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„Der Fonds muss verschlankt werden“

Prof. Dr. Günter Neubauer im MVF-Interview:

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Erstveröffentlichungsdatum: 01.06.2010

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Der Ökonom Prof. Dr. Günter Neubauer hat einen sehr tiefen Einblick ins Politikgeschehen und gab die Usancen der die Gesundheitspolitik bestimmenden Parteipolitik bei der Jahrestagung von Cegedim preis.

>> Herr Prof. Dr. Neubauer, die Deutschen blicken oft neidvoll ins Ausland, weil es dort wesentlich mehr Versorgungsforschung als in unseren Landen gibt. Und oft werden ausländische Studien quasi auch als Entschuldigung für den eigenen Mangel an Forschung missbraucht. Ist das nicht ein Irrweg?
Fakt ist, dass man aus internationalen Studien gar nicht so viel voneinander lernen kann, wie man gemeinhin meint. Der Grund ist, dass die Finanzierung in jedem Land anders aussieht, obwohl die Grundprobleme meist absolut ähnlich sind.

Also könnte man doch Erkenntnisse vom Aus- ins Inland transferieren?
Nur begrenzt. Natürlich funktioniert das bei sehr indikationsspezifischen Fragestellungen, doch je mehr Fragestellungen der tatsächlichen Versorgungsrealität in den Fokus gestellt werden, desto geringer ist der Erkenntnisgewinn.

Woran liegt das?
Alleine schon daran, dass jedes Versorgungssystem anders strukturiert ist. Das heißt aber auch, dass die Entscheider, Stakeholder und Ansprechpartner in jedem Land anders konfiguriert und miteinander vernetzt sind. Dazu kommt die sehr unterschiedliche Art und Weise, wie in den einzelnen Ländern Gesundheit finanziert wird. Das ist eigentlich das größte Problem, der einem Import von Studienergebnissen entgegensteht.

Wie sieht es denn in Sachen Finanzierung aktuell und künftig in Deutschland aus?
In Deutschland sind sich im Prinzip alle Parteien einig, dass unser derzeitiges Finanzierungssystem keine Zukunft mehr hat. Nur, wohin es gehen soll, wird kontrovers diskutiert.

Worüber besteht denn Einigkeit?
Es besteht zumindest Einigkeit darüber, dass eine Finanzierung der dynamischen Entwicklung - vor allem ausgelöst durch die Auswirkungen der Alterspyramide, über die Arbeitseinkommen aktuell begrenzt bis 3.750 Euro - nicht mehr ausreicht. Alle Parteien fordern, dass alle Einkommen mit einbezogen werden müssen und die Beitragsbemessungsgrenze von 3.750 Euro wegfallen muss. Ebenso ist allen klar, dass letztlich Steuermittel ins System kommen müssen - da sind sich die ganz Linken über Rot und Grün bis Schwarz und Gelb absolut einig. Die Frage ist nur, wie das Ganze nun angegangen werden soll. Da hat beispielsweise der jetzige Gesundheitsminister ein ganz anderes Konzept als seine Vorgängerin.

Sie sprechen dabei explizit den Gesundheitsfonds an.
Genau. Das Konzept des Gesundheitsfonds hat ja im Prinzip kein Problem gelöst, es allenfalls besser sichtbar gemacht. Das liegt daran, dass vorher das Budget dezentral verwaltet wurde und erst im Zeichen des Fonds alles Geld zusammengelegt worden ist; und siehe da, man sah, es reichte nicht aus. Letztlich hatte man listenreich einen Kompromiss gefunden.

Warum denn das?
Die Ausgangslage war ja, dass die CDU eine Pauschale, die SPD aber eine Bürgerversicherung durchsetzen wollte. Herausgekommen ist ein Bastard namens Gesundheitsfonds, mit Nachteilen für die süddeutschen, aber Vorteilen für die ostdeutschen Länder.

Weil - auch dank des neuen EBM - jeder Arzt deutschlandweit gleich hoch vergütet wird.
Und die Kassen bekommen beispielsweise für jeden Diabetespatienten - egal ob er in Görlitz oder in Mannheim lebt - die gleichen Zuweisungen. Und damit bekommt letztlich auch jeder Arzt gleich viel.

Was ist denn so schlimm?
Weil wir damit wieder angekommen sind in der Welt der Einheitspreise oder auch in der Welt des Sozialismus. Die Politik erliegt hier dem Irrglauben, dass alles fair ist, wenn es gleich ist. Aber das stimmt eben nicht: Es ist dann fair, wenn es gleichmäßig verteilt wäre, was aber auch heißt, dass statt Einheitspreisen die Verhältnisse vor Ort in den Preisen berücksichtigt werden müssten.

Aber was war denn nun die List?
Die versteckt sich in der Formulierung des Gesundheitsfonds, der nach dem Willen des Gesetzgebers nur zu 95 % die Kassenausgaben decken, während der Rest durch Zusatzbeiträge aufgebracht werden muss. Wohlgemerkt: Die Kassen können nicht nur einen Zusatzbeitrag erheben, sondern müssen das, weil sie von der Aufsicht dazu gezwungen werden, sobald ihre jeweiligen Ausgaben nicht mehr ausreichend gedeckt sind.

