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„Eigentlich sind wir schon lange gestartet“

Frank Gotthardt, CompuGroup, im Interview mit MVF:

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Erstveröffentlichungsdatum: 01.06.2009

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Seit vielen Jahren ist die Compugroup in Deutschland im Bereich der Decision-Support-Systeme für niedergelassenene Ärzte tätig, die sich seit der Gründung im Jahr 1979 aus reinen Praxissoftware-Anwendungen (wie Albis, CompuMed, Turbomed) entwickelt haben. Dass die Holding mit ihren Dutzenden von deutschen, aber auch internationalen Tochtergesellschaften einer der Marktführer in der Informationstechnologie für das Gesundheitswesen vor allem im Bereich der Primärversorgung ist, ist hingegen schon weniger bekannt. Als eines der bedeutendsten Zukunftsprojekte seines Konzerns bezeichnet Compugroup-Gründer und CEO Frank Gotthardt indes die webbasierte Gesundheitsakte Vita-X, die - obwohl noch relativ neu - eines der Kernstücke der künftigen Telematikstruktur in Deutschland werden könnte. Doch bis der Konzern-Claim „Synchronizing the World of Healthcare“ auch in Deutschland Wirklichkeit wird, müssen noch einige Hindernisse aus dem Weg geräumt werden.

>> Ärzte wollen Patientendaten am liebsten gar nicht zentral gespeichert haben, Ärztelobbyisten rufen zum Boykott von Lesegeräten auf, und fordern gar eine totale Abkehr vom bisherigen Telematiksystem, wie es die Gematik seit sieben Jahren mit hohem finanziellem Aufwand plant. Wie sehen Sie die aktuelle Entwicklung?
Ich kann die Diskussion über gesicherte Patientendaten, die von der Ärzteschaft intensiv betrieben wird, sehr gut verstehen. Selbstverständlich werden hier auch öffentlich Auseinandersetzungen über Rollenverständnisse von Leistungserbringern ausgetragen, die man oft nicht ganz nachvollziehen kann. Aber bei ihrer Kritik an der Sicherheitsdimension haben die Ärzte teilweise Recht.

Ist die Frage der Sicherheit nicht eher eine Art Stellvertreterkrieg, wobei es in Wahrheit darum geht, wer sich über die Datenhoheit die besten Voraussetzungen schafft?
Das mag schon sein. Das will ich auch gar nicht beurteilen. Fakt ist, dass hier zwei grundverschiedene Philosophien in Widerstreit treten: jene der arztzentrierten und jene der patientenzentrierten Datenhaltung.

Gibt es denn nur Entweder-Oder? Oder wäre gar eine neue Gemeinsamkeit denkbar, die bisher noch gar nicht diskutiert wird?
Ich glaube, dass langfristig beide Systeme gebraucht werden. Die arztzentrierte Datenhaltung wird vor allem deshalb benötigt, weil der Arzt sicher stellen will und auch muss, dass die von ihm gespeicherten Daten eines Patienten möglichst vielen anderen Leistungserbringern in einer hochqualitativen Art und Weise und zu jeder Zeit und an jedem Ort verfügbar gemacht werden können. Der Patient seinerseits wird zunehmend mündiger und wird alleine deshalb schon eine eigene Datenhaltung wünschen. Diese beiden Datenstämme müssen eigentlich nur geeignet zusammen geführt werden.

Warum wird so etwas nicht diskutiert? Folgt man der Argumentation der Gematik, kann es nur ein Datenhaltungssystem geben.
Bei der aktuellen Diskussion wird oft übersehen, dass Deutschland hinsichtlich der elektronischen Patientenakten bei den Leistungserbringern weltweit einen Spitzenplatz einnimmt. Grundsätzlich gibt es eine hohe Übereinstimmung, dass Patientendaten den verschiedenen Leistungserbringern auch sektorübergreifend zur Verfügung stehen müssen - ob Ärzten, Krankenhäusern, Reha- oder anderen Sozialeinrichtungen. Anders ist das riesige Universum des evidenzbasierten medizinischen oder auch des abstrakten Wissens gar nicht mehr handelbar. Peinlich ist nur, dass Deutschland beim Thema Telematik im weltweiten Vergleich eigentlich super aufgestellt wäre, wenn wir uns nicht über Jahre durch die leidige Frage der Infrastruktur blockieren würden.

Weil die Gematik versucht, ein Pferd von hinten aufzusäumen?
Ich würde sagen, dass man sich im Bereich der medizinischen Telematik seit Jahren zu sehr mit der Lösung von Aufgaben aufhält, die weder von den Anforderungen der Beteiligten noch vom marktwirtschaftlichen Geschehen definiert wurden.

Um mit Altbundeskanzler Kohl zu sprechen, der einmal die Frage nach Datenautobahnen an seinen Verkehrsminister verwiesen hat: Was nützt es, eine sechsspurige Autobahn zu bauen, wenn ich noch gar nicht weiß, ob Pferdefuhrwerke oder Porsches darüber fahren werden?
Die Frage kann auch lauten, ob überhaupt Autos über diese Autobahn fahren werden oder müssen. Natürlich ist es schön, dass der Staat dabei hilft, bestimmte Wege zu ebnen. Aber vielleicht wäre es spannender darüber nachzudenken, was man auf diesem Weg erreichen kann. Es ist doch überhaupt noch nicht definiert, welche Anwendungen der medizinischen Telematik Ärzten wirklich helfen. Oder wovon Patienten, Krankenhäuser, Krankenkassen und weitere Beteiligte am Gesundheitswesen am meisten profitieren. Im Moment drückt man sich in der Politik um die Beantwortung dieser zentralen Fragestellung und legt deshalb das ganze Gewicht auf die Technologiefrage, die doch eigentlich untergeordnet ist.

Und blockiert damit eine sich aus dem Markt heraus ergebende Dynamik?
Wir wären gut beraten, wenn auch im Gesundheitswesen ein Stück mehr Leistung seitens der Unternehmen gefordert würde. Die Politik hat in ihrem redlichen Bemühen, sich um die Infrastruktur zu kümmern, zu sehr aus den Augen verloren, dass der Markt gewillt ist, anstehende Probleme zu lösen. Er kann jedoch nicht warten, bis eine mit tausenden Projektseiten dokumentierte Strecke zurückgelegt ist. Der Effekt ist, dass die Industrie gelähmt, quasi in eine katatonische Starre verfallen ist.

Was ja auch kein Wunder ist. Die Angst ist durchaus berechtigt, dass Investitionen in den Sand gesetzt werden, weil ein Produkt oder eine Anwendung neben irgendeiner Norm liegt. Was wäre zu tun, um diese Starre zu lösen, diesen gordischen Knoten zu durchschlagen?
Das ist ganz einfach. Wir brauchen für alle Bürger endlich und sehr zügig den flächendeckend verfügbaren elektronischen Heilberufsausweis und die elektronische Patientenkarte. Dieses duale System trägt einfache und sehr nutzvolle technologische Basiskomponenten in sich, die man auch außerhalb einer staatsregulierten Systematik verwenden kann. Aber dies bitte ohne die zentral aufgezwungene Patientenakte der Gematik, gegen die sich der Widerstand immer stärker formiert.

Außer-, aber nicht innerhalb?
Auf Basis der beiden Schlüsselprodukte können sich verschiedenste marktwirtschaftliche Systeme der Industrie etablieren, die schnell alle möglichen entsprechenden Anwendungen aufbauen werden. Hierfür werden wiederum Normierungsstellen gebraucht, für die sich die Gematik oder andere DIN-Institutionen verdient machen können.

Und der Status des Themas Sicherheit?
Das ist gelöst, zumindest in unserer Anwendung Vita-X.

Sind Sie sicher?
Absolut. Das Thema Sicherheit hat drei Dimensionen: Zum ersten müssen die gespeicherten Daten schnell verfügbar sein. Der zweite Aspekt ist, dass niemand die Daten stehlen kann. Beide Aspekte sind gleich wichtig und durch das doppelte Schlüsselsystem als auch durch die Art der Datenhaltung gesichert. Denn neben den wesentlichen Daten im lokalen EDV-System des Arztes müssen zusätzlich Vernetzungsdaten in einem anderen System zur Verfügung stehen. Ein System mit extrem hoher Sicherheits- und Ausfallgarantie.

Und die dritte Dimension?
Der höchste Schutz sind beschlagnahmesichere Patientendaten.

Wie soll das gewährleistet sein, wenn die Gematik vorschreibt, Kopien der Schlüssel zentral zu verwahren?
Genau das ist das Problem. Der theoretisch schlimmste Fall ist doch, dass der Staat auf Patientendaten zugreifen kann, eben weil er als höchster Souverän die größte Machtbefugnis hat.

So viel zum Thema Rasterfahndung mit Daten der Telekom …
Die Gematik hat in ihren Konzepten das Thema Schutz vor Beschlagnahmung gar nicht aufgegriffen. Insofern haben die Ärzte mit ihrer generellen Kritik an der Sicherheit von Patientendaten intuitiv vollkommen recht. Dabei könnte die Gematik den Schutz vor Beschlagnahmung durchaus in ihre Konzepte einbauen. Hierzu müsste sie auf die Kopie der Schlüssel, die auf den Karten hinterlegt sind, an zentraler Stelle verzichten. Da diese Pflicht im Moment besteht, käme der Staat jederzeit an die Schlüsselkopie und damit auch an die Reindaten, wenn er wollte.

Und bei Ihrem Datenhaltungssystem?
Bei unserer Patientenakte werden die Schlüssel eben nicht zentral gespeichert. Und da die Schlüssel bei uns nicht hinterlegt sind, können die bei uns gespeicherten Daten auch nicht entschlüsselt werden, selbst wenn wir es wollten. Das heißt: Selbst wenn wir eines Tages vom Staat gezwungen werden sollten, entsprechende Patientendaten herauszugeben, könnten wir diesem Wunsch technologisch bedingt nicht nachkommen. Wir könnten nur Datensalat liefern, mit dem niemand etwas anfangen kann.

Damit ist Versorgungsforschung unmöglich?
Keineswegs. Aber nur auf einer sehr hohen Aggregationsebene, bei der keinerlei Rückschlüsse auf das Individuum möglich sind. Es ist heute schon möglich, dass ein Patient spezielle Daten für Forschungszwecke freigibt, was er aber jederzeit widerrufen kann.

Was passiert, wenn jemand seinen Schlüssel zur Patientenakte verliert?
Nichts. Jeder hat zwar seinen eigenen, persönlichen Schlüssel auf seiner Chipkarte. Doch er kann eine Sicherungskopie geschützt ablegen, indem er Teile dieses Schlüssels an drei verschiedenen Stellen deponiert. Nur mit dem Einverständnis jeder dieser drei Schlüsselträger kann der Schlüssel rekonstruiert werden. Weitere Möglichkeiten sind, die Schlüsselkopie in einen Safe zu legen oder sie einer Person höchsten Vertrauens zu geben.

Wer kann das sein?
Ein Verwandter, ein Notar oder eine andere Truststelle. Ich persönlich würde den Schlüssel dem Arzt meines Vertrauens übergeben. Aber das muss jeder für sich selbst entscheiden.

Sie sprachen davon, dass Deutschland in der Thematik an sich gut aufgestellt wäre. Was meinen Sie damit?
Das liegt vor allen daran, dass bei uns schon über 80 Prozent der Patientendaten digital erfasst werden. Im Prinzip fehlt nur noch die Weiterreichung dieser Daten von Arzt zu Arzt, von Leistungserbringer zu Leistungserbringer.

Wobei diese Daten oft genug falsch codiert werden, wie zu lesen ist.
Das ist eine Diskussion, die im Zuge der Gesundheitsreform geführt wird. Seitdem vor ein paar Jahren die ICD-10-Systematik installiert wurde, hat sich viel verbessert. Mit dem Morbi-RSA wurde auch eine Codierungspflicht eingeführt, wobei man im Prinzip gar nicht falsch codieren kann, wenn statt altmodischem Klartext moderne Ziffernsysteme mit entsprechenden Katalogen verwendet werden. Bei diesem System müsste man schon mutwillig falsch codieren, doch das kann ich mir wirklich nicht vorstellen.

Wie kommt es zu dieser hohen Digitalisierungsquote in Deutschland?
Hier muss ich eine Lanze für das deutsche KV-System brechen, das in ihrem vornehmlich auf das Finanzthema ausgelegtem Clearingverständnis auch eine Art von gerechtem Honorarverteilungssystem geschaffen hat bzw. ständig danach strebt. Doch das setzte nun einmal eine hohe Digitalisierungsquote voraus.

Anders als in den USA?
In den USA ist es genau umgekehrt: Dort werden in der Primärversorgung lediglich rund 20 Prozent der medizinischen Daten digital erfasst. Insofern hätten wir in Deutschland eine ausgezeichnete Ausgangssituation für die medizinische Telematik.

Trotzdem schauen die Deutschen immer mit gläubigen Augen über den Teich.
Amerika ist natürlich im Bereich der Durchdringung der Medizintechnik meilenweit voraus. Auch sind die Hightech-Krankenhäuser wirklich Weltspitze. Aber in der IT-Infrastruktur, im Wissensmanagement oder im Decision-Support-System in der Primärversorgung können wir den USA sicherlich mehr als das Wasser reichen.

Auch in der Art und Weise, wie Themen angegangen werden?
Nein. Die Herangehensweise von Präsident Obama beweist schon eine gesunde Art von Pragmatismus. Er hat zu Recht erkannt, dass in Amerika die IT im Gesundheitswesen weit zurück ist, und gibt nun entsprechend Gas. Aber nicht, indem wie in Deutschland Infrastrukturen für teuer Geld aufgebaut werden, sondern indem der Aufbau der IT mit wirklich ansehnlichen Beträgen subventioniert wird. Aber damit das Ganze nicht in einem nutzlosen Infrastrukturwahn endet, heißt es in dieser Gesetzesvorlage, dass nur solche eHealth-Produkte und -Maßnahmen gefördert werden, die auch sinnvoll sind. Es geht also nicht darum, eine gute Infrastruktur darzustellen, sondern den medizinischen oder systemischen Nutzen zu fördern.

Und was ist sinnvoll?
Was nun sinnvoll ist oder nicht, wird noch in diesem Jahr definiert. Natürlich wird wie in Deutschland das elektronische Rezept dazu gehören, die elektronische Patientenakte und die Datenvernetzung als solche. Darüber hinaus wird es sicherlich noch weitere konkrete Themen geben, wie z.B. die medizinischen Decision-Support-Systeme.
Und das alles wird dann privatwirtschaftlich organisiert?
Das ist Business, wie man es sich wünscht. Die Guten werden sich durchsetzen, die Schlechten auf der Strecke bleiben. Und die Infrastruktur bleibt dort, wo sie hingehört: nämlich im Status eines notwendigen Etwas, das einfach funktionieren muss, aber das nicht ins Zentrum des Geschehens geraten darf.

Ist vor diesem Szenario ihr Einstieg bei Noteworthy zu werten?
Wir wollen in den amerikanischen Markt, zumindest in den der Primärversorgung. Und dazu brauchen wir eine solide Basis.

Wird die Intellectual Property von den USA nach Deutschland transferiert?
Schon eher von Deutschland nach Amerika. Doch wir versuchen so zu handeln, dass es beiden gut tut - uns hier in Deutschland und den USA. Doch um zu adaptieren oder zu übernehmen, muss man erst einmal die Gesetzmäßigkeiten verstehen. In dieser Phase befinden wir uns zur Zeit.

Was bräuchten Sie, um mit vernetzten Systemen endlich zu starten?
Eigentlich sind wir schon lange gestartet. Die wichtigere Frage ist, wann wir endlich durchstarten und unsere existenten Systeme so skalieren können, dass durch die Vernetzung auch wirklich flächendeckend Nutzen gestiftet wird. Dazu müssen wir auch in der Lage sein, mit Leistungserbringern und Kassen kleinräumige oder auch diagnose- und diseasebezogene integrierte Verträge zur Leistungssteigerung und zur Qualitätsverbesserung schließen zu können.

Schon jetzt beginnen mit Microsoft, Google und Adobe globale Player zu agieren. Meinen Sie, dass Ihr Unternehmen in dem sich entwickelnden Markt der Patientendaten reüssieren wird?
Es wird sicher Raum für mehrere Anbieter geben. Aber wir glauben durchaus, dass wir einer der Marktführer werden. Natürlich wird es viele unterschiedliche Dienste geben, die zueinander komplementär oder konkurrierend sind. Also Wettbewerb per se, was aber nicht heißen kann, dass jeder machen darf, was er will. Hier bin ich auf der Linie der Gematik, deren Grundidee der kompatiblen Datenstrukturen durchaus richtig ist.

Wo wollen Sie denn mit Ihrem Unternehmen in fünf Jahren stehen?
In fünf Jahren wollen wir in Amerika, aber auch in Asien eine signifikante Abdeckung erreicht haben. Dazu gehört auch Wachstum. Wenn wir weiterhin so stark wachsen können wie bisher - die Compugroup macht zur Zeit einen Konzernumsatz von rund 300 Millionen Euro - werden es in rund fünf Jahren wohl rund 700 bis 900 Millionen sein. Die Milliarde in greifbarer Nähe hört sich spannend an.

Und von der Bedeutung für den Gesundheitsmarkt?
In Europa sind wir jetzt schon ein Unternehmen, das ganz vorne mitspielt. International möchten wir auch in die erste Liga vorstoßen, was uns bisher durch die Dominanz der großen Krankenhaus-Informationssysteme in den USA noch nicht gelungen ist. Aber unsere gute Position in der Primärversorgung zusammen mit unseren eHealth–Produkten ist der Schlüssel zu unserem Erfolg. Bereits heute sind wir das Softwareunternehmen mit der größten Reichweite bei den Ärzten weltweit. Im stationären Bereich sehen wir ein Weiteres wichtiges Standbein. Hier müssen wir allerdings noch einen Zahn zulegen. <<

Das Gespräch führte MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier