Die Kopfpauschalen- und Risikoausgleichsdiskussion in der Schweiz
Das schweizerische Gesundheitswesen unterscheidet für den Krankheitsfall zwischen einer Grundversicherung, welche ihre gesetzlichen Grundlagen im eidgenössischen Krankenversicherungsgesetz (KVG) hat, und privaten Zusatzversicherungen, welche dem Gesetz über den Versicherungsvertrag (VVG) unterstellt sind. Im Gegensatz zu anderen Ländern sind Zusatzversicherungen in der Schweiz komplementärer und nicht ersetzender Natur. Personen, welche eine Zusatzversicherung abschliessen, können sich demnach nicht der Bezahlung der Grundversicherungsprämie entziehen. Anders als beispielsweise in Deutschland kann man sich also nicht ab einer bestimmten Einkommensgrenze von der gesetzlichen Krankenversicherung und damit von der Solidargemeinschaft verabschieden, indem man zu einer privaten Krankenversicherung wechselt. Auch Beamte haben – mit Ausnahme gewisser gerade aktiv Dienst leistender Militärs – eine Grundversicherungsprämie zu entrichten.
>> In der deutschen Diskussion wird nicht selten die Auffassung vertreten, die Schweiz hätte mit der Einführung des KVG die Kopfpauschale (in Schweizerdeutsch: die Kopfprämie) eingeführt. Dies ist eine Verzerrung der Tatsachen. Denn die Kopfpauschale gab es vorher schon, allerdings wurde diese nach dem Eintrittsalter des Versicherten bemessen. Dies ist heute nicht mehr der Fall. Die grosse Veränderung fand mit dem KVG durch die Einführung des Versicherungsobligatoriums statt, das in der deutschen Terminologie einer Bürgerversicherung auf der Basis der Kopfpauschale entspricht.
Versorgungspolitisch ist dies von Bedeutung, weil man – egal wie man zur Finanzierung der Krankenversicherungsprämie steht – mit der Bürgerversicherung einen Akt der Solidarität schaffte, der in Deutschland bisher nicht diskutiert wird. Denn im schweizerischen System bezahlen auch die Beamten und die Bezüger höherer Einkommen Kopfpauschalen in die Grundversicherung, leisten also einen gewissen Solidaritätsbeitrag.
Neue Spitalfinanzierung
Im Rahmen der KVG-Teilrevision hat das Parlament den Wechsel von einem kostenbasierten zu einem Preis-System beschlossen, das auf gesamtschweizerisch einheitlichen Tarifstrukturen basieren soll:
• Für die Vergütung der stationären Behandlung einschliesslich Aufenthalt in einem Spital (Art. 39 Abs. 1) oder einem Geburtshaus (Art. 29) vereinbaren die Vertragsparteien Pauschalen. In der Regel sind Fallpauschalen festzulegen; die Pauschalen sind leistungsbezogen und beruhen auf gesamtschweizerisch einheitlichen Strukturen. Die Vertragsparteien können vereinbaren, dass besondere diagnostische oder therapeutische Leistungen nicht in der Pauschale enthalten sind, sondern getrennt in Rechnung gestellt werden. Die Spitaltarife orientieren sich an der Entschädigung jener Spitäler, welche die tarifierte obligatorisch versicherte Leistung in der notwendigen Qualität effizient und günstig erbringen. (Art. 49 Abs. 1 KVG)
• Die Tarifpartner setzen gemeinsam mit den Kantonen eine Organisation ein, die für die Erarbeitung und Weiterentwicklung sowie die Anpassung und Pflege der Strukturen zuständig ist. Zur Finanzierung der Tätigkeiten kann ein kostendeckender Beitrag pro abgerechnetem Fall erhoben werden. Die Spitäler haben der Organisation die dazu notwendigen Kosten- und Leistungsdaten abzuliefern. Fehlt eine derartige Organisation, so wird sie vom Bundesrat für die Tarifpartner verpflichtend eingesetzt. Die von der Organisation erarbeiteten Strukturen wie deren Anpassungen werden von den Tarifpartnern dem Bundesrat zur Genehmigung vorgelegt. Können sich diese nicht einigen, so legt der Bundesrat die Strukturen fest. (Art. 49 Abs. 2 KVG)
Für somatische Akutspitäler sollen Diagnosis Related Groups (DRGs) zur Anwendung kommen, welche ausgehend von den German DRGs entwickelt werden sollen.
Unterschieden wird neu zwischen zur obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) zugelassenen Spitälern durch Spitalliste bzw. durch Vertrag. Setzt ein Kanton ein Spital auf die Spitalliste, so hat die öffentliche Hand die Leistungen im Rahmen des gewährten Leistungsauftrags mitzufinanzieren. Der Krankenversicherer untersteht in diesem Fall dem Vertragszwang und hat seinen Anteil zu bezahlen. Spitäler, welche nicht oder unvollständig auf die Spitalliste gesetzt werden, haben die Möglichkeit, im Rahmen der OKP mit einzelnen Versicherern Verträge abzuschliessen. In diesem Fall bezahlt der Versicherer den vereinbarten Preis, die öffentliche Hand leistet dazu keine Beiträge. Die Versicherer dürfen dabei nach Art. 49a Abs. 4 KVG zu Lasten der OKP höchstens ihren für die betreffenden Kantonseinwohner geltenden Vergütungsanteil übernehmen. Der Anteil, welcher in den Listenspitälern auf die Kantone entfällt, muss demnach von den Versicherten bzw. einer Zusatzversicherung übernommen werden.
Der Anteil der Kantone bei Listenspitälern beträgt mindestens 55 % der Pauschale. In diesem Anteil sind neu auch die Investitionsamortisationen enthalten.
Gemeinwirtschaftliche Leistungen (Forschung und universitäre Lehre sowie die Aufrechterhaltung von Spitalkapazitäten aus regionalpolitischen Gründen) sind von der öffentlichen Hand zu finanzieren.
Knacknuss Risikoausgleich
DRGs sind aber nicht einfach gut oder schlecht. Ihre Wirkungen hängen in wesentlichem Ausmass auch davon ab, in welchem Umfeld sie wirken sollen. Gefordert wäre der Regulator Bund über die Veränderung der Anreizmechanismen. Er sollte sich dabei von der Maxime leiten lassen, dass in einem Sozialversicherungssystem alle Akteure (Versicherte, Patienten, Leistungserbringer und Versicherer) dann am besten fahren, wenn es ihnen gelingt, die hochkomplexen Fälle möglichst effektiv und effizient zu behandeln.
Um diesen Anreiz zu realisieren, bedürfte es in einem System der Einheitsprämie einer Verbesserung des Risikoausgleichs unter den Krankenversicherern. Die vom Parlament im Zusammenhang mit der neuen Spitalfinanzierung verabschiedete Berücksichtigung der Spital- und Pflegeheimaufenthalte kann dabei nicht genügen.
Der neue Ausgleichsmechanismus steht – genauso wie die Spitalfinanzierung – quer in der Landschaft zu den aktuell laufenden politischen Bemühungen, die integrierte Versorgung zu fördern. Denn mit der neuen Spitalfinanzierung und der neuen Risikoausgleichsformel dürfte der Anreiz in mehrfacher Hinsicht dahin gehend laufen, dass vormals teilstationäre Fälle vermehrt wieder stationär und nicht ambulant durchgeführt werden. Denn gerade bei Kurz-Liegern dürfte der ambulante Tarif bei nur grundversicherten Patienten für die Kassen teurer werden als eine Kurz-Lieger-DRG. Denn bei Letzteren bezahlen die Kassen höchstens 45 % der leistungsorientierten Pauschalen, im ambulanten Bereich, abgesehen von der Kostenbeteiligung des Patienten, dagegen alles.“ Hinzu kommt, dass bei einem Spitalaufenthalt, welcher länger als drei Tage geht, der Aufenthalt der Kasse auch noch „Geld“ bringt bei der Berechnung des Risikoausgleichs.
Krankenversicherer mit vielen Chronischkranken haben heute kaum ein Interesse, integrierte Versorgungskonzepte zu fördern. Denn würden Krankenversicherer dies tun, könnten solche Angebote Chronischkranke – möglicherweise unterstützt durch Selbsthilfegruppen, Patientenorganisationen und Ärzte – motivieren, zu solchen Versicherern mit guten integrierten Versorgungsangeboten zu wechseln. Damit verschlechtert sich aber die Marktposition des Versicherers, weil er die Prämien wegen der schlechteren Risikostruktur nach oben anpassen muss.
Das Nachsehen haben somit ambulant tätige Ärzte, welche vorab Chronischkranke gut behandeln und zusammen mit anderen Leistungserbringern u.a. auch medikamentös gut einstellen. Sie engagieren sich für integrierte Versorgung, helfen unnötige Spitalaufenthalte zu vermeiden, leben dem Grundsatz „ambulant vor stationär“ nach und riskieren, wegen der Spitalfinanzierungs- und Risikoausgleichsanreize bestraft zu werden. Denn ihre relative Marktposition verschlechtert sich als Folge dieser Anreize. Analoges gilt übrigens für ambulante Krankenhaus-Behandlungen, die in der Schweiz historisch viel verbreiteter sind als in Deutschland, weil es keine solche strikte sektorale Trennung gibt.
Wichtig ist im Rahmen des Risikoausgleichs eine Nachbesserung, welche die Morbidität, also den Gesundheits- bzw. Krankheitszustand der Versicherten berücksichtigt. Deutschland und die Niederlande haben entsprechende Systeme in Europa eingeführt.
In Deutschland ist der sogenannte Morbi-RSA (für morbiditäts-
orientierten Risikostrukturausgleich) auf den 1. Januar 2009 in Kraft getreten. Erste Krankenkassen haben begonnen, sich zusammen mit Ärzten intensiver um Chronischkranke zu kümmern. Die Deutsche Angestellten-Krankenkasse (DAK) beispielsweise hat, zusammen mit ausgewählten Leistungserbringern im Rahmen selektiver Verträge, eine Vielzahl neuer Versorgungskonzepte initiiert. In diesem System hilft auch, dass der Krankenversicherer in Deutschland für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall in einem gewissen Umfang aufzukommen hat.
Fazit
Was die Versorgungsforschung betrifft, kann Deutschland von der Schweiz insbesondere im Bereich der Solidarität zwischen gesetzlich und privat Versicherten lernen. Diese relativ rigide Dualität ist versorgungspolitisch problematisch. Die Schweiz kann von Deutschland insbesondere im Bereich des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs, aber auch von den weniger grossen Verzerrungen zwischen den von den Kassen zu übernehmenden ambulanten bzw. stationären Kosten lernen. Vor allem aber dürfte durch die Integration eines Teils der Lohnfortzahlungskosten beim gesetzlichen Krankenversicherer ein deutlich stärkeres Interesse für Prävention und Investitionen in gute Heilungsverfahren auszumachen sein als im schweizerischen Fall, wo der durch Kassen finanzierte Heilungsfortschritt neben dem Patienten oft bei anderen Dritten wie der Invalidenversicherung oder dem Arbeitgeber anfällt, welche im schweizerischen System in der Regel keinen Rappen an die Finanzierung der Krankenversicherungsprämien bezahlen. <<