Also kam damit der Einstieg in ein neues, politisch gewolltes Preisbewusstsein.
Durch die Hintertür. Und das war absolut gewollt. Das Eklatante ist, dass die Kassen, die mit acht Euro Zusatzbeitrag in den Markt gehen mussten, auf einmal erlebt haben, dass sie mit diesen acht Euro ein Preisbewusstsein ausgelöst haben, das bis dahin einfach unbekannt war. Denn alle Jahre vorher waren ja Differenzen von 20 bis 40 Euro durch die unterschiedlichen Kassenbeitragssätze üblich - wohlgemerkt pro Monat, nicht pro Quartal. Will heißen: Wenn der einzelne Bürger sieht, was Gesundheit in Euro kostet, kommt ein ganz anderes Preisbewusststein zu Stande, als wenn der Arbeitgeber einen prozentualen Beitrag einbehält.

Das Ergebnis: Täglich rennen 1000 Versicherte weg und das wegen acht Euro.
Das sind meist leider nicht diejenigen, die eine Kasse gerne abgeben würde. Denn trotz Morbi-RSA gibt es immer noch gute und schlechte Risiken. Eine Reaktion darauf ist nun, dass sich die Kassen mehr und mehr zusammenschließen. Aber hier gilt die Regel: Wenn sich zwei Nichtschwimmer die Hand geben, können sie immer noch nicht schwimmen. Aber in Deutschland gilt auch: Wenn zwei gemeinsam untergehen, ist es wenigstens ein solidarischer Tod. Diese typisch deutsche Mentalität darf man nicht unterschätzen.

Nun stellt sich die Frage, wie es weitergehen könnte.
Das liegt auf der Hand und das ist keine Kaffeesatzleserei: Im nächsten Jahr wird das Kassendefizit bereits 8 Milliarden Euro betragen. Und falls - wie bereits heute anzunehmen ist - die Ausgaben schneller wachsen werden als die Einnahmen, wird ein Defizit bis zu 15 Milliarden Euro auflaufen. Das heißt: Man bräuchte im Schnitt einen Zusatzbeitrag von rund 21 Euro pro Mitglied über alle Kassen hinweg.

Doch keine Kasse will nun die erste sein, die diesen hohen Zusatzbeitrag erheben muss.
Was machen die Kassen darum? Klar: Lobbyarbeit. Sie wirken auf die Politik dahingehend ein, dass diese einen Zusatzbeitrag für alle vorschreiben soll. Doch das wird nicht so einfach werden. Denn dann würde das Kartellamt eingreifen müssen.

Und weil die Einnahmeseite nicht in den Griff zu bekommen ist, drückt die Politik verstärkt auf die Ausgabenseite, wie es aktuell anhand des Eckpunktepapiers zur Arzneimittelreform zu sehen ist. Was soll denn nun die Regierungskommission machen?
Diese Kommission ist eine politische Veranstaltung. Externer Rat – auch ich durfte vortragen – hat begrenzte Bedeutung.

Was könnte man denn tun, mal positiv gedacht?
Eine Leitidee könnte sein, den Fonds zu verschlanken. Damit verbliebe der Anteil der Beiträge, welche die Versicherten selbst zahlen, bei der jeweiligen Kasse, während die Beiträge der Arbeitgeber und die nach wie vor nötigen Steuerbeiträge weiterhin in den Fonds fließen könnten.

Was geschieht denn in diesem Szenario mit dem Morbi-RSA?
Der müsste auch auf die Hälfte beschränkt werden, weil die Hälfte der Beträge bei den Kassen verbliebe, die damit all die wichtigen Dinge machen, die sie in ihrer aktuellen Ausgabe zum Vertragsmanagement beschreiben - willkommen in der neuen Welt der Selektiv-Verträge, allen voran der hausarztzentrierten Verträge. Das ganze selektive Kontrahieren wird deutlich zunehmen, alleine schon durch die sicher kommende Regionalisierung und auch Pauschalisierung.

Wäre diese Idee denn politisch durchsetzungsfähig?
Bei der Beitragsautonomie der Kassen wären sich CSU, CDU und FDP schon einig. Der Streit beginnt aber schon mit der Frage, wie die Beiträge der Versicherten ausgestaltet sein sollten. Die FDP möchte ja beispielsweise, dass jeder Versicherte einen Pauschalbeitrag zahlen soll und zwar unabhängig von dem, was er verdient. Die CSU will das dagegen nicht, weil der bayerische Ministerpräsident Seehofer annimmt, dass er mit dieser Idee in Bayern nicht auf 50 % Wahlergebnis kommen wird - so bestimmt Parteipolitik die Gesundheitspolitik.

Was vermuten Sie, was in Kürze auf uns zukommen wird?
Ich nehme an, dass der Zusatzbeitrag in eine Art Pauschale gepackt wird. Und gleich ein wenig mehr als man tatsächlich braucht, womit wir bei etwa 29 Euro pauschal wären, die auf jeden Beitragspflichtigen zukommen.

Damit hätte die Politik das Finanzierungsproblem zumindest einmal vorübergehend auf Null gesetzt.
Und die FDP bekommt recht, aber eben nicht soviel, dass es der CSU weh tun würde. Denn sie spekuliert darauf, dass die FDP in drei Jahren nicht mehr in der Regierung mit dabei ist und die Pauschale wieder gekippt wird. Also wird die übernächste Reform schon heute geplant. Auch das ist Politik.

Die aber letzten Endes über die benötigten Steuermittel das fehlende Geld geben muss und damit am längeren Hebel sitzt.
Das ist das größte Problem: Wenn Steuermittel anonym in einen Fonds eingezahlt und dann den Kassen zugewiesen werden, wird der Druck des Staates auf Preis- und Mengenregelung entsprechend groß sein. Denn das Geld muss einfach reichen, komme was wolle.

Was wäre, wenn stattdessen das gleiche Geld über eine Pauschale an die Beitragszahler ausgezahlt werden würde?
Dann wäre der Effekt ganz anders, denn er wäre vergleichbar dem des Wohngeldes.

Wie das?
Der Staat berechnet bekanntlich das Wohngeld nach dem tatsächlichen Bedarf: also Quadratmeter pro Person, was nichts anderes als eine Art von Priorisierung ist. Übertragen auf die GKV hieße das, dass erst einmal der Bedarf pro Person festgelegt werden muss, womit die begonnene Priorisierungsdiskussion einen ganz anderen Verlauf nehmen würde. Denn dann muss die Politik definieren, was ein Bürger braucht, was im zusteht, und auch ab wann ein Bürger überfordert ist. Und schlussendlich wird sich die Politik bei diesem Ansatz viel schwerer tun, Bürgern und damit Wählern Geld vorzuenthalten als einem anonymen Fonds.

Wie beurteilen Sie die kurzfristige Ausgabendämpfung?
Die Politik war gezwungen zu agieren. Die Regel lautet: Wer am schnellsten läuft, wird gestoppt. Und am schnellsten laufen bei den Ausgaben nun mal die Ausgaben für Medikamente und bei denen wiederum für die innovativen. Aber das hätte Frau Ministerin Schmidt genauso machen müssen.

Aber nun soll zusätzlich der Weg in die Kosten-Nutzen-Bewertung gegangen werden.
Bisher galt ja, dass der Nutzen das A und O ist. Die neue Richtung lautet nun, dass mehr Nutzen alleine nicht mehr ausreicht, sondern der Mehrnutzen auch den Mehrkosten gegenübergestellt werden muss. Die Frage ist nur, aus welcher Perspektive das Ganze betrachtet wird. Aus der Sicht des Patienten oder aus jener der GKV-Gemeinschaft? Oder aus der Sichtweise der Sozialversicherung inklusive Pflege und Rente? Oder aber aus jener der Volkswirtschaft inklusive den Detailthemen Arbeitsplatz und Exportchancen?

Je größer man die Kosten-Nutzen-Betrachtung aufhängt, in umso mehr undefinierte Felder gerät man.
Und in umso politisch brisantere. Denn die Pharmaindustrie wird beispielsweise immer den größeren Nutzen - insbesondere bezüglich Arbeitsunfähigkeit - in die Diskussion führen. Denn unter dieser Generalsicht werden verschiedene Medikamente, die heute als Schnellläufer und Kostentreiber betrachtet werden, zu Investments, die sich durchaus rechnen - und zwar auf Anhieb. Wenn sie aber die Effekte auf die Verrentung, auf die Arbeitsunfähigkeit oder auch auf die Pflege weglassen, ergeben sich mehrere Fragezeichen!

Wie wird denn die nächste Reform aussehen?
Sie wird auf alle Fälle eine Minireform werden, womit die übernächste schon angesagt ist. Das ist aber auch ein historischer Fakt: Alle GKV-Finanzreformen hatten bisher immer eine vorgezogene Ausgabendämpfungsmaßnahme. Zwar hat Bundesgesundheitsminister Rösler diesmal angekündigt, er wolle genau das nicht machen, weil Ausgabendämpfung bisher nie richtig funktioniert hat.

Womit er durchaus Recht hat, weil eine Finanzierungsreform wichtiger wäre.
Aber er wurde eben politisch bedrängt, bei den Ausgaben schnell etwas zu tun. Was aber auch kein Wunder ist, wenn man weiß wie Parteien funktionieren: Die gehen nämlich davon aus, dass Arzneimittelreformen und vor allem die Diskussion, dass die Pharmaindustrie zur Konsolidierung beitragen muss, wählerwirksam sind. Und genau das interessiert die Politik, was in einer Demokratie durchaus legitim ist. <<

Das Gespräch führte MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier.