Wie in Nordrhein-Westfalen das neue sektorübergreifende Planungsgremium („ein Kaffeekränzchen“) eingeführt wird, was sie von der neuen vierten Säule der ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung („in Gänze überflüssig“) hält und wo sie im GKVVersorgungsstrukturgesetz Nachbesserungsbedarf („wir brauchen bedarfsgerechte Arztsitzverteilungen“) sieht, beschreibt die Gesundheitsministerin von NRW, Barbara Steffens (MdL, Mitglied von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) im Titelinterview von „Monitor Versorgungsforschung“. Ihr geht es vor allem um ein zukunftssicheres Versorgungssystem, das auf tatsächlichen Bedarfen, nicht auf hochgerechneten „ausgewürftelten“ Bedarfszahlen basiert und in dem ein neues sektorübergreifendes Miteinander und gemeinsame Verantwortung Einzug hält.
>> Beim GKV-Versorgungsstrukturgesetz haben sich die Bundesländer – so heißt es jedenfalls - auf die Hinterbeine gestellt, um Schlimmeres zu verhindern. Was haben Sie denn aus ihrer Ländersicht Negatives abgewendet?
Ein Bereich betrifft zum Beispiel die spezialfachärztliche Versorgung. Eines der größten Probleme besteht doch in der Gesundheitsversorgung darin, dass die Sektoren - ambulant, stationär und Pflege – quasi nebeneinander existieren, was hohe Schnittstellenprobleme zwischen diesen Bereichen nach sich zieht. Und nun sollte mit der spezialfachärztlichen Versorgung eine weitere Säule in einem Umfang und einem Volumen etabliert werden, die gewiss nicht zu einer Schnittstellenminimierung, sondern aus meiner Sicht zu einer Schnittstellenpotenzierung geführt hätte.
Aber genau das kommt doch.
Nicht ganz. Die spezialfachärztliche Versorgung wurde eingegrenzt, was die Bereiche und auch das Volumen anbelangt. Ich hätte diesen Punkt in Gänze für überflüssig gehalten. Und wenn die Länder noch mehr Einfluss gefunden oder wohl besser bekommen hätten, wäre dieser § 116 auch in der jetzt eingeschränkten Form nicht gekommen.
Die Länder wurden aber nicht in die Zustimmungspflicht genommen.
Absichtlich. Man hat den ganzen Bereich der Ärzteausbildung, für deren Regelung die Zustimmung des Bundesrats erforderlich gewesen wäre, aus dem Versorgungsstrukturgesetz heraus genommen, obwohl auch hierüber mit den Ländern im Vorfeld geredet worden ist.
War das ein Trick der Bundesregierung?
Na klar. Das ist aber nicht nur ein Trick, sondern ein offenes Bekenntnis der Bundesregierung. Mit dem Zerstückeln von Gesetzen wurde aktiv die Zustimmungspflicht umgangen, was bei dieser Bundesregierung anscheinend völlig normal zu sein scheint.
Wie kann ein Gesetz, das gerade in jedem einzelnen Bundesland seine Wirkung entfalten soll, so an der Zustimmung der Bundesländer – sagen wir es deutlich - vorbeigeschummelt werden?
Hier scheint ein massives Problem zu existieren, dass in Deutschland statt eines Miteinanders in der Verantwortung und eines Miteinanders in der Gestaltung von Versorgung ein recht altes, traditionelles Hierarchiemodell umgesetzt worden ist. So werden wir vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung keine Gesundheitsstruktur schaffen können, die einerseits die Probleme und die Risiken des geringer werdenden Personals und andererseits die veränderten Versorgungsbedarfe der älteren multimorbiden Patienten abdecken kann. Das wird nicht zu schaffen sein, solange wir nicht wirklich bereit sind, die Rahmenbedingungen entsprechend zu verändern. Diese Diskussion hätte ich mir auf Bundesebene gewünscht. Und zwar mit einem Bundesgesundheitsminister, der wirklich an Lösungen orientiert ist, statt sich in recht abstrakten Kompetenzfragen zu ergehen.
Geht es Ihnen hier nur um Mitbestimmung?
Mir ist es völlig egal, ob wir als Länder abstimmen dürfen oder nicht. Zielführender fände ich es, wenn wir unsere Kompetenzen, unsere Erfahrungen und unsere Problembeschreibungen in die politischen Diskussionen miteinbringen könnten. Das ist der Punkt.
Und im G-BA?
Die gleiche müßige Diskussion. Mit wie vielen Stimmen dürfen denn die Länder in welchen Bereichen mitreden? Die Wahrheit ist, dass wir weniger Stimmen als die Patientenvertreter haben. Nicht, dass ich deren Stimmen abspenstig machen will, aber warum haben denn die Bundesländer in diesem Spitzengremium der Selbstverwaltung nur in einem sehr eingegrenzten Bereich mitzureden?
Immerhin im Bereich der Versorgungsstruktur.
Aber wir dürfen nicht bei der Frage der Qualität mitdiskutieren, obwohl gerade die Versorgungsqualität im Rahmen unseres Sicherstellungsauftrages eine große Rolle spielt. Und die Bundesländer müssen gerade vor dem Hintergrund der Demographiefestigkeit des Gesundheitssystems ein massives Interesse an einer qualitativ hochwertigen Versorgung haben, wobei wir gleichzeitig die Qualität der Versorgung mit dem Anspruch der flächendeckenden Versorgung unter einen Hut zu bringen haben. Vor diesem Hintergrund hätte ich es für normal empfunden, dass die Bundesregierung die Expertise der Länder mit an den Tisch holt.
Das scheint eine reine Machtfrage für den Bund zu sein.
Obwohl das nichts mit Macht zu tun hat, sondern eigentlich nur die Ohnmacht der Bundesregierung widerspiegelt. Denn die hat im G-BA auch nichts mitzureden. Und genau deswegen dürfen wir als Länder da anscheinend auch kein Stimmrecht haben. Dabei wollten wir gar keines, sondern nur mitreden, um unser Know-how einzubringen. Dass hat auch mit demokratischer Legitimierung zu tun, die dem Staat im Endeffekt gut anstehen würde; auch weil die auf Bundesebene verabschiedeten Gesetze auf Länderebene exekutiert werden müssen – und zwar auf bestmöglichen Niveau.
Das werden Sie nicht so schnell ändern können. Was befürchten Sie denn?
Wir werden die Ressourcen im Hinblick auf die in Zukunft aufkommenden Bedarfe bei gleichzeitiger Personalreduzierung nicht aufrecht erhalten können, wenn wir weiter in der Fläche eine doppelte Facharztschiene vorhalten. Nun sollte man die doppelte Facharztschiene nicht in allen Gegenden hinterfragen, weil es durchaus welche gibt, in denen sie hervorragend funktioniert. Andererseits gibt es Bereiche, in denen, auch vor dem Hintergrund, dass keine Nachfolger für Praxen zu finden sind, die Struktur einfach wegbricht.
Was fordern Sie?
Wir brauchen als Bundesland die Möglichkeit, besonders in Gegenden, in denen es schon heute zu Engpässen kommt oder in naher Zukunft kommen wird, neue Wege zu finden.
Welche wären das?
Es gibt für mich zwei Wege, die ganz offensichtlich auf dem Tisch liegen. Der eine Weg ist, sektorübergreifend zu planen. Der zweite Weg ist, endlich die exakten Bedarfe zu ermitteln, was besonders für Regionen gilt, die schwer zu versorgen sind. Gleiches gilt natürlich für die Strukturen vor Ort – und zwar nicht nur die ambulanten und stationär-ärztlichen Strukturen, sondern die des gesamten Heilberufebereichs.
Sie verwenden hier den erweiterten Begriff.
Aber sicher. Der gesamte Heilberufebereich ist eine wichtige Ressource. Man muss doch einmal hinterfragen dürfen, wer eigentlich welche Leistungen mit erbringen kann. Nicht im Sinne von Substitution, sondern im Sinne von Delegation.
Das werden vor allem Ärzte nicht gerne hören.
Sie werden es hören müssen. Wir haben innerhalb des Heilberufebereichs ungenutzte Ressourcen, die gerade in der Versorgung von älteren, multimorbiden Patienten in der eigenen Häuslichkeit sinnvoll wären, wenn man denn die nötigen Services und Dienstleistungen delegieren könnte. Auch muss die Frage erlaubt sein, welche Rolle in Zukunft die Apothekerschaft in der Fläche spielen wird oder vielmehr kann. Wenn Apotheker Heilberufler sind, weil Heilberuf draufsteht, dann sollten sie auch diesen Heilberuf ausüben. In diesem Zusammenhang muss man dann zum Beispiel darüber reden, welche Verantwortung sie bei der Medikamentenüberwachung und bei der -versorgung wahrnehmen können – gerade bei älteren Patienten. Oder wie andere Heilberufe, zum Beispiel Hebammen, in bestimmten Regionen mit geringeren Geburtenzahlen – natürlich mit zusätzlichen Qualifikationen - auch andere Services ausüben können. Aber eben nicht im Sinne der Substitution, sondern im Sinne der Delegation.
Das braucht ein gerüttelt Maß an Flexibilität.
Vor allem eine Flexibilisierung der Rahmengesetzgebung. Ein Bundesland muss im Detail die Versorgung in bestimmten Regionen analysieren und dann steuern können. Doch all diese Möglichkeiten hat uns der Bund formal nicht gegeben.
Dafür aber ein sektorübergreifendes Planungsgremium.
Wobei man Planung in Gänsefüßchen stellen kann, weil „Planen“ nicht „Umsetzen“ bedeutet.
Was können Sie denn in diesem Gremium überhaupt machen?
Das ist nichts anderes als die gesetzliche Installierung eines Kaffeekränzchens. Das sage ich bewusst überspitzt und überzogen.
Was machen Sie denn bei sich in Nordrhein-Westfalen?
Wir haben mit allen wichtigen Akteuren bereits gemeinsam diskutiert, wie wir aus diesem sektorübergreifenden Gremium das Bestmögliche machen können, auch wenn es in dem Sinne kein Planungsgremium wird, das Planungsinstrumente mit an die Hand bekommen hat.
Wie wird dieses Gremium in NRW aussehen?
Wir versuchen, ein möglichst kleines Gremium zu schaffen, in dem wir gemeinsam über Bedarfe, über Strukturen und über Veränderungen reden können und indem wir auch eine größtmögliche Verbindlichkeit herstellen wollen. Dazu werden alle Akteure am Tisch sitzen, an dem definitiv vereinbart wird, wie welche Strukturen wo verändert werden und wie Planung aufeinander abgestimmt werden soll.
Wer wird da am Tisch sitzen? Und soll beispielsweise in diesem Gremium die anstehende Krankenhausplanung mit der ambulanten Planung verknüpft werden? Auch im Hinblick auf die neu eingeführte spezialfachärztliche Versorgung, bei der noch absolut offen ist, wie sie honoriert werden soll und aus welchem Budget.
Zum Glück ist die Frage der Abrechnung noch ungeklärt, damit haben wir noch ein bisschen Zeit. Die grundsätzliche Frage, wer am Tisch sitzen wird, ist zurzeit entscheidender: Es wird ein sehr enger Kreis aus Kostenträgern und Verantwortlichen der Leistungserbringer im ambulanten und stationären Bereich sein.
Das heißt: KVen, Krankenhausgesellschaft und Kostenträger.
Die werden definitiv am Tisch sitzen. Dazu werden wir zu bestimmten Themen zusätzliche Akteure an den Tisch holen.
Es wird in NRW anders als in anderen Bundesländern keine breit aufgestellten Gremien geben?
Dafür haben wir in Nordrhein-Westfalen auf Landesebene schon seit etlichen Jahren die Landesgesundheitskonferenz – dort sitzen alle System-Akteure am sprichwörtlichen runden Tisch. Hier diskutiert man eher allgemeine Zielrichtungen - wie man zum Beispiel künftig mit der Hygiene umgeht, was mit dem M-RSA zu machen ist oder wie Multiresistenzen insgesamt entgegen zu treten ist. Über solche Themen kann man sich sehr gut auf einen Konsens verständigen, der dann auf den unterschiedlichen Ebenen umgesetzt wird. Doch kann man mit einer solchen Runde, an der 40 bis 50 Menschen mitmachen, keine ernsthafte Versorgungsplanung machen.
Weil man hier nicht genug Verbindlichkeit schaffen kann?
Wie auch? Darum brauchen wir für die sektorübergreifende Planung ganz bestimmte Akteure, mit denen man klar und offen reden kann.
Wird es einen wissenschaftlichen Beirat geben?
Wir werden sehen, welche Expertisen wir brauchen. Ich will ein klassisches Beispiel nennen, bei dem wir einfach nicht im eigenen Saft schmoren können. Das ist die wichtige Frage: Was sind überhaupt die Versorgungsbedarfe der Zukunft? Wer planen will, braucht zuallererst eine Analyse dieser Bedarfe.
Was Primärzahlen bedeutet, nicht die Hochrechnung bestehender Versorgungsdaten.
Man muss generell das, was heute an Bedarfszahlen existiert und damit alle Bedarfsdeckungszahlen hinterfragen. In vielen Bereichen kann man zudem gar nicht mehr nachvollziehen, wie sie zustande gekommen sind, geschweige denn allen Ernstes behaupten, dass diese sogenannten Bedarfszahlen die Bedarfe von morgen widerspiegeln. Der Bereich der psychotherapeutischen Versorgung ist ein klassischer Fall. Hier hat man das Gefühl, dass die Bedarfe gewürfelt worden sind und dass der Mensch im ländlichen Raum einfach klassischerweise keinen psychotherapeutischen Bedarf hat, anscheinend weil dort die Luft so gut ist. Ein anderer Bereich betrifft das Megathema der sich ändernden Bevölkerungsstruktur. Welche geriatrischen Bedarfe haben wir künftig? Welche neurologischen? Welche radiologischen Bedarfe?
Dafür gibt es eben zurzeit lediglich die Bedarfsdeckungszahlen.
Wenn ich die nehme, gibt es in NRW Regionen mit einer Bedarfsdeckung von 120 Prozent. Und trotzdem liegt die Wartezeit für einen Termin bei bestimmten Fachgruppen bei einem halben Jahr. Da muss doch die Frage erlaubt sein, wie dieser Bedarf berechnet worden ist und wer diesen Bedarf wie festlegt.
Im Zweifel wurden die Bedarfe ja auch von abgerechneten Leistungen hochgerechnet.
Nun wissen wir aber, dass in der Vergangenheit sowohl Bedarfe als auch die verwandten Parameter in allen Bundesländern unterschiedlich waren und dass zum Beispiel in Nordrhein wie auch in Westfalen-Lippe andere Parameter abgerechnet worden sind und dadurch bestimmte Kennziffern in der Häufigkeit nicht aufgetreten sind. Das heißt aber im Umkehrschluss nicht, dass die Bedarfe bei den Menschen nicht da sind, bloß, weil die Ärzte andere Bedarfe abgerechnet haben. Darum brauchen wir vor allem eine Verständigung darüber, welche Bedarfe tatsächlich aufgrund welcher Strukturen und Morbiditäten vorhanden sind. Diese Ergebnisse müssen dann mit denen der Kostenträger und der Leistungserbringer korreliert werden. Nur so werden wir uns auf eine Bedarfsgrundlage verständigen können, die der Realität nahe kommt.
Gibt es die dafür benötigen Zahlen?
Es gibt zu viele Zahlen, die uns nicht verfügbar sind. Andererseits haben wir auch zu viele Zahlen, die nicht miteinander vergleichbar sind. Darum wird zu Beginn die Frage zu beantworten sein, welche Daten wir wirklich brauchen, welche Datenerhebungen wie verändert werden müssen, um Daten besser korrelieren zu können. Und wie wir es schaffen, dass wir auf der einen Seite Datenabgleiche bekommen, ohne auf der anderen Seite die dahinter stehenden Wirtschaftsunternehmen – denn nichts anderes sind Kassen, wenn auch auf eine besondere Art - zu beschädigen. Welche Rolle hier ein Ministerium zu spielen hat, das eine gewisse Neutralität zu wahren hat, steht auf einem ganz anderen Blatt.
Könnte ein derartiges Gremium nicht als Grundlage der Zusammenarbeit einen neuen Datentopf einfordern, der anonym zentral gehostet wird?
Genau an dem Punkt sind wir im Moment. Das ist kein Thema, das man mal eben von einem Tag auf den anderen abarbeitet. Man muss sich erst verständigen, welche Bereitschaft überhaupt vorhanden ist, welche Daten transparent gemacht und offengelegt werden und wie fehlende Daten erhoben werden können. Und obendrein das Ganze bei einem sehr heterogenen Kassensystem, in dem wir auch bundesweite Kassen haben, die natürlich weder in unserer Aufsicht stehen, noch wir in irgendeiner Art und Weise Einflussmöglichkeiten haben. Dennoch werden wir schauen, welche Daten wir auch von denen bekommen können.
Klar dürfte sein, dass Sie wohl andere Daten benötigen, als die, die heute existieren.
Das stimmt. Der Grund ist, dass wir aus der rückwärtsgerichteten Bedarfs- und Ist-Analyse von heute nur mit neuen Daten eine stimmige Bedarfsprojektion machen können. Darum ist Versorgungsforschung ja so wichtig, die wir als einziges Bundesland monetär fördern.
Warum schreibt die Politik ihren Selbstverwaltungssystemen nicht vor, für die entsprechende Transparenz zu sorgen? Warum gibt es kein Transparenzverpflichtungsgesetz?
Das müssen Sie den Bund fragen. Ein Transparenzgesetz der Länder macht nicht so viel Sinn, weil wir länderübergreifende und bundeseinheitliche Kassensysteme und Strukturen haben. Von daher glaube ich, dass ein Transparenzgesetz nur als Bundesgesetz sinnvoll sein wird. Dennoch werden wir versuchen, für Nordrhein-Westfalen weitgehend Transparenz zu bekommen. Dazu müssen wir uns auf eine gemeinsame Grundlage verständigen.
Auf Basis eines Gesetzes?
Nein, dazu brauchen wir in Nordrhein-Westfalen kein Gesetz. Wir werden das im Einvernehmen in unserem sektorübergreifenden Gremium angehen, das hier schon auf einem guten Weg zu sein scheint.
Sie setzen auf Freiwilligkeit und guten Willen?
In Sachen Freiwilligkeit und guten Willen bin ich als Frauenpolitikerin ein gebranntes Kind. Darum setze ich auf etwas anderes: nämlich auf die Erkenntnis, dass in NRW allen Akteuren eigentlich klar ist, dass wir nicht fünf vor, sondern bereits fünf nach zwölf haben.
Warum?
Das ergibt sich alleine schon aus der demografischen Entwicklung. Im Jahr 2050 werden sich die Zahlen der Pflegebedürftigen und der Dementen verdoppelt haben. Andererseits sinkt die Zahl der Einwohner in NRW. Wenn heute in NRW etwa jeder Zehnte im gesamten Bereich der Gesundheits- und Pflegewirtschaft tätig ist, müsste für eine gleiche Struktur im Jahr 2050 bereits jeder vierte Beschäftigte in dem Sektor arbeiten. Wie soll das gehen? Auch, wenn ich mir die Pflegezahlen anschaue, können wir von einer Verdopplung der Patientenzahlen ausgehen. Diese Fakten kennen im Grunde genommen alle Akteure. Darum brauchen wir doch nicht mehr darüber zu streiten, wie groß das Defizit ausfallen wird, wenn schon heute klar ist, das die Anforderungen von morgen mit der Struktur von heute nicht mehr machbar sind.
Die nötige Grundlagenforschung wird doch meist nicht betrieben.
Bis zu einem gewissen Maße brauchen wir keine Grundlagenforschung mehr. Denn hier kann man einiges guten Gewissens hochrechnen. Wir haben beispielsweise für Nordrhein-Westfalen die Zahlen der Pflegebedürftigen betrachtet und analysiert, wie viel Prozent der Pflegebedürftigen schon heute welche Bedarfe im Gesundheitssystem auslösen. Wenn wir nur diese Zahlen extrapolieren – ohne mögliche neue zusätzlichen Bedarfe zu berücksichtigen, wird deutlich, dass das heutige System überfordert ist. Unser Gesundheitssystem kann künftig nur noch funktionieren, wenn wir es tiefgreifend verändern.
Wie sollte das System der Zukunft denn aussehen, um den Anforderungen einer älter werdenden Gesellschaft und vielleicht auch einer Gesellschaft, die noch stärker als heute von Migrationshintergründen geprägt sein wird, nachzukommen?
Wir werden sehen, inwieweit die Gesellschaft künftig stärker von Migration geprägt sein wird. Das ist ein Faktor, den man nur spekulativ in unterschiedlichen Varianten durchrechnen kann. Keiner kann heute wissen, wie viel Migration wir künftig haben, oder wir vielleicht gar über Arbeitsmigration den derzeitigen Fachkräftemangel im Gesundheits – und vor allen Dingen im Pflegesektor kompensieren werden. Dass sich jedoch unser Gesundheitssystem auch vor dem Hintergrund der Migrationstendenzen verändern muss, ist klar. Aber eben nicht, in welcher Form.
Wo werden die Veränderungstendenzen denn deutlicher?
Wo wir schon heute massive Veränderungsbedarfe haben, ist der Bereich der älteren und pflegebedürftigen Menschen. Hier müssen die Pflegeinfra- und Gesundheitsversorgungsstrukturen viel besser miteinander verbunden werden. Es wird nicht mehr leist- und finanzierbar sein, dass wir mit dem Gesundheitssystem einerseits und dem Pflegesystem andererseits zwei vollständig voneinander getrennte Systeme nebeneinander laufen lassen. Und regelmäßig fallen Betroffene in der Schnittstelle dazwischen hinten runter.
Was auch für die Kostenträgerseite gilt.
Sicher. Auch hier sind die beiden Versicherungssysteme alles andere als kommunizierende Röhren. Dadurch findet Prävention im Gesundheitsbereich – generell, aber auch bezogen auf die Pflege - überhaupt nicht statt. Dass die gesundheitliche Versorgung innerhalb der Pflege eher defizitär stattfindet, ist indes nicht weniger dramatisch. Die Pflege hat zur Zeit aus meiner Sicht die größten Handlungsbedarfe und den größten Handlungsdruck. Ich will das an einem Beispiel deutlich machen: Wenn ein älterer Menschen mit einem hohen Pflegebedarf ins Krankenhaus kommt, zahlt die Pflegeversicherung während des Krankenhausaufenthaltes keinen zusätzlichen Pflegebedarf. Einfach, weil die DRG diesen zusätzlich benötigten Bedarf der Pflegestufe 2 oder 3 nicht abbilden. Das heißt nichts anderes, als dass dieser ältere Mensch heute innerhalb des Finanzierungssystems keine Bedarfsabdeckung erfährt. Weil aber damit das Krankenhaus keine zusätzlichen Pflegeressourcen bereitstellt, kommt keine Pflegekraft an dessen Bett, es kümmert sich damit niemand im erforderlichen Maße, was Defizite bei der Ernährung und bei der Alltagsbegleitung nach sich zieht.
Stattdessen wird in vielen Fällen fixiert und sediert, natürlich auch, damit der Mensch nicht verunfallt.
Zielführend ist das nicht. Das Ganze wird aber auch nicht besser, wenn dieser ältere Mensch aus dem Krankenhaus entlassen wird. Die Symptome wurden vielleicht kuriert, doch es fehlt in den meisten Fällen die Überleitungspflege oder die Begleitung von einer Pflegestufe in die nächste.
Das alles mit hohen menschlichen. aber auch ökonomischen Folgen.
Leider. Wir haben das große Problem, dass das Gesundheitssystem durch eine nicht adäquate Versorgung hohe Folgekosten in der Pflegeversicherung verursacht. Das folgt vor allem daraus, da in unserem Gesundheitssystem bestimmte Leistungen, Maßnahmen und Angebote einfach nicht vorhanden sind, weil sie im System einfach gar nicht vorgesehen sind. Darum werden ältere Menschen, die im Sommer dehydrieren, eben stationär eingewiesen. Besser wäre es doch für eine entsprechende Versorgung in deren eigener Häuslichkeit zu sorgen - bevor und wenn Dehydrierung eintritt. Dafür gibt es derzeit nur sehr begrenzte Möglichkeiten, weil das genau an der Schnittstelle zwischen der ambulanten und der stationären Versorgung passieren muss.
Dazu braucht es neue sektorübergreifende Versorgungsmodelle. Was kann denn hier ein Land wie NRW tun?
Wir werden genau überlegen müssen, welche Modelle wir auf die Beine stellen können.
Aber an der generellen Sektorgrenze kommen auch Sie nicht vorbei.
Wir kommen an der Sektorgrenze nicht vorbei, das stimmt. Noch nicht, möchte ich sagen, weil ich glaube, dass diese Sektorgrenze einfach aufgebrochen werden muss.
Gibt es erste Ansatzpunkte?
Diese Modelle scheitern bislang meistens an der Finanzierung, weil in den entsprechenden Versorgungsverträgen zu wenig Patienten eingeschrieben sind, um auf ein positives Ergebnis zu kommen. Das liegt vor allem daran, dass es zu wenig Kassen gibt, die sich aktiv an solchen Modellen beteiligen. Andere Modelle sind unabhängig von Versorgungsverträgen machbar. Ein solches Modell haben wir zum Beispiel in Münster. Dort wurde in einem Krankenhaus ein Modellprojekt zur Vermeidung von perioperativen Delir bei Hüftprothesen und bei anderen OPs in díesem Bereich initiert. Durch dieses Modell wurde die Delir-Rate, die in der Literatur zwischen 41 bis 66 % angegeben ist, auf 5,7 % reduziert. 5,7 %! Das sagt alles, was man zur Folgekostenvermeidung wissen muss. Das rechnet sich nach einer Anlaufphase natürlich auch für das Krankenhaus.
Was können Sie als Land machen?
Nicht viel. Lediglich die Klinik bitten, aus dem Modell ein Implementierungskonzept zu erstellen, das dann allen anderen Krankenhäusern angeboten wird. Ob diese das Konzept dann annehmen oder nicht, keiner weiß es. Aber wenn nicht, werden wir sicher mal nach den Gründen fragen.
Mehr kann eine Ministerin nicht tun?
Viel mehr an Steuerung und Verpflichtung ist an der Stelle derzeit nicht möglich. Wir können eben nur Richtungen vorgeben.
Das hohe Maß an Freiwilligkeit wundert schon.
Wir haben einfach keine Steuerungsinstrumente. Wir können im sektorübergreifenden Gremium nur reden und vorschlagen, statt mit den entsprechenden Instrumenten auch mal sektorübergreifend und mit hoher Verbindlichkeit einzugreifen.
Vielleicht, weil solche regionalen Steuerungsmöglichkeiten nicht so offensichtlich gefordert wurden?
Das stimmt so nicht. Die Bundesländer haben eindeutig gefordert, dass es ein sektorübergreifendes Gremium geben soll, das verbindlich sektorübergreifend planen kann. Das wurde den Ländern noch zu Röslers Zeiten verwehrt. Dass wir jetzt ein Gremium bekommen haben, bei dem wir qua Gesetz Kaffee trinken dürfen, war sozusagen das Maximale, das rauszuholen war.
Der Selbstverwaltung wird ein großer Freiraum eingeräumt, in dem rund 280 Milliarden Euro pro Jahr verteilt werden und man nur hoffen kann, dass die damit finanzierte Versorgung schon irgendwie gut werden wird.
Wer fordert, die Selbstverwaltung aufzulösen, muss im nächsten Atemzug erklären, wer das wie besser machen kann. Darauf habe ich bisher keine plausible Antwort gehört. Es geht aber auch gar nicht darum, ob nun die Länder, der Bund oder sonst wer die Aufgaben der Selbstverwaltung übernehmen sollte. Es geht doch erst einmal nur darum, den tatsächlichen Bedarf zu definieren. Ausgehend von diesem Bedarf ergeben sich Strukturen und daraus die dafür nötige Finanzierung. Wenn man einmal so weit ist, kann man auch die Frage stellen, wer die Budgets wie verteilt. Daher ist es überhaupt nicht wichtig, die Selbstverwaltung in Frage zu stellen. Man muss vielmehr das gesamte Gesundheitssystem hinterfragen dürfen, das nun einmal in der Vergangenheit aufgestellt worden ist und endlich einmal der Vergangenheit angehören muss. Es gibt kein anderes Wirtschaftssystem, dessen Sektoren gegeneinander in wirtschaftlicher Konkurrenz aufgestellt sind.
Es geht bei der ganzen Diskussion auch nicht um Effizienz und Qualität, sondern nur darum, wer wem die Wurst vom Brot zieht.
Darum darf es doch angesichts der uns bevorstehenden Aufgaben nicht länger gehen. Intelligenter wäre es doch, endlich vom Ende her zu denken: Welche Versorgung brauchen und wollen wir in Zukunft? Dann müssen die dafür nötigen Systeme aufstellt und verzahnt werden. Das wäre dann wirkliche Gesundheitspolitik.
Ist dieser Wille wirklich beste Versorgung liefern zu wollen, nicht leider verschwunden aus dem Gesundheitssystem?
Es ist vor allem verloren gegangen, dass es über die Sektorengrenzen hinweg eine gemeinsame Verantwortung gibt. Solange diese Sektoren gegeneinander aufgestellt sind, wird sich das auch nicht ändern, weil jeder an die eigene Gewinnoptimierung denkt. Was aber einem System, das bewusst wettbewerblich aufgestellt worden ist, andererseits auch nicht vorgehalten werden darf.
Ist es denn nicht auch falsch, dass quasi jeder machen kann, was er will? Wenn man nur einmal an die gesamten Verwaltungsaufwände denkt.
Alles gehört auf den Prüfstand, immer wieder, das ist keine Frage. Wichtig ist immer eine angemessene Finanzierung für notwendige Leistungen. Wer hier fair sein will, muss an Stelle der derzeitigen Ökonomisierung des Gesundheitssystems wieder zu einer Daseinsfürsorge kommen.
Zum Beispiel ist es nicht ganz eingängig, warum NRW sich zwei KVen leistet. Auch das muss hinterfragt werden dürfen.
Das ist zurzeit nicht die Frage für mich. Wir haben nun einmal derzeit zwei KVen, die sehr große Bezirke verwalten. Die Aufteilung in Rheinland und Westfalen-Lippe ist nun einmal traditionell und geschichtlich bedingt. Da gibt es andere KVen, die viel kleiner sind, bei denen diese Frage erst einmal gestellt werden sollte. Aber natürlich kann man auch bei uns darüber reden; aber bitte erst dann, wenn man eine bessere Struktur im Kopf hat. Nur ein Beispiel: Wir haben in Nordrhein-Westfalen rund 400 Krankenhäuser, in Hamburg gibt es eine Handvoll, weil nun einmal ein Flächenland mit einer so hohen Einwohnerzahl wie Nordrhein-Westfalen einen ganz anderen Bedarf hat als ein Stadtstaat. Übertragen gesagt: Etwas Zusammenzulegen heißt nicht unbedingt immer gleich Synergieeffekte und mehr Effizienz.
Das Versorgungsstrukturgesetz hat aber auch ein paar positive Aspekte, unter anderem die bessere Möglichkeit, Ärzte aufs Land zu bekommen. Obwohl es in NRW ja nicht so viele strukturschwächere Gebiete gibt.
Theoretisch.
Sicher, auf dem Papier, errechnet nach den Bedarfszahlen.
Nach quasi gewürfelten Bedarfszahlen.
Haben Sie erste Ansatzpunkte, welcher Bedarf auf dem Land besteht?
Natürlich haben wir Zahlen. Denn wir haben schon seit einiger Zeit in Nordrhein-Westfalen ein Hausärzteprogramm, bei dem sehr genau analysiert wird, wo wir schon in einer Unterversorgung sind und wo möglicherweise eine droht. Dann wird versucht, innerhalb des Hausärzteprogramms durch Niederlassungen, Weiterbildungen und Finanzierungen steuernd einzugreifen. Darüber hinaus existiert zwischen Nordrhein-Westfalen und Österreich ein Abkommen, mit dem Ziel, verstärkt österreichische Ärzte hierhin zu bekommen. Die neuen Möglichkeiten, die wir jetzt mit dem Versorgungsstrukturgesetz bekommen, sind aus meiner Sicht nicht genug. Natürlich ist es hilfreich, wenn die Residenzpflicht aufgehoben worden ist. Wir hätten aber gerade für den Bereich der zukünftigen Ärzte, die eher Ärztinnen sind, mehr gebraucht als die Ausdifferenzierung eines Sitzes. Einfach, weil sich Frauen oft nicht gerne voll niederlassen, was mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und von Leben und Beruf zu tun hat. Nun haben wir zwar die Alternative zwischen einem vollen und einem halben Sitz. Doch vielen Frauen ist ein halber Sitz zu wenig, ein voller dagegen zu viel, weswegen wir eigentlich bedarfsgerechte Sitzverteilungen benötigt hätten. Dem ist leider nicht entsprochen worden. Nun werden wir sehen müssen, wie wir das trotzdem hinbekommen.
Wären die in den USA zur Zeit favorisierten und mit hohen Budgets initierten Actionable-Health-Systems (siehe MVF 06/11) ein möglicher Ansatz für eine bessere regionale Versorgung?
Wir werden in Zukunft zu einem System kommen müssen, in dem zwar einerseits Standards und Qualitätsanforderungen übergeordnet für alle geltend festgelegt werden, andererseits jedoch die Regionen viel differenzierter versorgen können.
Auch mit mehr Verantwortung?
Ich würde keine pauschale gleichmachende Finanzierungsverantwortung sehen. Einfach weil es zu unterschiedliche Regionen mit zu unterschiedlichen Strukturen gibt. In NRW gibt es beispielsweise im Ruhrgebiet mit seiner extrem hohen Bevölkerungsdichte und auch seinen Migrationsgeschichten ganz andere Mortalitäts- und Morbiditätsfaktoren wie zum Vergleich in bestimmten Stadtteilen in Düsseldorf. Dafür brauchen wir differenzierte Planungsmöglichkeiten, um nicht weiter quasi mit der Gießkanne drüber gehen zu müssen. Es wird immer eine gewisse Grundsteuerung von Landesebene aus geben müssen, wobei dann jeweils vor Ort andere Strukturen und Verantwortungen notwendig sein werden. Das haben wir auch beim 116er in der Vergangenheit gesehen: Es gibt Regionen, in denen das super gelaufen ist, weil es in der Abstimmung zwischen stationär und ambulant keine Konkurrenz zueinander, sondern sogar eine Ergänzung gegeben hat, was eine wirkliche Verbesserung für die Patientinnen und Patienten bedeutete. Dort ist das Miteinander gelungen. In anderen Regionen gab es dagegen Mord und Totschlag und nichts hat funktioniert. Das lehrt uns doch, dass man noch so viele gesetzliche Rahmenbedingungen haben kann wie man will, wenn die Region nicht mitspielt und die Akteure nicht miteinander reden und gemeinsam für sie passende Lösungen finden, wird es nie besser werden.
In einigen Bundesländern wird der 116er einfach durchgeklagt.
Sicher. Dann wird sich keiner mehr gegenseitig empfehlen und nur noch gegeneinander gearbeitet. Klar, rechtlich ist das möglich, aber für die Menschen ist es eine Katastrophe. Lösungen mit Zukunft werden daher immer Lösungen sein müssen, die vor Ort entwickelt worden sind. Daher werden wir in NRW zwar sektorübergreifend auf Landesebene diskutieren, aber immer versuchen, alle Regionen mit einzubeziehen. Anders macht das keinen Sinn.
Frau Ministerin, vielen Dank für das Gespräch. <<
Das Gespräch führte MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier.