Prof. Dr. Holger Pfaff, 1. Vorsitzender des Deutschen Netzwerk Versorgungsforschung e.V. (DNVF e.V.) und Prof. Dr. Sebastian Harder, 1. Vorsitzender der Gesellschaft für Arzneimittelanwendungsforschung und Arzneimittelepidemiologie e.V., waren Tagungspräsidenten des 10. Deutschen Kongresses für Versorgungsforschung. Hunderte Vorträge und Postersessions (einen kleinen Einblick finden Sie auf S. 12 bis 15) beschäftigten sich mit den Themen „Arzneimittelanwendung im Fokus der Versorgungsforschung“, „Methodik der Versorgungsforschung“, „Versorgungsforschung in klinischen Disziplinen“ sowie „Versorgungsforschung im Kontext“. Die beiden Professoren gaben „Monitor Versorgungsforschung“ ein gemeinsames Interview, bei dem die aktuelle politische Dimension ebenso wie Abgrenzungsthematiken zwischen Versorgungsstudien und Versorgungsforschungstudien, aber auch die offene Frage der Finanzierung und die der fehlenden Organisationsgewalt angesprochen wurde.
>> Erwarten Sie sich durch das auch auf diesem Kongress viel diskutierte AMNOG und das kommende GKV-Versorgungsstrukturgesetz neue Impulse für Versorgungsforschung als auch eine höhere Akzeptanz der Schlüsselfunktion von Arzneimitteln im Therapieregime?
Harder: Gerade durch das AMNOG werden viele Fragen der Versorgungsforschung als auch der Versorgungsstudien im Bereich der Arzneimittelverwendung eine wichtige Rolle spielen. Die dazu notwendigen Comparative-Effectivness-Studien sind das Kerngebiet der Arzneimittelanwendungsforschung und der Epidemiologie. Es wird darum gehen, aus Datenquellen jeglicher Provenienz wirklich belastbare Aussagen zur Effektivität von Arzneimitteln zu gewinnen – ob nun durch klassische klinische Studien der Phase III, ob durch Kohortenstudien oder sonstige Instrumentarien.
Sie haben eben ein Stichwort genannt, auf das Herr Pfaff anspringen müsste: Bei dem Begriff „Versorgungsstudien” fehlt ihm sicher der wichtige Wortbestandteil „Forschung”.
Pfaff: Wir müssen Versorgungsforschungsstudien in Abgrenzung zu reinen Anwendungsbeobachtungsstudien begreifen, die eben auch Versorgungsstudien genannt werden.
Wo ist der Unterschied?
Pfaff: Es gibt in Zukunft zwei Qualitätsstufen von Studien in der Nutzenbewertung. Die erste Stufe ist die Versorgungsstudie, wie sie im AMNOG bisher vorgesehen ist. Für sie sind keine Qualitätskriterien festgelegt. Die bessere zweite Stufe wäre immer die Versorgungsforschungsstudie, bei der klare Kriterien für hohe Qualität und Evidenz festgelegt sind.
Glauben Sie nicht, dass der Gesetzgeber nur ein wenig nachlässig war, wenn er das Wort „Forschung“ unterschlug?
Pfaff: Das kann durchaus sein. Doch wurde damit ein neues Studien-Produkt kreiert, bei dem unklar ist, ob sich dahinter einfach nur die alte Anwendungsbeobachtungsstudie verbirgt, die den wissenschaftlichen Standards nicht gerecht wird. Eine Versorgungsstudie ist aus unserer Sicht eher eine Anwendungsbeobachtung, richtige Versorgungsforschung braucht aber Versorgungsforschungsstudien. Nur diese werden den Kriterien wissenschaftlicher Forschung gerecht.
Das klingt wie eine rein akademische Sichtweise.
Pfaff: Ist es auch, aber die ist zur Qualitätssicherung wichtig. Alle Studien im Rahmen der Nutzenbewertung müssen auf dem Qualitätsniveau der Versorgungsforschung stattfinden..
Harder: Ich würde dieses Wort „Versorgungsstudie” gar nicht verwenden wollen, weil allein schon die Erwähnung die Versorgungsforschung als solche in die Nähe der Anwendungsbeobachtung bringt. Ich bin darum ebenso strikt dagegen, dass man Anwendungsbeobachtungen Versorgungsstudien nennt, weil letztere durchaus mit einem ambitionierten wissenschaftlichen Ansatz durchgeführt werden. Das muss nun nicht immer ein randomisierter Ansatz sein, weil es auch sehr gute andere Methoden wie Kohortenstudien gibt, die eine Quasi-Randomisierung erreichen.
Bringt uns denn dieser Ansatz überhaupt weiter?
Harder: Nein.
Warum nicht?
Harder: Das reine Zählen von Pillen, wie es mitunter in der Arzneimittelanwendungsforschung und bei Versorgungsstudien gemacht wird, bringt uns wenig weiter. Aber auch Produkt-fokussierte Anwendungsbeobachtungen sind bestenfalls im Rahmen der Pharmakovigilanz tauglich, wenn es um die Erfassung von Arzneimittelrisiken und das Thema Arzneimittelsicherheit geht. All das haben wir doch lange genug gemacht. Wir sollten doch eigentlich erkennen, dass uns nur Therapieregime vergleichende Ansätze in der Frage der Versorgungsqualität weiterbringen.
Im AMNOG geht es aber nur um den Nutzen.
Harder: Aus diesen Versorgungsstudien irgendwelche Angaben zum Nutzen – wenn man mal von denen der Sicherheit absieht - ableiten zu wollen, finde ich auch nicht zulässig. Dazu bräuchte man schon richtige Versorgungsforschungsstudien mit einem vergleichenden Ansatz.
Ist das auch Ihre Meinung, Herr Pfaff?
Pfaff: Ja. Ich teile diese Meinung. Doch wird die Industrie wohl eher Versorgungsstudien machen, weil die einfach schneller und kostengünstiger machbar sind. Das kann man nun der Industrie nicht vorwerfen, sondern wohl eher dem Gesetzgeber, der den Begriff erst eingeführt hat. Darum wollten wir eben unbedingt den Zusatz „Forschung” einbringen, um klar zu machen, dass auch die aus dem AMNOG resultierenden Studien auf dem Qualitätsniveau der Versorgungsforschung stattfinden müssen. In den Memoranden zu den Methoden für Versorgungsforschung haben wir dieses hohe Qualitätsniveau festgelegt.
Ist das ein reines Problem der Pharmaindustrie?
Pfaff: Nicht nur. Im Rahmen des Versorgungsmanagements von Krankenkassen gibt es Abteilungen, die Versorgungsanalysen durchführen. Auch hier sollten die Qualitätskriterien, die für Versorgungsforschungsstudien gelten, eingehalten werden, was in vielen Fällen sicher der Fall ist.
Also nicht nur ein Sawickischer „Sponsor-”, sondern auch Anforderungs-Bias?
Pfaff: Wir müssen immer unterscheiden zwischen einer Qualität die Entscheidungsträgern ausreicht; und einer Qualität, die Gutachter in wissenschaftlichen Zeitschriften zufriedenstellt. Einem Manager auf Kassen- oder Industrieseite mag der Hinweis genügen, dass eine bestimmte Intervention ungefähr etwas bewirkt, weil dies immer noch besser ist als total im Nebel herum zu stochern. Für diese Aussage reicht durchaus eine Studie auf minderem Niveau aus, die jedoch den Namen Versorgungs-forschungsstudie nicht verdient, sondern wohl eher als „Versorgungs-analyse“ bezeichnet werden kann.
Harder: Eine Versorgungsforschungsstudie ist dagegen eine Studie, die in internationalen und nationalen Zeitschriften veröffentlicht werden kann, und die darum die notwendigen Qualitätskriterien erfüllen muss.
Damit kommt man wohl zur Frage, wer diese Versorgungsforschungstudien finanzieren kann und soll, wenn sie denn im Zuge des AMNOG gar nicht nötig sind. Eine Gefahr des AMNOG ist auch, dass die durch dieses Gesetz getriggerten Studien sehr stark medikamentenbezogen sein werden und Fragen des Therapieregimes oder gar das Zusammenwirken verschiedener Therapiemöglichkeiten ganz vernachlässigen werden.
Harder: Ich glaube schon, dass der Gesetzgeber eigentlich primär vergleichende Studien im Sinn hatte, das zu konkretisieren aber leider versäumt hat.
Vielleicht auch, weil sich Versorgungsforschung schwer tut, komplexe Systeme mit dem derzeit vorhandenen Instrumentarium darstellen zu wollen? Denken wir mal an das Gebiet der DMP. Um dieses komplexe Versorgungssystem darstellen und evaluieren zu wollen, bräuchte man sehr sehr umfangreiche Instrumentarien.
Pfaff: Die haben wir in der Versorgungsforschung zur Verfügung. Da liegt nicht das Problem. Man könnte zum Beispiel cluster-randomisierte Studien durchführen. Das setzt aber voraus, dass man schon im Vorfeld die Absicht hat, derartige Evaluationen durchführen zu wollen. Will heißen: Man muss von vorne herein eine ausreichende Menge an komplexen Untersuchungseinheiten in Form von Clustern - wie z. B. Regionen, Arztpraxen, Krankenhäuser - definieren. Dann müssten diese Cluster - bei DMP zum Beispiel Regionen oder Arztpraxen - zudem bereit sein, sich einem Randomisierungsverfahren zu unterwerfen, bei dem beispielsweise 40 per Zufall in ein DM-Programm eingeschlossen werden und ebenso viele Vergleichbare per Zufall nicht.
Das wäre politisch ein wohl recht schwieriges Unterfangen.
Pfaff: Das ist das Problem.
Was fehlt denn?
Harder: Wie so oft fehlt die Organisationsgewalt.
Pfaff: Ein Beispiel: Ein Chef einer Rehaklinik kann sehr leicht ein neu einzuführendes Verfahren mit einem bestehenden vergleichen, wenn er sauber randomisiert. Denn er hat in seinem Haus die Organisationsgewalt, die notwendigen Studienbedingungen zu erzwingen.
Und im Fall der DMP?
Pfaff: Hier spielen viele Sektoren und Professionen zusammen, deren Einflüsse sauber evaluiert werden müssten. Klar könnte die Versorgungsforschung das leisten, wenn man es denn politisch wollte.
Demnach auch übergreifende Ansätze innerhalb des AMNOG.
Pfaff: Sicher. Das AMNOG bezieht sich auf die Arzneimitteltherapie. Diese medikamentöse Gesundheitsleistung wird jedoch in verschiedenen Versorgungskontexten erbracht wie z.B. verschiedenen Arztpraxen. Gesundheitsleistung und Kontextleistung zusammen ergibt die komplexe Versorgungsleistung. Die Evaluation der Gesundheitsleistung ist Aufgabe der therapieorientierten Versorgungsforschung. Die Erforschung der Rolle des Versorgungskontextes ist dagegen Aufgabe der Kontextforschung. Diese wird zur Zeit vernachlässigt. Leider.
Und wird sicher durch das AMNOG noch mehr vernachlässigt.
Pfaff: Ganz klar. Aber auch wenn durch das AMNOG richtige Versorgungsforschungsstudien initiiert werden würden, flösse zwar viel Geld in die Arzneimittelfolgen- und Arzneimittelanwendungsforschung, aber immer noch herzlich wenig in die auch notwendige Kontextforschung.
Harder: Die Arzneimittel-fokussierte Forschung ist zwar auch wichtig, ist aber in ihrem Erkenntnisgewinn recht endlich. Denn gerade die Rand- und Umfeldbedingungen des Arzneimitteleinsatzes sind wahrscheinlich die möglicherweise bestimmenderen Faktoren. Doch bei dieser Frage stehen wir eigentlich noch ganz am Anfang. So ist es beispielsweise ziemlich unbekannt, wie Ärzte wirklich mit komplexen Arzneimittelmanagements umgehen.
Pfaff: Das wird auch sehr schnell sehr komplex. Schon alleine bei einem Arzneimittel: In welcher Anwendungsform soll es verabreicht werden? Wie lange? Soll eine Beratung nebenher laufen? Welche Beratung? Alleine hier gibt es sicher 10 bis vielleicht 20 mögliche Beratungsstile. All das müsste man in einer Studie festlegen. Das Ganze wird noch viel komplexer, wenn der Patient ins Spiel kommt. Der Patient verlangt oft nach partizipativer Entscheidungsfindung und kann sich am Ende der Entscheidungsfindung gegen das Medikament oder die per evidenzbasierten Leitlinien festgelegten Bedingungen entscheiden. Damit wird es immer schwieriger, die Einflüsse eines singulären Medikamentes von denen der Zusatzkonstellationen zu unterscheiden.
Harder: Die hier beschriebene Komplexität steht im direkten Zusammenhang zur Gesamtzahl der verordneten Arzneimittel. Es mag ein bisschen rabulistisch klingen: Aber manchmal wären weniger Arzneimittel besser, denn das würde die Komplexität an dieser Stelle entsprechend verringern.
Wir reden hier nur von Arzneimitteln, nicht von Therapie-Optionen.
Harder: Die Fokussierung auf das Arzneimittelthema hat zugegebenermaßen den Nachteil, dass der Raum für andere Therapieoptionen erst mal verkleinert wird. Genau darum haben wir diese Ansätze bei unserem gemeinsamen Kongress auszubalancieren versucht. Andererseits besteht immer auch die große Gefahr, dass gerade durch die Arzneimittel-Fokussierung das Arzneimittel immer direkt mit Kosten assoziiert wird. Man vergisst dabei schnell, dass andere, nicht-arzneimittelbasierte Therapien auch sehr teuer, wenn nicht gar viel teurer sein können.
Das führt uns zu den für die Versorgungsforschung notwendigen Daten. Haben sie denn alles, was sie brauchen?
Pfaff: Wir haben nicht alle Daten, die wir für eine umfassende Versorgungsforschung benötigen. Vor allem brauchen wir eine Dateninfrastruktur, die es uns ermöglicht, aus dem Stand heraus Versorgungsforschung zu betreiben. Dazu müssten z.B. die vorhandenen Kassendaten gepoolt und mit anderen Datenbeständen verknüpft werden. Eine solche dringend benötigte Dateninfrastruktur haben wir derzeit nicht. Solange sie nicht zur Verfügung steht, ist es notwendig, in der Versorgungsforschung mit isolierten Kassendaten zu arbeiten.
Wobei die Herren Straub und Schlenker von der BarmerGEK auch auf Ihrem Kongress zu Recht betonten, dass die Kassen eigentlich gar kein Budget für Versorgungsforschung haben.
Pfaff: Das ist das Problem. Wir alle - und besonders auch das IQWiG - bräuchten sehr viel mehr Studien aus dem deutschen Sprachraum, um evidenzbasierte Medizin nicht nur auf der Basis amerikanischer oder asiatischer Studien betreiben zu müssen. Doch wo sind diese Studien? Klar werden einige durch das BMBF, die Industrie oder durch Kassen gefördert. Doch am Ende des Tages fehlt uns bei der jetzigen Form der Forschungsförderung die kritische Masse an deutschen Studien, die sichere Schlüsse erlaubt.
Harder: Das liegt auch daran, dass ein großer Teil der Daten gerade im Arzneimittelbereich den Apotheken gehört und über deren Abrechnungszentren dann gegen Geld verkauft werden. Das ist eine Hürde, die ich im Sinne der Forschung als nicht förderlich empfinde.
Wobei das natürlich wiederum indikationslose Daten sind, während die Kassen ihren Daten auch Patienten zuordnen können.
Harder: Wenn der Datenverkehr etwas weniger komplex wäre, wäre das unter Beachtung des Datenschutzes sicherlich sehr hilfreich. Ich war beeindruckt von einem Vortrag einer Vertreterin einer amerikanischen HMO, die im Prinzip in ihrem Data-Warehouse quasi auf Knopfdruck eine Hypothese einspeisen und dann quasi wiederum auf Knopfdruck die Lösung auswerfen lassen kann.
Davon träumen Sie, oder?
Pfaff: Natürlich. Doch die Frage bleibt: Ist das schon Versorgungsforschung oder noch Versorgungsanalyse? Ich würde sagen, das ist eine Versorgungsanalyse auf hohem Niveau.
Harder: Im Prinzip geht das - wenn in beschränktem Maße - schon heute auch in Deutschland. Ich denke hier an große Krankenhauskonzerne. Die haben alle stationären Daten, die des Arzneimittelmanagements und auch des Kontextes. Diese Konzerne wären durchaus in der Lage, Studienvorhaben zu initiieren - sogar randomisierte, wenn man beispielsweise in Form eines Stepped-Wedged-Design eine Intervention in einigen Häusern macht und in anderen vergleichbaren nicht.
Über allem schwebt die offene Frage der Finanzierung von Versorgungsforschung. Wenn Sie nach Amerika schauen, treibt es Ihnen doch die Tränen in die Augen.
Harder: Was haben die zusammengerechnet? 1,8 Milliarden Dollar!
Plus 400 Millionen Dollar!
Pfaff: Damit waren nicht einmal Comparative Effectiveness-Studien gemeint. Für die haben die Amerikaner noch einmal 1,2 Milliarden Dollar zur Verfügung.
Wie kann ein Land wie Amerika, in dem das Health-System nicht unbedingt durchgängig zu den Besten gehört, so viel Geld investieren?
Pfaff: Weil dort der Gesundheitsbereich als Wirtschaftsfaktor angesehen wird. Dort wird eben auch nicht nur Werbung für Waschmittel oder Autos gemacht, sondern ebenso für Public Health, für Krankenhäuser und für Unis. Die Amerikaner haben früher als wir erkannt, was es heißt, wenn Autos und Laptops in Fernost hergestellt werden. Dann bleibt uns nur noch Dienstleistung.
Also hat man in den USA besser erkannt, dass Gesundheit ein Wachstumsmotor im Bereich Dienstleistung ist.
Pfaff: So kann man es sehen. Bei uns wird das Gesundheitswesen in erster Linie als Kostenfaktor gesehen, während in den USA eher die Sichtweise vorherrscht, dass das Gesundheitswesen ein Wirtschaftszweig wie jeder andere ist, der kostet, aber auch Arbeitsplätze bietet.
Und bei uns wird versucht, über noch mehr Deckelung und Budgetierung immer noch mehr zu sparen. Sparen ist sicher nicht verkehrt. Die Frage ist nur, wie diese Deckelungen aufs Gesamtsystem wirken?
Harder: Das hat natürlich Tradition und zwar jene einer 120-jährigen Sozialgesetzgebung. Unser Gesundheitssystem war damit letzten Endes schon immer in eine politische Funktion integriert. In anderen Ländern wie eben den USA wurde dagegen seit jeher mehr darauf gesetzt, dass sich freie Kräfte des Marktes entfalten können. Zudem sind die verschiedenen Marktpartner in unserem System auch nicht souverän genug, mit den ihnen anvertrauten Gütern umzugehen. Dafür sind zum Beispiel Ärzte auch gar nicht ausgebildet: Sie werden dazu ausgebildet Patienten zu behandeln, aber doch nicht im Hintergrund immer betriebswirtschaftliche oder gar gesamtwirtschaftliche Rechnungen mitlaufen zu lassen. Selbst wenn die KV ihnen das zum Teil abnimmt, kann das letzten Ende keine glückliche Lösung sein.
Genau dafür gibt es im kommenden Versorgungsstrukturgesetz faktisch die Ent-Ökonomisierung des Ärztestandes, indem nur noch Wirkstoffe verordnet werden sollen.
Harder: Was eine Option ist, die sicherlich viele Kollegen durchaus begrüßen werden. Andererseits wissen wir auch, dass das im Einzelfall durchaus Probleme bereiten kann.
Warum?
Harder: Bei 8 von 10 Patienten mag eine Substitution problemlos möglich sein. Aber zwei Patienten könnten ebenso gut erhebliche Probleme bekommen, wenn ihnen der Apotheker mal die eine und mal die andere Schachtel aushändigt. Bei jedem Wirkstoff muss man immer auch die Freisetzung oder zumindest die Darreichungsform spezifizieren. Die betroffenen Patienten laufen natürlich in der Praxis immer wieder auf und verursachen dann neben aller Einschränkung von Lebensqualität auch ökonomische Probleme. Wer so etwas propagiert, müsste meines Erachtens erst mal die Nettorechnung aufmachen.
Gibt es denn Studien zur Wirkstoffverordnung?
Harder: Die gibt es eben nicht.
Wieder wurde etwas eingeführt, ohne die Folgen zu kennen.
Harder: Politikfolgenforschung wäre eben gar nicht so schlecht.
Pfaff: Im Prinzip brauchen wir ein Ineinandergreifen der Grundlagenforschung und der Anwendungsforschung. In der Grundlagenforschung müssten generelle Wirkprinzipien herausgearbeitet werden. So müsste in diesem Fall zunächst geklärt werden, wie der Arzt prinzipiell reagiert, wenn er nur noch Wirkstoffe verordnen darf. Ist das Wirkprinzip bekannt, müsste ein darauf basierendes Versorgungskonzept entwickelt werden, das als Prototyp zunächst praktisch erprobt und nach der Erprobung in einer clusterrandomisierten Studie endgültig getestet wird. Hierzu benötigen wir meist die Organisationsgewalt der Bundes- und/oder der Landesregierungen. Erst nach erfolgreichem Bestehen dieses Tests dürfte das getestete Versorgungskonzept in das Gesetz geschrieben werden.
Harder: Es bleibt schwierig. Das ist eine Menge Arbeit und verlangt ein hohes Invest, denn dazu braucht man Studienzentralen und die Bereitschaft von Ärzten daran teilzunehmen, was wiederum irgendeine Form der Vergütung nach sich zieht.
Also hängt es immer am Geld und an der Durchgriffsfähigkeit.
Harder: Und am fehlenden Dirigismus: Ihr müsst jetzt forschen!
Pfaff: Das macht man ja in England.
Harder: Und bei uns wird gefagt, ob jemand vielleicht bitteschön Lust hat, bei der oder jener Studie altruistisch mitzumachen ...
Eigentlich müsste die Politik Honorare an Transparenz knüpfen.
Harder: Dazu sage ich jetzt nichts.
Herr Pfaff, sie sind kein Mediziner.
Pfaff: Ich würde dennoch nicht zu viel gängeln wollen, sondern bin für freiwillige Transparenz. Ich plädiere dafür, die Transparenz über Publikationspflicht herzustellen. Das wäre für mich der Idealfall. Man muss bei dieser ganzen Transparenz-Debatte zwei Dinge unterscheiden. Das eine ist, Transparenz in Bezug auf die Leistung der einzelnen Gesundheitseinrichtung, also beispielsweise Arztpraxis oder Brustzentrum, zu schaffen. Etwas ganz anderes ist es, die Daten jeder einzelnen Einrichtung zu nehmen, um Zusammenhänge herauszufinden, die für alle diese Gesundheitseinrichtungen gelten. Damit würde man auch niemanden an den Pranger stellen und käme auch der Kernaufgabe der Versorgungsforschung näher, eben dem Versuch, Zusammenhänge darzustellen. Mich interessiert als Versorgungsforscher nur sekundär, ob die einzelne Arztpraxis gut oder schlecht ist. Das festzustellen, ist die primäre Aufgabe der Qualitätssicherung. Mich interessiert vielmehr, welche Wirkzusammenhänge gegeben sind und wie man diese nutzen kann, um bessere Versorgungskonzepte entwickeln zu können.
Harder: Transparenz wird leider oft gleichgesetzt mit einem öffentlichen Pranger.
Pfaff: Dafür gäbe es das Instrument der Anonymisierung. Wenn man das richtig macht, braucht keiner Angst haben.
Diese Angst herrscht aber immer noch bei den handelnden Personen vor: Angst vor Transparenz und Angst vor Verantwortung für sein Tun, was evaluiert schnell Regresse nach sich ziehen kann. Wenn man Versorgungsforschung als evidenzbasiertes Benchmarking-Modul interpretieren würde, wäre sie wesentlich besser angesehen und auch einsetzbar.
Pfaff: Versorgungsforschung ist einerseits dazu da, Wissen zu generieren, und andererseits dazu, faire Vergleiche etwa im Sinne von Benchmarking zu ermöglichen.
Harder: Das Risiko besteht jedoch durchaus, dass Daten, die es in einem System gibt, irgendwann auf einen zurückfallen.
Pfaff: Es gibt mögliche Abstufungen. Auch ist es immer die Frage, in welcher Form Ergebnisse dargestellt werden. Es ist doch gut, wenn ein Arzt sieht, wo er beim Einsatz einer bestimmten Therapie steht und erkennt: „Der Kollege ist da besser, das geht wohl nicht, da muss ich mich mehr anstrengen.” Schwieriger wird die nächste Stufe, wenn an die Minderleistung eine Sanktion geknüpft wird. Man sollte die Transparenzproblematik wie im Falle des Subsidiaritätsprinzips handhaben. Die Gesundheitseinrichtungen sollten zunächst freiwillig lernen. Erst wenn nichts passiert oder kein Fortschritt erkennbar ist, sollten zentralistischere Maßnahmen der externen Qualitätssicherung greifen und/oder Maßnahmen wie „pay for performance“ ergriffen werden.
Sollte man Versorgungsforschung überhaupt mehr als Basis eines lernenden Systems begreifen?
Pfaff: So fasse ich das auf.
Herr Pfaff, Sie sind einer der Gründungsväter des Deutschen Kongresses Versorgungsforschung. Hat sich in den zehn Jahren die Inhaltlichkeit geändert?
Pfaff: Dass zum Beispiel die Deutsche Forschungsgemeinschaft ein Fachkollegium „medizinische Versorgungsforschung“ eingerichtet hat, war ein wichtiger Erfolg. Das mag für Leute außerhalb der Wissenschaft trivial klingen, ist aber ein Zeichen, dass sich die Versorgungsforschung wissenschaftlich etabliert hat. Und wenn sogar die FAZ im Bereich Naturwissenschaft - wie zuletzt geschehen - über Neues aus der Versorgungsforschung berichtet, ist das auch ein gutes Zeichen. Davon hätte ich noch vor wenigen Jahren nicht zu träumen gewagt. Aber auch die Inhalte haben sich geändert: Versorgungsforschung widmet sich nicht nur der Anwendungsforschung, sondern zunehmend auch der Grundlagenforschung. Das liegt auch daran, dass Grundlagenergebnisse international gut zu publizieren sind.
Was nicht unbedingt die Versorgungsrealität oder die Bedarfe der Versorgungsforschung vor Ort widerspiegeln wird.
Pfaff: Das stimmt nur bedingt. Die Grundlagenergebnisse werden auf der Basis der deutschen Realität gewonnen. Grundlagenergebnisse sind - wie übrigens bei Arzneimitteln auch - das Fundament, auf dem neue Konzepte und Produkte aufbauen können. Ohne Fundament kein Haus - ohne Grundlagenergebnisse keine bessere Versorgung.
Befriedigt die Grundlagenarbeit nicht Ihre professoralen Bedürfnisse?
Pfaff: Sie müssen das so sehen: Die Publikation der Versorgungsforschungsergebnisse in internationalen Zeitschriften stellt sicher, dass die Ergebnisse nach dem internationalen Stand der Wissenschaft zustande kamen. Eine bessere Qualitätsüberprüfung im Sinne der „Wahrheitsfindung“ kenne ich bisher nicht.
Doch diese Wahrheit muss nicht das sein, was das Versorgungs-system vor Ort an Wissen braucht und fordert.
Pfaff: Doch, auf lange Sicht schon, denn eine rationale Gesundheitspolitik muss auf den „wahren“ Grundprinzipien aufbauen, die in der Grundlagenforschung herausgearbeitet wurden. Das ist in der Arzneimittelforschung nicht anders. Den Spagat zwischen Wissenschaftlichkeit und unwissenschaftlicher Praxistauglichkeit schaffen universitäre Versorgungsforschungseinrichtungen nur mit Mühe. Es kann sein, dass man zur Durchführung von Versorgungsanalysen, die der Vorbereitung von Versorgungsmanagement-Entscheidungen dienen, nicht-universitäre Versorgungsanalyseinrichtungen benötigt, die nicht so sehr auf Impact-Punkte achten müssen. Allerdings können deren Ergebnisse nicht Grundlage für gesundheitspolitische Entscheidungen sein. Daran sind - aufgrund der Tragweite - höchste Qualitätsansprüche zu stellen. Diese können nur universitäre Versorgungsforschungeinrichtungen erbringen, da diese sich internationalen Gutachtern stellen müssen.
Zwei Ebenen aufzubauen wäre sicher wenig zielführend.
Pfaff: Anders wird es aber nicht gehen, wenn man beides will: Wissenschaftlichkeit und Praxistauglichkeit. Wissenschaft ist näher an der Wahrheit, aber dafür teuer und angemessen langsam. Wer es schneller und billiger braucht, muss sich außeruniversitäre Einrichtungen suchen, die sich aber nicht als Versorgungsforschungseinrichtungen bezeichnen dürfen.
Demnach bräuchten wir wie in Amerika eine Art Versorgungsforschungs-Studienzentrum, das von der Politik legitimiert eine bestimmte gesellschaftliche Aufgabe zu verfolgen hat.
Pfaff: Exakt. Und das müsste angesichts der großen Aufgaben richtig Geld ausgeben können. Aber dafür sehe ich derzeit keinen strukturierten Ansatz, der in diese Richtung deuten würde. Die Gelder, die das BMBF und die DFG in diesem Bereich investieren, sind zwar bemerkenswert und enorm nützlich, doch sie würden nicht reichen, die dringend benötigte „Comparative Effectiveness Research“ in Deutschland durchführen zu können.
Und das Vorgehen ist nicht strukturiert genug.
Pfaff: Das BMBF wäre dazu aufgrund seiner Philosophie der Forschungsförderung in der Lage. Die DFG weniger. Die DFG fördert nun einmal „Forscher-initiierte“ Forschung. Das ist auch wichtig, weil man in einem Gebiet nur dann exzellent sein kann, wenn man sich in seinem Gebiet hundertprozentig auskennt – und genau dafür muss man forschen können. Dass aus der Ansammlung von individuellen Geistesblitzen nie ein strukturiertes Vorgehen in Sachen Versorgungsforschung erwachsen kann, ist logisch. Wir brauchen beides: die unstrukturierte, innovative Geistesblitz-Versorgungsforschung und die strukturierte Programm-Versorgungsforschung.
Harder: Aber es gibt auch positive Beispiele, wie das GANIMED-Projekt zur Verbesserung der Versorgung auf der Basis unter anderem von genetischen Markern - Stichwort personalisierte Medizin. Bei diesem Projekt in Mecklenburg-Vorpommern wurden rund 15 Millionen Euro investiert. Damit hat man für unsere Verhältnisse richtig viel Geld in die Hand genommen, um eine ganze Versorgungsstruktur für ein strukturschwaches Gebietes für die nächsten Jahre neu zu prägen und auch natürlich entsprechend zu evaluieren. Angefangen bei der Telemedizin über personalisierte Medizin bis hin zu anderen Ansätzen der gemeindenahen Versorgung.
Endlich mal ein Parade-Modell der Versorgungsforschung.
Harder: Auf alle Fälle. Wir haben dem Projekt auf dem Kongress darum auch Raum gegeben.
Stichwort Kongress: Was waren denn für Sie Ihre Highlights?
Pfaff: Für mich waren die Highlights die Sitzung zum 10-jährigen Bestehen des Deutschen Kongresses für Versorgungsforschung, der international besetzte Workshop zum internationalen Stand der Versorgungsforschung und die Podiumsdiskussion zur Agenda 2020 der Versorgungsforschung.
Harder: Ich möchte hier gar keine einzelne Veranstaltung herausgreifen. Das Highlight war für mich die gelungene Komposition des Programmes, das sehr facettenreich den Spannungsbogen für über 500 Teilnehmer von Anfang bis Ende straff gehalten hat. Das ist natürlich auch für meine Fachgesellschaft, die GAA, ein schöner Erfolg, da wir selber nur ca. 120 Mitglieder haben. Ich habe mich auch sehr darüber gefreut, dass ca. 250 Forschungsbeiträge als Abstracts eingereicht wurden, somit hatte jeder zweite Teilnehmer einen aktiven Beitrag zu dem Kongress geleistet. Ich denke, dass es auch gelungen ist, aus der Vielfalt der Beiträge nicht einfach einen Bauchladen zu machen, sondern thematisch stringent zu bleiben und den roten Faden durchs Programm erkennbar zu gestalten. Die Programmkommission aus GAA und DNVF hat da sehr gut gearbeitet.
Das Gespräch führte MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier. <<