsstudie durchführen soll?
Martens: Natürlich müssen bei einem solchen Projekt wissenschaftliche Unabhängigkeit und Transparenz der Datenauswertung gewährleistet sein. Daher haben wir diese dem Institut pharmafacts übertragen, hinter dem mit Professor Gerd Glaeske und dem IGES Institut zwei anerkannte Institutionen der Versorgungsforschung stehen. Die pseudonymisierten Daten der Krankenkassen werden ausschließlich beim Institut pharmafacts bearbeitet und bleiben geschützt.
Wieviel investiert Ihr Unternehmen in Versorgungsforschung?
Martens: Unsere Investitionen starten mit diesem Projekt, das auf einen Zeitraum von etwa zwei Jahren angelegt ist. Die Kosten für die Gesamtstudie, deren Durchführung natürlich auch von einer erfolgreichen Pilotphase abhängt, werden sich sicherlich im sechsstelligen Bereich bewegen. Genauer können wir dies erst im weiteren Verlauf des Projektes beziffern. <<
Das Gespräch führte MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier.