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Der Kommerz muss aus der Medizin verschwinden

Der Leiter des IQWiG, Prof. Dr. med Peter T. Sawicki, im MVF-Titelinterview

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Erstveröffentlichungsdatum: 01.10.2009

Plain-Text

Prof. Dr. Peter T. Sawicki kann eigentlich nichts tun, was der Pharma-Industrie gefällt: Jede seiner Entscheidungen gefährdet das Budget, das der Branche vom Solidarsystem erstattet wird. Dennoch ist der Leiter des IQWiG überzeugt, dass unser System noch weit weg ist von Priorisierung, wenn denn die vorhandenen Mittel besser und effizienter genutzt würden.

>> Sehr geehrter Herr Prof. Sawicki, Ihr Institut hat die Ergebnisse der Nutzenbewertung von langwirksamen Insulinanaloga zur Behandlung des Diabetes mellitus Typ 1 veröffentlicht. Das Ergebnis: Sie fanden anscheinend keine Belege dafür, dass die Wirkstoffe „Detemir“ und „Glargin“ einen Zusatznutzen gegenüber Humaninsulin bieten würden. Dabei zog das IQWiG immerhin insgesamt zwölf Studien zu Rate, die für eine Nutzenbewertung - zumindest bei Erwachsenen - geeignet waren. Drängt sich für Sie die Annahme auf, dass die Industrie selbst schuld sein könnte, wenn sie keine besseren Studien macht?
Die Industrie macht nur die Studien, die von ihr gesetzlich verlangt werden oder von denen sie sich einen Vorteil verspricht. Faire Kopf-an-Kopf-Vergleiche sind jedoch selten, weil sie aus Sicht der Industrie immer das Risiko beinhalten, dass das eigene Produkt floppt. Entweder die Firmen werden zu solchen Kopf-an-Kopf-Vergleichen gezwungen oder man schafft andere Finanzierungsquellen. Solche Vergleiche sind aber für die Praxis essenziell, weil es die Ärzte und Patienten bei neuen Produkten nicht interessiert, ob sie besser als Nichts sind, sondern ob sie einen Fortschritt im Vergleich zu der bislang verwendeten besten Therapie bieten.

Zu diesem Vorbericht konnten bis Anfang August dieses Jahres schriftliche Stellungnahmen eingereicht werden. Hat sich – wenn denn Stellungnahmen eingingen, was zu erwarten ist - an der Zentralaussage des IQWiG-Vorberichts etwas geändert?
Wir sichten die Stellungnahmen gerade und werten sie aus. Den Ergebnissen kann ich nicht vorgreifen.

Andere Baustelle, ähnliche Causa: Unlängst hat der Gemeinsame Bundesausschuss beschlossen, die letztgültige Entscheidung über die Anwendung der interstitiellen Brachytherapie beim lokal begrenzten Prostatakarzinom auszusetzen. Dieser Beschluss geht auf einen Vorbericht Ihres Hauses zurück, nachdem bislang kein Urteil möglich sei, wie die Brachytherapie im Vergleich zu den wichtigsten alternativen Behandlungsmethoden zu bewerten sei. Warum kamen Sie zu diesem Schluss?
Auch das ist der mangelnden Studienlage geschuldet. Und das bei einer der häufigsten Tumorarten. Um dieses Karzinom zu behandeln, gibt es mehrere Möglichkeiten: Entweder man operiert und entnimmt die Prostata, was Inkontinenz und Impotenz verursachen kann; man bestrahlt perkutan oder man wendet die Brachytherapie an, bei der kleine radioaktive Körner, so genannte Seeds, in die Prostata eingebracht werden. Vierte Möglichkeit: Man wartet erst einmal einfach ab und beobachtet.

Was ergab die Bewertung der vorhandenen Studienlage?
Dass sie so schlecht ist, dass man eigentlich überhaupt nichts sagen kann. Das kann es doch nicht sein. Anno 2009!

Was war denn Ihre Empfehlung?
Ganz einfach: Es müssen gute Studien her! Dann wissen wir wenigstens in einem Zeitraum von etwa fünf Jahren, was einem Patienten unter Berücksichtigung seiner Präferenzen anzuraten ist. Dass damit die Aufgabe nicht leichter wird, den geeigneten individuellen Behandlungsweg zu finden, ist auch klar – aber die Wahl basiert dann wenigstens auf klaren Fakten und nicht auf Hoffnungen, Ängsten und Vermutungen. Die letzte Entscheidung trifft jedoch immer noch der Patient. Oder sollte es zumindest. Aber er muss es informiert tun und dafür braucht er zuverlässige Studienergebnisse.

Dazu müssten die Ärzte sicher viel offener und ehrlicher als bisher mit ihren Patienten reden.
Sicher. Patienten müssen besser verstehen können, welche Konsequenzen mit der einen oder der anderen Behandlung verbunden sind. Ein Patient muss darum meiner Meinung nach aktiv darüber aufgeklärt werden, welche Folgen eine komplette Entfernung der Prostata, die radikale Prostatektomie, haben kann, wie hoch zum Beispiel der Überlebensvorteil ist und ob ein Vorteil durch mehr Fälle von Impotenz und Inkontinenz erkauft werden muss. Dann wird sich der eine Patient gegen die Operation und der andere dafür aussprechen, je nach individuellen Präferenzen und persönlichen Risikoabwägungen. Für diese Entscheidung muss man aber den Betroffenen zuverlässige Zahlen geben können, die ziemlich exakt aussagen, wie viel länger man mit welcher Therapie leben kann und wie viel höher dabei zum Beispiel das Risiko für Inkontinenz und Impotenz ist. Diese Daten brauchen Patienten und Ärzte, damit sie endlich individuell richtig entscheiden können anstatt gleichsam auszuwürfeln, was wohl besser sei. Vielleicht kommt bei der Studie jedoch heraus, dass man am besten abwartet und überhaupt nichts tut. Das weiß heute aber niemand. Die so genannte evidenzbasierte Medizin schafft also erst belastbare Voraussetzungen für eine echte individualisierte Behandlung, die die autonomen Entscheidungen der Patienten ernst nimmt.

Was weiß man denn überhaupt?
Manchmal eine ganze Menge, wenn man richtig nachschaut. Zuweilen aber zu wenig. Die Erkenntnis des Nichtwissens ist aber schon eine Bewegung zum Positiven, weil sie erst die Voraussetzung schafft, diese Wissenslücke schließen zu können. Oft ist die Überschätzung der Sicherheit des Wissens das Problem. Darum ist es schon ein Erfolg an sich, wenn der G-BA einen Beschluss aussetzt, um Wissenslücken zu füllen und selbst Studien in Auftrag gibt. Denn danach wissen wir besser, wovon wir reden.

Schwingt da nicht eine kleine Spur Resignation mit?
Es ist oft frustrierend, weil solche Studien schon vor Jahren hätten stattfinden können. Wir verlieren oft viel zu viel Zeit durch Streitereien, anstatt neue Technologien einfach ganz früh bezüglich ihres Nutzens zu erproben.

Gesetzt den Fall, dass bei dieser Studie zur Brachytherapie heraus kommen sollte, am besten wäre abzuwarten und überhaupt nichts zu tun. Was wird wohl die Ärzteschaft oder die Industrie sagen?
Wenn die Studie gut ist, wird man das Ergebnis so akzeptieren müssen. Vermutlich werden einige dann die Verschwörungstheorie schüren, dass wir die Studie nur angeregt hätten, um „auf Kosten der Patienten zu sparen“. Das ist aber nicht so. Uns geht es nicht darum, weniger Geld auszugeben, sondern es richtig auszugeben.

Eine solche Studie, die vier verschiedene Versorgungsmodalitäten randomisiert vergleicht, ist Versorgungsforschung pur.
Sicher. Aber es ist auch keine Raketenphysik, sondern lediglich sauberes, seit Jahrzehnten bewährtes Studiendesign, das dafür sorgt, dass am Ende tatsächlich verlässliche Schlüsse gezogen werden können. Wenn sich die Gruppen schon von vorneherein durch die Auswahl der Männer unterscheiden, wissen wir am Ende nicht, ob eventuelle Unterschiede der Ergebnisse auf die Therapien oder die Struktur der Gruppen zurückzuführen sind. Dann geht der Streit nur weiter. Strukturgleichheit entsteht eben am sichersten durch Randomisierung.

Womit die Industrie ihre liebe Not hat.
Das mag schon sein. Aber es geht in der Gesundheitsversorgung primär um Patienten und nicht um die Industrie. Versichertengelder sind nicht dazu da, die Wünsche der Industrie zu realisieren.

Was wünscht sich denn die Industrie von Ihnen?
Ich solle doch bitte ein bisschen konzilianter sein und zum Beispiel im Fall der Insuline auch mal Fünfe Gerade sein lassen. Das kann ich aber nicht. Ich verlange von Industrie und Politik doch auch nicht, dass sie denken und handeln soll wie die Wissenschaft.

Das passt anscheinend einfach nicht zusammen.
Die Einen sind nun einmal dem Shareholder Value verpflichtet, die Anderen wollen wieder gewählt werden und müssen dazu noch die unterschiedlichsten Interessen ausgleichen. Unsere Rolle ist aber eine ganz andere: Wir sollen beschreiben, welches Wissen da ist. Dadurch können wir die Dinge besser machen als sie sind.

Während die Industrie die nötigen Grunddaten liefern soll, machen Sie daraus Metaanalysen, aber eben nur aus jenen Studien, die Ihnen passen - so ein Vorwurf der Industrie.
Der Vorwurf stimmt nicht. Wir sichten die bestehende Studienlage nach Evidenzkriterien. Darum ist das Ergebnis auch nicht verhandelbar. Was „passt“ und was nicht, ist keine Willkür, sondern wird in einem vorab veröffentlichten Berichtsplan wissenschaftlich begründet. Der Plan und später auch die vorläufigen Schlussfolgerungen stellen wir zur öffentlichen Diskussion. Wer gute Argumente hat, kann die also jederzeit einbringen. Wenn sie stichhaltig sind, führen sie zur Änderung unserer Vorgehensweise.

Muss es denn immer RCT sein?
Nach Möglichkeit. Doch wir haben unlängst selbst eine klassische Versorgungsstudie aufgrund von Krankenkassendaten der AOK für Insulinanaloga vorgelegt. Das war nun kein RCT, aber eben eine Studie auf Basis echter Behandlungsdaten, von denen man durchaus bestimmte Aussagen ableiten kann. Zum Beispiel einen Verdacht, dass das Insulinanalogon „Lantus“ mit dem Wirkstoff Insulin „Glargin“ Krebs fördern kann. Krankenkassendaten sind nun mal klassische Versorgungsforschungsdaten, die durch eine große Anzahl von Fällen meist nicht das Problem einer zu kleinen Stichprobe haben.

Solche Studien erkennen Sie an?
Als Signal durchaus, das hängt aber von der Fragestellung ab. Diese Insulinanaloga-Studie ist so ziemlich das Beste, was man ohne RCT machen kann. Die Frage bleibt aber immer, wie man die Ergebnisse kausal interpretieren kann, wenn man keine zwei strukturgleichen Gruppen hat.

Weil es Ihnen nicht um Zustandsbeschreibung, sondern Wirkung geht?
Bei Krankenkassendaten kann man im Zweifel nur betrachten, wie viele Patienten zum Beispiel die eine oder die andere Medikamentenkombination verschrieben bekommen haben; oder wie viele Kranke falsch behandelt worden sind, vielleicht, weil sie eine chronische Niereninsuffizienz aufweisen und trotzdem ein kontraindiziertes Medikament erhalten. Die Aussagen, die man hier durch die Auswertung von Kassendaten treffen kann, sind auch sicher alle richtig. Auch eine Analyse, wie viele Patienten mit Demenz nicht entsprechend der bestehenden Leitlinien behandelt wurden, wäre sicherlich eine wichtige Erkenntnis, weil sie Fehlversorgung aufdeckt.

Doch das reicht Ihnen nicht.
Das ist erst der Anfang. Aussagen über kausale Beziehungen zwischen Ursache und Wirkung können sie nur in experimentellen Studien machen, in denen Störgrößen gleich verteilt sind. Über die Randomisierung wird dann ein Störeinfluss ausgeschaltet, weil er auf die zu vergleichenden Gruppen gleich verteilt ist.

Wen sehen Sie in der Pflicht, eine solche Versorgungsforschungs-Studie wie bei der Brachytherapie durchzuführen? Die Industrie oder die Gesellschaft?
Das kann keine industrielle, sondern muss eine gesellschaftliche Aufgabe sein. Eine Studie, die verschiedene Therapiemöglichkeiten untersucht, zum Beispiel auch solche, die nicht in Bezug zum Produkt eines Unternehmens stehen, kann kein Pharmaunternehmen durchführen wollen. Da würden die Shareholder dem CEO zu Recht den Marsch blasen, wenn der sein Geld für so etwas ausgibt. Darüber hinaus wird der Hersteller seine eigenen Produkte grundsätzlich nicht objektiv beurteilen.

Das heißt: Versorgungsforschung muss öffentlich finanziert sein? Oder wie der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (Bundestags-Drucksache 16/13770) in seinem Unterpunkt 1219 erneut anregt, den Krankenkassen gesetzlich die Möglichkeit für Versorgungsforschung einzuräumen, wofür ein „fester prozentualer Anteil der Leistungsausgaben“ - vorgeschlagen wurde, nämlich 0,1%, also rund 160 Millionen Euro. Wäre das ein Ansatz?
Mit absoluter Sicherheit. Doch sollten die Krankenkassen ein Prozent der über sie abgewickelten Gelder für hochklassige kontrollierte klinische Studien aufwenden, die in die Versorgung der Patienten eingebettet sind. Damit wir endlich wissen, was wir tun. Wir wissen so vieles nicht. Aber: Wir könnten es wissen! Also lasst uns doch lieber einen sehr kleinen Teil des Geldes, das wir sowieso ausgeben würden, dafür einsetzen, dass wir künftig den größten Teil vernünftiger ausgeben.

Oder gar weniger ausgeben?
Einen Zwang zur Rationierung sehe ich im Moment noch nicht mal am Horizont, wenn wir es endlich schaffen würden, unsere vorhandenen Ressourcen effizienter auszuschöpfen. Man kann doch mit 250 Milliarden Euro pro Jahr - davon 160 Milliarden aus dem Budget der Krankenkassen - eine gute Medizin erreichen; sogar eine sehr gute Medizin und ohne, dass man kranken Menschen irgendetwas vorenthält, was ihnen hilft. Darum ist Sparen nicht mein Ziel. Ich will lediglich das vorhandene Budget besser einsetzen. Und dazu brauchen wir erst einmal mehr Wissen. Das wäre auch für die deutschen Universitäten genial, die dann viel häufiger Erkenntnisse vorzuweisen hätten, die sie in hochklassigen Fachzeitschriften wie „Lancet“ oder „New England Journal of Medicine“ veröffentlichen können. Die deutsche Forschung ist zwar hervorragend in der Grundlagenforschung und der Genetik, doch bei der patientenangewandten und -relevanten Forschung hapert es arg.

Das wäre einmal Standort-Marketing für deutsche Forschung at its best. Vielleicht sollten wir dann besser gleich zwei Prozent daraus machen?
Ein Prozent wären schon mal 1,6 Milliarden pro Jahr. Damit könnte man schon einiges an Erkenntnisgewinn finanzieren. Das wäre aber immer noch relativ wenig im Vergleich zu dem Betrag, den pharmazeutische Firmen in Forschung und Entwicklung investieren.
Die stecken rund 15 Prozent ihres Umsatzes in Research und Development und bringen trotzdem selten wirkliche Innovationen hervor.
Womit wir wieder bei RCT sind. Wenn die Industrie mehr wirkliche Innovationen - was zugegebenermaßen nun einmal sehr schwierig ist - hervorbringen würde, würden wir RCT doch gar nicht benötigen. Große Effekte wird man auch mit anderen Methoden sehen können. Ein Beispiel ist die Einführung von Insulin oder Antibiotika. Dafür brauchte man bestimmt keine randomisierte Studie. Aber wenn man zum Beispiel wissen will, ob durch den Einsatz eines Medikaments über fünf Jahre die kardiovaskuläre Sterblichkeit um 0,5 Prozent reduziert wird, dann braucht man einfach zwei große vergleichbare Gruppen, die unterschiedlich behandelt werden.

RCTs sind für Sie also eine Art Mikroskop für den Nutzen?
Durchaus. Die meisten Innovationen sind nun einmal keine oder solche Minimal-Fortschritte, für die man viele Patienten über eine längere Zeit beobachten muss, um überhaupt einen Effekt festzustellen. Was aber Sinn macht, denn auch Minimalfortschritte sind wichtig auf dem Weg zu einer besseren Medizin. Um die zu erkennen, brauchen wir eben adäquate Studiendesigns.

Oder auch für Effekte, die leider oft genug für den Kliniker wie für den Patienten überhaupt nicht von Relevanz sind, wie Professor Dr. Ludwig in der letzten Ausgabe von „Monitor Versorgungsforschung“ bemängelte.
Wenn Patienten wüssten, für welche kleinen Wahrscheinlichkeiten eines Nutzens sie bestimmte Behandlungen über sich ergehen lassen, würden ihre Entscheidungen vermutlich oft ganz anders aussehen.

Wir streifen am Rande das Thema Ärzte, die anscheinend zu wenig wissen, was sie tun, aber sie tun es. Sicher meist mit besten Wissen und Gewissen. Aber eben irgendwie.
Das ist zum großen Teil darin begründet, dass in der derzeitigen Struktur des Gesundheitswesens alle Leistungserbringer – ob nun Ärzte oder Krankenhäuser - nach der Zahl der abgerechneten Maßnahmen bezahlt werden. Das schafft eine einfache Logik: Je mehr Maßnahmen ich am Patienten durchführe, umso mehr Verdienst für den Arzt und desto mehr Geld wird insgesamt ausgegeben.

Das System an sich verführt zu mehr Leistungen?
Aber ja. Am deutlichsten zeigt sich das bei Privatpatienten. Die werden häufiger operiert als Kassenversicherte, obwohl sie gesünder sind, bekommen mehr Röntgenaufnahmen und mehr Herzkatheteruntersuchungen. Man kann schon vermuten, dass vieles davon unnötig ist. Wenn es aber unnötig ist, bringt es nur Schaden und kostet zudem Geld.

Das pervertiert die Urabsicht des ärztlichen Berufs, dass Ärzte heilen und nicht schaden sollten.
Als Arzt kann man nie absolut sicher sein, was in einem bestimmten Fall nützen wird und was nicht; aber man braucht zumindest Informationen über Wahrscheinlichkeiten. Auf der anderen Seite sollten Ärzte nie absichtlich schaden, noch Schaden billigend in Kauf nehmen. Nun verführt aber das System Ärzte leider dazu, auch dann viel zu tun, wenn der Nutzen unsicher ist. Damit handelt der Arzt wider den Grundsatz „Als erstes nicht schaden“. Das ist zum einen für die Patienten schlecht, zum anderen für die Solidargemeinschaft, die das Ganze bezahlen muss.

Das könnte man doch korrigieren.
Indem man beispielsweise die Möglichkeit schafft, dass die Ärzte künftig nicht mehr nach abgerechneten Maßnahmen bezahlt werden.

Wäre das durchsetzungsfähig bei uns, im Land der freien Berufe?
In den Krankenhäusern arbeiten doch auch Ärzte als Angestellte und machen einen tollen Job. Nur im niedergelassenen Bereich soll das nicht funktionieren? Man könnte es zumindest mal ausprobieren. Ich glaube, dass es viele niedergelassene Ärzte einfach leid sind, kleine Unternehmen zu führen und Patienten ständig etwas aufschwatzen zu müssen. Oder sie so zu behandeln, dass in erster Linie für die Praxis die Rechnung stimmt - und nicht für die Patienten. Schauen Sie sich an, was es unter den IGEL-Leistungen für Stilblüten gibt! Ärzte als Krämer im Gesundheitsladen verspielen das Vertrauen der Patienten.

Sie reden der Ent-Ökonomisierung des Arztberufes das Wort, was das GKV-WSG schon mit dem Apothekerberuf gemacht hat, indem die prozentuale Honorierung pro abzugebendes Medikament abgeschafft worden ist.
Mein Vorschlag wäre, erst einmal jene Ärzte, die das wollen, als Angestellte in Gemeinschaftspraxen oder Ambulatorien zusammenzufassen. Ärzte, die anders arbeiten wollen, können das natürlich tun. Aber ich glaube, dass viele mitmachen würden, wenn ihnen dafür dieser ganze Verwaltungsaufwand abgenommen wird.

Und ein festes Gehalt beziehen?
Ein gutes Gehalt. Wie viel das ist, darüber kann man sich trefflich streiten. Wir sollten uns da an den Gehältern der Ärzte bei unseren europäischen Nachbarn orientieren. Wichtig wäre auch, dass Ärzte nur noch so wenig wie möglich finanzielle oder verwaltungstechnische Verantwortung tragen müssen. Dafür wären dann extra ausgebildete Praxismanager zuständig, die die ja nicht unsinnigen Auflagen und Anfragen der Krankenkassen viel effizienter umsetzen könnten. Diese ganze Bürokratie ist ja nicht in jedem Fall sinnlos, man muss sie nur anders handhaben als bisher. Oder besser: Von jemandem handhaben lassen, der sich darauf versteht. Ärzte sind das jedenfalls nicht, die wurden ja dafür auch gar nicht ausgebildet. Ärzte sollten Patienten behandeln, sonst nichts. Und ihr Gehalt darf nicht davon abhängig sein, ob sie bei Patienten beispielsweise oft Darmspiegelungen machen, oder einfach nur mit ihnen sprechen.

Kritiker dieses Ansatzes werden sicher entgegnen, dass ein angestellter Arzt nicht mehr so viel arbeiten wird wie ein Freiberufler.
Das glaube ich nicht. Ärzte im Krankenhaus machen das jedenfalls nicht. Die kommen nicht später, gehen auch nicht früher und arbeiten oft auch noch umsonst, weil sie zum Teil immer noch Überstunden gar nicht bezahlt bekommen. Viele Mediziner arbeiten sehr gern als Ärzte, das Problem ist, dass sie vielfach nichtärztliche Aufgaben erledigen müssen.

Bei Beamten versucht man gerade neue Leistungsanreize zu definieren. Und nun kommen Sie mit angestellten Ärzten.
Man kann doch Leistungsanreize vernünftig und intelligent mit Angestelltentum verbinden. Das Ursächliche wäre aber zuallererst, dass ein neues System zu schaffen ist, in dem das Gehalt nicht davon abhängt, wie viele Maßnahmen ein Arzt durchführt und abrechnet. Wenn man Leistungsanreize will, könnte man die an die Ergebnisqualität anknüpfen – mit entsprechenden Prämien. Aber auch hier muss man gut aufpassen, dass es keine Fehlanreize gibt - dass Ärzte sich also zum Beispiel nur noch um solche Patienten und Ergebnisse kümmern, für die Erfolgsprämien bezahlt werden.

Zur Zeit wird indes durch den neuen EBM 2009 das etablierte ärztliche Honorarsystem zwar von Punktwerten auf Euro umgestellt, aber im Kern unverändert fortgeschrieben, während die hausarztzentrierten Verträge durchaus schon heute Qualitätsanreize schaffen.
Tja, da hätte man gut einen Zwischenschritt machen können. Aber leider versprechen sich Ärzte derzeit immer noch über leistungsorientierte Vergütung vor allem mehr Geld. Doch das kann sich schnell ändern, wenn die Arbeitszufriedenheit der Ärzte noch tiefer sinkt. Dabei ist der Arztberuf an sich ein schöner Beruf, den man gerne ausübt, auch weil man sehr viel von den Patienten zurück bekommt. Was natürlich nicht geht, wenn man knallhart Sprechstundenzeiten von durchschnittlich sechs bis sieben Minuten pro Patient durchziehen muss. Dann macht Arztsein keinen Spaß mehr.

Was halten Sie von Pay-for-Performance?
Als erstes müsste man dazu erst einmal die Performance an sich erheben. Wichtig ist hier die Definition der richtigen Kriterien. Es darf doch nicht dazu kommen, dass zum Beispiel Patienten mit Bluthochdruck auf Teufel komm raus auf bestimmte Blutdruckwerte eingestellt werden, wie das die KBV jetzt vorgeschlagen hat. So etwas kann schnell zu Negativanreizen führen, wenn bestimmte, schwer einstellbare Patienten mal schnell zum Kollegen geschickt werden, der sich dann damit herumschlagen kann. Oder aber Patienten, die überhaupt keinen Bluthochdruck haben, mal schnell eine Prise Antihypertensivum verschrieben bekommen.

Das sind klassische Fehlanreize.
Richtig. Und die sollen die Ärzte ja auch noch selbst dokumentieren und evaluieren. Grundlage der Qualitätssicherung ist es aber doch, dass man selbst seine eigene Qualität nicht sichern kann. Das kann nur jemand von außen, von einer Pay-for-Performance-Gruppe oder was weiß ich, der die Akten durchschaut und auch mal Patienten befragt.

Was ja bei internistischen Registern schon heute passiert.
Das wird auch in anderen Ländern so praktiziert. Man muss nur erst einmal die Angst aus dem System nehmen. Wenn sich auf der einen Seite die Erfahrung des einzelnen Arztes und seine Empathie für den Patienten mit der Mystik der Medizin und der externen Evidenz verbindet, kommt die Qualität fast von ganz alleine. Ein Arzt muss wieder nur Arzt sein dürfen, anstatt länger ein Arzt am Scheideweg zwischen dem Wohl der Patienten und dem eigenen Wohl zu sein, wie ihn George Bernard Shaw beschrieben hat.

Diese Vision braucht Zeit. Ist das ein Kampf gegen Windmühlen?
Man muss die Zeit haben. Ich habe auch nicht den Anspruch, dass sich im Laufe meines Berufslebens alles zu ändern hat. Aber ich will zumindest versuchen, in die richtige Richtung zu gehen.
Wäre es nicht am besten, das ganze Gesundheitssystem zu entökonomisieren? Oder wäre Ihnen dieser Gedanke, der sicher sehr, sehr weit vom derzeitigen System und allen Wahrscheinlichkeiten weg wäre, zu radikal?
Das würde absolut nicht funktionieren. Der Kommerz darf nur nicht das Handeln der Ärzte in Praxen und Kliniken bestimmen. Bei der Entwicklung von Medikamenten und medizinischen Geräten ist Profitstreben wohl nicht zu vermeiden. Es ist nun einmal so, dass wir in einem System leben, in dem in der Medizin Produkte hergestellt werden, mit denen man Gewinn machen kann. Das ist eine demokratische Entscheidung. Man könnte ja auch entscheiden, die pharmazeutischen Unternehmen zu verstaatlichen und die Grundlagenforschung an Universitäten zu verlagern. Auch das wäre eine in einer Demokratie zu treffende Entscheidung, die theoretisch wohl denkbar, aber nicht sehr wahrscheinlich ist – und die ich auch nicht für vernünftig halte.

Solange diese grundlegende Systemänderung nicht passiert, wird man auch künftig an der Symptomatik eines Quasimarkts herumdoktern müssen, dessen Zielkonflikt zwischen Ökonomie und Medizin unlösbar ist.
Ich bin gar nicht so pessimistisch. Auch Änderungen an Kleinigkeiten, die nicht gleich alles grundsätzlich in Frage stellen, können weitreichende Auswirkungen haben.

Zum Beispiel durch eine Kleinigkeit wie die Vierte Hürde?
Richtig. Eine Vierte Hürde halte ich tatsächlich für eine gesetzgeberische Kleinigkeit mit großer Wirkung. Dieser Ansatz wäre ein Paradigmenwechsel, der viel Ruhe ins System bringen könnte. Denn dann würde nicht länger jedes Medikament bezahlt, für das die Industrie eine Zulassung erhält, sondern es würde erst einmal geschaut, ob das neue Medikament überhaupt notwendig ist. Und wenn es nicht notwendig ist, würde es eben auch nicht bezahlt.

Dafür machen Sie ja schon Kosten-Nutzenbewertungen.
Wir können Kosten-Nutzenbewertungen doch erst durchführen, wenn das betreffende Arzneimittel schon auf dem Markt ist. Das ist aber viel zu spät. Schon die Übernahme der Kosten durch die Krankenversicherung müsste gekoppelt sein an einen Nachweis des Nutzens. Doch das ist – obgleich dies der Gesetzgeber verlangt - momentan eben nicht der Fall. Wir haben viele Arzneimittel im Markt, die nur ungenügend auf ihren Nutzen geprüft wurden. Für die nötigen Studien ist es den Herstellern viel zu lange zu früh; oft solange, bis es auf es auf einmal zu spät ist. Das sehen wir am Beispiel des Insulinanalogons „Lantus“, das in Deutschland ja schon seit 2000 zugelassen ist.

Eine Forderung wäre also, Nutzenbewertungen früher zu machen?
Vor allem müssten vergleichende Studien früher und auch schneller stattfinden; gegebenenfalls auch unterschiedlich gewichtet. Das heißt: Wenn das 50. blutdrucksenkende Medikament eingeführt wird, müsste man sehr genau über eine längere Zeit beobachten, ob es wirklich besser ist als die anderen 49. Wenn aber jemand ein Medikament einführen sollte, mit dem Multiple Sklerose geheilt oder ein Krebs erfolgreich behandelt werden kann, braucht man schnelle Prüfabläufe.

Nun klappt die Zusammenarbeit zwischen dem IQWiG und der Pharmaunternehmen ja nicht ganz so gut.
Die Firmen verfolgen eine Verzögerungstaktik. Das ist auch logisch, weil es zwischen uns einen unauflösbaren Konflikt gibt. Derzeit können unsere Berichte eigentlich kein Ergebnis bringen, das für die Pharmaunternehmen positiv ist. Die Arzneimittel, die wir bewerten, sind ja bereits im Markt, werden verordnet und von den Krankenkassen bezahlt und das zu einem Preis, den die Pharmaunternehmen selbst festlegen: Das ist nun mal die Maximale. Unsere Berichte können im besten Fall den Status quo erhalten. Die Pharmaunternehmen können demnach gar kein Interesse haben, dass ein Bericht unseres Institutes fertig wird. Sie können nur ein Interesse haben, uns auszubremsen. Das versuchen sie auch konsequent. Zur Kooperation mit uns und dem System kämen die Firmen erst, wenn Arzneimittel nur dann von den gesetzlichen Krankenversicherungen bezahlt werden, wenn es einen Nutzen- und Wirtschaftlichkeitsnachweis gibt.

Haben Sie dafür Verständnis?
Wenn ich ein Unternehmen vertreten würde, würde ich mich wahrscheinlich genau so verhalten. Ich empfinde Pharmafirmen von ihrem Denken her auch durchaus als sehr konsequent. Die sagen ganz klar, dass sie keine karitativen Unternehmen sind und mit Medikamenten Gewinn machen müssen. Das ist logisch und sie verhalten sich auch logisch.

Aber sind damit auch berechenbar.
Ja klar. Es wird immer Kritik an unseren Berichten geben, so lange bis sie von der Industrie selbst geschrieben werden. Bis dahin werden wir uns anhören, dass die Industrie zu wenig Einfluss hätte, zu wenige Anhörungsgelegenheiten und zu wenig Mitspracherecht. Dabei sieht unser System schon heute das wohl ausgiebigste Stellungnahme- und Anhörungsverfahren auf der ganzen Welt vor.

Und dann wurde vor wenigen Wochen auch noch die Kosten-Nutzenbewertungs-Methodik des Gemeinsamen Bundesausschusses beschlossen.
Ja, dies ist im Prinzip richtig. Die gesetzlich vorgegebenen Instrumente sind nur zu schwerfällig, zu langsam. Es werden wieder neue Schleifen eingezogen, bis es zu Entscheidungen kommt. In der Koalition und auch vorher schon wurde doch alles versucht, dass das Ganze nicht ganz so scharf ist. Man hat ein gutes Instrument geschaffen, aber so richtig benutzen will man es nicht. Das ist auch eine Art von Ressourcenverschwendung. Aber so sind eben die Spielregeln.

Gut, dass Sie Ihren Humor nicht verloren haben.
Warum sollte ich den Humor verlieren? Meine Arbeit ist sehr interessant, weil ich mit vielen verschiedenen Menschen zusammenkomme, die ganz anders denken: mit Ethikern, Juristen, Gesundheitsökonomen oder auch Pharmamanagern. Dieses Spektrum hätte ich wohl kaum, wenn ich nur in der Medizin geblieben wäre.

Werden Sie immer noch beschimpft?
Das ist ein bisschen besser geworden. Aber ich wurde eigentlich immer beschimpft. In meiner Zeit vor dem IQWiG haben wir in Düsseldorf zum Beispiel Patientenschulungsprogramme für Diabetiker eingeführt. Dafür haben mich Kollegen beschimpft. Dann haben wir an Disease-Management-Programmen gearbeitet. 2002 hatte ich körperliche Angst, in Dresden heil aus einem Vortrag auf der Tagung der Deutschen Diabetesgesellschaft herauszukommen - die Diabetologen waren außer sich, wütend und haben die Fäuste geballt. Und heute bekomme ich von ihnen Briefe, dass ich mich doch bitte für das Fortbestehen der DMPs einsetzen solle. Ich bin es also gewohnt, dass man schimpft und hinterher sagt: Eigentlich waren wir ja immer dafür. Das wird man vermutlich auch später über unser Konzept der Kosten-Nutzenbewertungen sagen: Das war ein guter erster Schritt. <<
Das Interview führten MVF-Herausgeber Prof. Dr. Reinhold Roski und MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier.