Direkte Patienteninformation: Status quo 2008
In der modernen Vorstellung ist der Patient aktiver Mitgestalter seiner Gesundheit. Politik und Krankenkassen erhoffen sich daher von dem kritischen, mitbestimmenden Patienten eine Einflussnahme auf das bisher von den Leistungserbringern gesteuerte System.
>> Gesundheit ist weltweit – und besonders in den westlichen Industriegesellschaften – ein wachsender Wirtschaftsmarkt. Dabei wird die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen der Gesundheitsbranche in erster Linie durch marktgerechte Innovationen gesichert. Produktinnovationen tragen dabei nicht nur zur Verbesserung der medizinischen Versorgung, sondern auch zur Wertschöpfung und damit zur Existenzsicherung unserer Sozialsysteme bei. Innovation ist antizipierter Wettbewerb. Patientenorientierung und -interaktion werden zu wichtigen Erfolgsfaktoren, die sich durch den gesamten Innovationsprozess – von der Forschung über die klinischen Phasen bis zur Markteinführung – ziehen. Um den Innovationsprozess erfolgreich zu gestalten, genügt es nicht, neue Produktideen zu erarbeiten, die einen medizinischen, pharmakologischen oder technischen Fortschritt begründen könnten. Übergreifende Interaktionen zwischen Wirtschaft und Wissenschaft, Industrie und Medizin, Arzneimittelherstellern und Patienten, Kooperation und Kommunikation und der daraus folgende Aufbau von Netzwerken werden zu Erfolgsfaktoren der zukünftigen Ausrichtung unseres Gesundheitssystems (Harms/Gänshirt/Mayer 2004, Harms/Gäns-hirt/Rumler 2008).
Nach einer bevölkerungsrepräsentativen EMNID-Befragung wünschen sich 83 % der Befragten mehr Wissen über Arzneimittel, 76 % über Krankheiten und 71 % sprechen sich für mehr Informationen über Ärzte und ärztliche Schwerpunkte aus. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt eine Untersuchung, die im Jahre 2005 in Zusammenarbeit mit dem Health Care Competence Center (HC3) publiziert wurde. Innerhalb von 6 Monaten wurden mehr als 5.000 Befragte in ein Befragungspanel eingebracht. Dabei wurde untersucht, welche Fragen die Menschen zum Thema Gesundheit bewegen. Hierbei wurden alle Felder von der Selbstmedikation bis hin zum Kauf von in Deutschland nicht zugelassenen Arzneimitteln beleuchtet. Interessant ist dabei, dass fast 25 % der Befragten die Meinung vertraten, selbst ihr bester Arzt zu sein. 50 % der Teilnehmer sagten, dass sie, bevor sie einen Arzt oder Apotheker aufsuchen, probieren, sich selbst zu therapieren. 80 % gaben an, dass sie sich, wenn es sich nicht gerade um eine schwerwiegende Erkrankung wie Herzinfarkt oder Schlaganfall handelt, in der direkten Verantwortung sehen. Auf die Frage: „Welche Themenfelder aus dem Bereich der Arzneimittelversorgung sind von besonderem Interesse?“, antworteten 56 %: Erkenntnisse der Pharmaforschung, 57 %: Anwendung von gängigen Arzneimitteln, 72 %: Wirkung von Arzneimitteln, 73 %: Nebenwirkungen von Arzneimitteln, 75 %: Gefahren der Arzneimittelkombination und 75 %: Alternative Behandlungsmöglichkeiten (Harms/Gänshirt/Mahl 2007).
Erfahrungen mit Pharma-Informationskampagnen
in Europa
Man weiß, dass bis zu 50 % der Europäer gezielte medizinische Informationen zu ausgesuchten Indikationen durch die pharmazeutische Industrie begrüßen würden. Auf der anderen Seite existieren jedoch auch klare Vorbehalte gegen industriebasierte Informationskampagnen, denn 76 % der Bevölkerung befürchten, dass die Industrie vor allem die Wirkungen ihrer Präparate in den Mittelpunkt stellt und die Nebenwirkungen verheimlicht.
Diese Haltung spiegelt sich auch in der europäischen Gesetzgebung wider. Im März 1992 hatte das „Council of the European Communities“ mit seiner Direktive 92/28/EEC die Werbung für verschreibungspflichtige Arzneimittel (Product-Awareness) eindeutig untersagt. Nur wenn es um indikationsbasierte Informationskonzepte (Disease-Awareness) geht, bei der nicht die Problemlösungskompetenz des Produktes, sondern das Wirkungs- und Nebenwirkungsprofil der Erkrankung im Mittelpunkt der Betrachtung steht, darf die Industrie ausgesuchte Informationen vertreiben (WHO 1985, European Commission 2008).
Vor allem chronisch Kranke äußern ihre Missbilligung, wenn man ihnen Informationen über klinisch relevante diagnostische und therapeutische Innovationen vorenthält. Es zeigt sich, dass mit zunehmender Schwere der Erkrankung sowohl das Bedürfnis nach Patienteninformationen als auch die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der pharmazeutischen Industrie steigt (Goldmann-Posch 2005, Harms/Gänshirt/Rumler 2008).
Auch wenn die nationalen bzw. internationalen Einschränkungen nur limitierte Erfahrungswerte über die Einstellung der europäischen Bevölkerung zu diesen Kampagnen liefern, so zeigen die vorhandenen Daten ganz deutlich, dass eine entsprechende Implementierung dieser Konzepte dann gewünscht wird, wenn folgende fünf Punkte beachtet werden:
1. Die an den Patienten gerichtete Informationsbotschaft muss sowohl die Wirkung als auch die Nebenwirkung eines Arzneimittels ausgewogen darstellen.
2. Entsprechende Risiken sollten dezidiert genannt und auf eventuelle Kontraindikationen patientenadaptiert hingewiesen werden.
3. Unabhängig von der Informationsvermittlung sind die Unternehmen verpflichtet, ihren Ansprechpartnern die Möglichkeit zur weiteren Informationsgenerierung (Website, kostenlose Informationshotline etc.) zur Verfügung zu stellen.
4. Eine Zusammenarbeit mit meinungsbildenden medizinischen Institutionen wird angeraten.
5. Eine Kontrollinstanz sollte die Qualität der Konzepte begutachten und bei eventueller Missachtung der genannten Punkte einschreiten.
Von Bedeutung ist, dass diese fünf Punkte regelmäßig genannt werden und zwar unabhängig davon, ob der Befragte grundsätzlich eine positive oder negative Einstellung gegenüber pharmazeutischen Informationskampagnen äußert (Harms/Gänshirt/Rumler 2008).
Von besonderem Interesse ist dabei, dass offensichtlich mehr Europäer den Arzt auf ein bestimmtes Arzneimittel ansprechen würden, als es derzeit Amerikaner tun. Fast 60 % der Bevölkerung möchten eine entsprechende Botschaft diskutieren. Aber nicht nur in der direkten Arzt-ansprache scheinen europäische Patienten aktiver zu sein. Auch wenn es darum geht, ein bestimmtes Medikament einzufordern, sind sie stärker ‚empowert’. Während in den USA nicht einmal 30 % der Patienten den Arzt auf eine bestimmte Verschreibung ansprechen, suchen in Europa mehr als 40 % der Patienten mit einer entsprechenden Erkrankung mit genauen Vorstellungen das Gespräch mit ihrem Arzt oder Apotheker (CRS 2005, Lonsert/Schäfer/Harms 2005, Harms/Gänshirt 2006).
Direct-from-Patient-Information-Studie (DfPI) 2006
Genauso wie in den USA, so wissen wir auch in Europa wenig über das Informationsbedürfnis von chronisch kranken Menschen. Daher hatte sich das Health Care Competence Center (HC3) in Zürich in Zusammenarbeit mit der European Health Care Foundation (EUHCF) entschlossen, die bisher weltweit größte Direct-from-Patient-Information-Studie (DfPI) zu starten. Innerhalb dieses Studienkonzeptes wurden 3.000 chronisch Kranke gegliedert nach 6 Indikationen (Diabetes Typ I, Diabetes Typ II, Herz-Kreislauf, Magen-Darm, Osteoporose, Rheuma) in eine entsprechende Befragung eingebunden.
Neben einer großen Anzahl an gesundheits- und gesellschaftspolitisch relevanten Fragestellungen stand unter anderem die Einstellung chronisch Kranker im Hinblick auf industriebasierte Informationskampagnen im Mittelpunkt der Betrachtung. Innerhalb dieser unabhängigen wissenschaftlichen Untersuchung ging es darum, wie die Konzepte der Gesundheitsbranche aus der Sicht der Patienten konzipiert sein sollten. Zur Optimierung der Studie wurden im Vorfeld jeweils 150 insulinpflichtige Diabetes-Typ-II-Patienten ausführlich befragt. Bereits diese Ergebnisse ermöglichten grundlegende Einblicke in die Bedürfnisstrukturen dieser Patienten. Von den Befragten sagten 83 %, dass sie regelmäßig über neue Behandlungsformen zum Thema Diabetes informiert werden möchten. Von Interesse ist dabei, dass die Patienten diese Information nicht nur lesen und wegheften, sondern von den Respondenten würden wiederum 80 % ihren Arzt auf diese Informationen ansprechen. Diese Ansprache geht soweit, dass 79 % der Patienten um eine Verschreibung bitten würden, falls sie das Gefühl hätten, dass das entsprechende Medikament eine relevante Option darstellt (Harms/Gänshirt/Mahl 2007).
Diese Ergebnisse wurden durch weitere Indikationen innerhalb der Studie bestätigt. Von den 525 Patienten mit Herz-Kreislauf-Beschwerden sagten 83 %, dass sie ein großes Interesse an Informationen zu den Wirkungen und den Nebenwirkungen der Medikamente hätten, die sie täglich konsumieren sollten. Auf die Frage, wie sich diese Informationen auf den Umgang mit der entsprechenden Erkrankung auswirken würden, gaben 70 % der Befragten an, dass medizinische Information für sie aktive Lebenshilfe bedeutet. Die Patienten erklärten, je mehr Daten sie über ihre Erkrankung hätten, umso besser könnten sie ihr Leiden bewältigen. Auf die Frage: „Würden Sie sagen, dass das, was Sie über Ihre Erkrankung wissen, einen Einfluss auf das Gespräch mit Ihrem Arzt hat?“, antworten 84 % der Patienten: „Je mehr Informationen ich über meine Erkrankung habe, desto stärker profitiere ich von meinem Arzt-Patienten-Gespräch.“ Von besonderem Interesse sind dabei Informationen über innovative Arzneimittel. Wie wichtig diese Daten für die Patienten sind, wird durch folgende Fragestellung eindeutig belegt. Auf die Frage: „Angenommen, Sie erfahren, dass ein neues Medikament zur Behandlung Ihrer Erkrankung existiert, würden Sie Ihren Arzt darauf ansprechen?“, antworteten 95 % mit „Ja“ (Harms/Gänshirt/Mahl 2007).
Cope 1+2: Communication between
Patients and the Health Care Industry
Es ist der europäischen Politik zunehmend bewusst, dass die bestehenden Restriktionen das wachsende Bedürfnis nach Information von Seiten der Patienten über aktuelle und neue Behandlungsmethoden möglicherweise behindern. Bereits Ende 2004 entstanden deshalb Initiativen, die eine Novellierung der bestehenden Gesetzgebung erforderlich machten. Das im Jahr 2003 ins Leben gerufene Pharmazeutische Forum (die jeweiligen Kommissare für Industrie und Gesundheitswesen sind Vorsitzende, Mitglieder sind die 25 Gesundheitsminister der Mitgliedstaaten, 3 Mitglieder des europäischen Parlaments sowie 10 Repräsentanten der Interessengruppen der Industrie) strebt daher an, eine entsprechende Europäische Rahmengesetzgebung noch im Laufe dieser Legislaturperiode auf den Weg zu bringen (European Commission 2008, Harms/Gänshirt/Rumler 2008).
Angesichts der bevorstehenden Veränderungen initiierte die European Health Care Foundation (EUHCF) eine Serie europäischer Studien, um die Einstellungen und Bedürfnisse der Patienten zu Gesundheitsinformationen zu evaluieren. Die Studien bilden eine wissenschaftliche Basis für die Entwicklung und Implementierung neuer Kommunikationskonzepte – zugeschnitten auf die Bedürfnisse chronisch kranker Menschen in Europa.
Die ersten beiden Phasen der Studien – durchgeführt in Deutschland und in der Schweiz – sind abgeschlossen und evaluiert. Die erste Phase, die COPE-1-Studie, ermittelte die Informationsbedürfnisse chronisch kranker Menschen und deren Einstellung zu Informationen verschiedener Interessengruppen wie Ärzten, Apotheker, Versicherungen, Politik und – insbesondere der pharmazeutischen Industrie. Darüber hinaus wurde untersucht, ob Patienten in Deutschland den gleichen Zugang zu Informationen über verschreibungspflichtige Arzneimittel haben möchten wie Ärzte und Apotheker und welche Voraussetzungen Patienten für eine Implementierung der Direct to Patient Information (DfPI) in Europa erfüllt sehen wollen.
In einem zweiten Ansatz, der COPE-2-Studie, wurden die Erfahrungen der Patienten mit Gesundheitsinformationen aus den Medien erhoben. Als Modell diente hierzu der Ringier Verlag – das größte schweizerische Medienunternehmen. Ringier hat vor einigen Jahren eine spezialisierte Gesundheitseinheit gegründet, die eine der ersten themenbezogenen Plattformen darstellte, in der verschiedene Medien direkt aneinander gekoppelt sind. Ringiers Strategie dabei ist, innerhalb eines bestimmten Zeitintervalls gezielt Informationen zu einer chronischen Indikation unter Einsatz verschiedener Medien zu veröffentlichen (Fernsehen, Gesundheitswochen, Internet, medizinische Sonderhefte, Patientenkongresse bis hin zu Gesundheitskreuzfahrten).
Innerhalb dieses Systems wurde getestet, ob die Patienten ein derartiges Informationsnetzwerk annehmen, und ob die Informationen, die sie dort erhalten, zu nachhaltigen Verbesserungen im Gesundheitsverhalten führen können.
Primäres Ziel der beiden Studien war die Evaluierung folgender Parameter:
– die Wünsche und Bedürfnisse chronisch kranker Patienten in Bezug auf Gesundheitsinformationen,
– die Einstellung der Patienten zu Gesundheitsinformationen,
– der Einfluss von Gesundheitsinformationen auf das Gesundheitsverhalten.
Sekundäres Ziel der beiden Studien war die Evaluierung des folgenden Parameters:
– die Erarbeitung einer Basis zur Entwicklung und Implementierung eines Kommunikationskonzeptes für chronisch kranke Patienten.
Es wurden 986 Patienten in Deutschland und der Schweiz befragt, die an Diabetes, Herzkreislauferkrankungen, Krebs sowie chronischen Schmerzen und Rheuma litten. Was die beiden Aspekte Vertrauen und erfahrene Unterstützung betrifft, haben Patienten die stärkste Bindung an ihre Ärzte. Das ihnen entgegengebrachte Vertrauen und die durch sie empfangene Unterstützung sind ausgesprochen hoch. Besonders gut schneiden hier die spezialisierten Fachärzte ab, die eine beinahe 100-prozentige Zustimmung ihrer Patienten erhielten. Die übrigen Dienstleister wurden von den Patienten wesentlich schlechter eingestuft. Lediglich die Hälfte der Teilnehmer sprach den Apothekern ihr Vertrauen aus. Pharmazeutische Unternehmen und die Politik bilden bei den Themen Vertrauen und Unterstützung das Schlusslicht: nur 11 % der Patienten beurteilten die Medikamentenhersteller und 2 % die Politik als vertrauenswürdig.
Was ist es, das das Vertrauen der Patienten zu einem Medikamentenhersteller erzeugt? Offensichtlich ist es nicht die Werbung. Patienten in Europa kennen Werbung für OTC-Präparate. Sie begrüßen es zwar, dadurch neue Medikamente kennen lernen zu können, jedoch führt diese Werbung zweifellos nicht zu größerem Vertrauen zum Hersteller. Vielmehr sind Patienten eher unsicher, was den Benefit beworbener Medikamente betrifft, und sie neigen dazu, diesbezügliche Entscheidungen ihrem Arzt oder Apotheker zu überlassen. Also, was spielt die entscheidende Rolle, wenn es um das Vertrauen zu einem Medikamentenhersteller geht? Die Antwort ist ganz einfach. Es sind die Medikamente selbst (Harms/Gänshirt/Rumler 2008).
Fast 80 % der Patienten gaben an, dass eine gute Erfahrung mit einem Medikament ihr Vertrauen in die Herstellerfirma stärkt. Mehr als 80 % der deutschen und 50 % der schweizerischen Patienten sagten, dass sie zusätzliche Unterstützung zur Bewältigung ihrer Erkrankung benötigen. Patienten beim Selbstmanagement ihrer Erkrankung zu unterstützen, bedeutet, ihnen Informationen zukommen zu lassen, die empathisch sind und auf ihre wirklichen alltäglichen Probleme eingehen. Wir wissen aus unseren vorangegangenen Untersuchungen, dass die Therapie-Compliance der Patienten und auch ihr Lebensstil direkt durch die Informationen, die sie erhalten und verstehen, beeinflusst werden. Diese Erkenntnisse wurden in der vorliegenden Studie bestätigt. In der Schweiz gaben 167 Patienten mit Rheuma bzw. chronischem Schmerz an, dass sie aufgrund von Informationen ihr Gesundheitsverhalten geändert haben. Für 75 % dieser Patienten war dies eine langfristige Umstellung ihrer Gewohnheiten, die sie bis zum Tag der Umfrage beibehalten hatten. Dies zeigt, dass Patienten – zumindest bei Indikationen mit einem hohen Leidensdruck – allein aufgrund von Informationen ihr Gesundheitsverhalten dauerhaft ändern können, wenn sie in der richtigen Weise informiert werden.
Neben dem Arzt ist der chronisch kranke Patient selbst die Person, die den größten Einfluss auf den Behandlungserfolg hat. Ein Teil der Patienten hat dies bereits erkannt und infolgedessen möchten circa 90 % der Patienten einen ebenso großen Einfluss auf therapeutische Entscheidungen haben wie ihr Arzt.
Patientenempowerment ist theoretisch bei den meisten Patienten akzeptiert und gewünscht – obwohl es häufig in der Arzt-Patientenbeziehung noch nicht wirklich praktisch umgesetzt ist. Ärzte sind somit aufgefordert, ihren Patienten auf gleicher Augenhöhe zu begegnen. Sie müssen erkennen, dass eine hierarchische Arzt-Patienten-Beziehung einem Therapieerfolg im Wege steht, da eine derartige Beziehung in keiner Weise das Selbstmanagementverhalten des chronisch kranken Patienten unterstützt. Für 91 % der chronischen Patienten ist es wichtig (31 %) oder sogar sehr wichtig (60 %), genauso viele Informationen z. B. über ihre verschreibungspflichtigen Präparate zu bekommen wie ihr Arzt oder Apotheker. Fast 100 % der Patienten geben an, dass die Informationen, die sie hierzu erhalten, richtig, ausgewogen, verständlich und hilfreich sein sollten; ebenso sollen diese Informationen durch eine unabhängige Organisation kontrolliert werden. Der Standpunkt der Patienten ist daher ein klares Mandat an die Politik, die Kommunikation über verschreibungspflichtige Medikamente zwischen Patienten und Medikamentenherstellern umsichtig zu implementieren (Abb. 2/3).
Patienteninformation: Verbesserung von
Eigenverantwortung und Compliance
Wie Informationsvermittlung über verschreibungspflichtige Arzneimittel auch in Europa implementiert werden könnte, wurde auf dem European Life Science Circle am 12. September 2006 in Brüssel in Zusammenarbeit mit Vertretern des Europäischen Parlaments, der European Federation of Pharmaceutical Industries and Associations (EFPIA), der European Cancer Patient Coalition und der European Health Care Foundation (EUHCF) diskutiert.
Vor allem von Seiten der Vertreter verschiedener europäischer Patientenorganisationen wurde die Forderung formuliert, dass die Patienten ein Recht darauf hätten zu erfahren, was mit den 45 bis 50 Milliarden US-Dollar passiert, die die Industrie jedes Jahr in die Entwicklung neuer Arzneimittel investiert. Es wurde darauf hingewiesen, dass es eine sowohl wissenschaftliche als auch wirtschaftliche Notwendigkeit sei, die chronisch Kranken in die Entwicklung innovativer Arzneimittel einzubinden. Somit könnten deren Erfahrungswerte einen medizinisch wie auch volkswirtschaftlich sinnvollen Beitrag zur Therapieoptimierung leisten (Harms/Gänshirt 2007).
Von Interesse ist dabei, dass ein nicht unerheblicher Teil der Patienten die Meinung vertrat, dass – unabhängig vom hohen Bedarf an relevanten Informationen zu innovativen Aspekten der Arzneimitteltherapie – über eine verbesserte Informationsvermittlung die Eigenverantwortung der Patienten steigt und sich somit die Compliance verbessert, was langfristig die limitierten Ressourcen der europäischen Gesundheitssysteme schont.
Es wurde mehrfach in den sich anschließenden Diskussionen die Ansicht geäußert, dass die Patienten nur dann das tun können, was Ärzte, Apotheker und zunehmend die Gesundheitspolitik von ihnen fordern, wenn sie wissen, was sie tun sollen. Somit könnte die verbesserte Informationsvermittlung zu innovativen Arzneimitteln die Entwicklung des Gesundheitssystems positiv beeinflussen, denn das teuerste Medikament ist jenes Medikament, welches nicht oder nicht richtig genommen wird. Immerhin belaufen sich die geschätzten Folgekosten der Medikamenten-Non-Compliance in den Ländern der EU auf ca. 70 Milliarden Euro pro Jahr (Harms/Gänshirt/Mahl 2007, Harms/Gänshirt/Rumler 2008).
Unabhängig von der positiven oder negativen Einstellung gegen-über pharmazeutischen Informationskampagnen wurde die reine pharmazeutische Werbung (DtC), die nur dem Verkauf von Arzneimitteln dient, kategorisch abgelehnt. Somit wird es in Europa keine amerikanischen Verhältnisse geben. Es wurde gefordert, dass pharmazeutische Informationskonzepte nicht nur der Renditebildung der Industrie dienen dürfen. Vor allem die Vertreter der Politik äußerten, dass sich innovative Arzneimittel nur dann als Standard etablieren, wenn sie nicht nur die Ausgaben erhöhen, sondern helfen, medizinische und gesellschaftspolitische Probleme zu lösen, indem sie nachvollziehbare Vorteile für den Patienten bzw. für das Sozialsystem aufweisen. Nach Aussage verschiedener Experten wäre es möglich, dass sich durch relevante Informationen – bzw. den Verzicht auf banalisierende Werbung – der allgemeine Informationsstand der chronisch Kranken verbessert, sich die Compliance zur Einnahme der Arzneimittel erhöht und dieses zu Einsparungen in allen Bereichen der medizinischen Versorgung führt.
Anders formuliert: Direkte Informationen über verschreibungspflichtige Arzneimittel könnten wahrscheinlich die Transparenz in der Arzneimitteltherapie fördern. Dieses stärkt die Mündigkeit des Patienten, verringert gleichzeitig die Über- oder Unterversorgung, was wiederum die Effizienz unseres Gesundheitssystems auf Basis einer wettbewerblich orientierten Gesundheitsversorgung verbessern würde (Harms/Gänshirt/Mahl 2007, Harms/Gänshirt/Rumler 2008). <<